Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Doch jener Sommertag, an welchem sich der Freund über das letzte Stückchen lebendiger Hecke im Vogelsang lehnte, um dann seinem ihm vom Staate gesetzten Vormund oder »Familienfreund«, dem alten Obergerichtssekretär Krumhardt, auch die letzte Ehre zu erweisen, ist ja noch nicht vorüber in diesen Blättern. Die Dämmerung zieht sich in jener Jahreszeit weit in die Nacht hinein, und, wie gesagt, er kam erst in der Dämmerung, der Freund, und ein neuer Morgen leuchtete über dem Osterberge auf, ehe er wieder ging und beim Abschiednehmen lächelte:

»Nun, hab ich die Scheherazade oder den Märchenerzähler im Karawanserai zu Bagdad vergnüglich gespielt? Seht nur –

der Tag im bräunlich roten Mantel
betritt im Osten dort die tauigen Höhn!

Aber, ihr habt es ja so gewollt, Kinderchen; und eines ist sicher: in meinem Leben wißt ihr jetzt fast ebensogut Bescheid wie ich selber. Was meint die gnädige – die junge Frau? Nicht wahr, sie faßt nachher ihr Stück bestes Eigentum fester und etwas ängstlich in die Arme: ›O Gott, Karl, und mit diesem entsetzlichen Menschen bist du aufgewachsen in eurem Vogelsang und hast mir von ihm so gut gesprochen, wenn einmal wieder in den letzten Jahren die Rede auf ihn gekommen ist? Oh, wie dankbar müssen wir dem lieben Gott beide sein, daß er noch früh genug ein Einsehen gehabt und ihn auf alle vier Straßen der Welt verwiesen und ihm nur Gras und Welle, Sonne und Wind gelassen, aber dich Armen zu deinem Besten mir hier anbefohlen hat!‹«

»Sie bleiben doch nun auch, wenigstens für einige Zeit, hier bei uns?« fragte Schlappes Schwester; er aber wendete sich wieder zu mir:

»Die alte Heldin dort, hinter der letzten Hecke des Vogelsangs! Der Brief, in dem ich ihr meinen Besuch von Southampton aus anmeldete, ist erst heute morgen hier angelangt. So fand sie mich gestern abend an unserer Gartentür lehnend, als sie von dir und deines Vaters Sarge nach Hause kam. Ich brauche ein Jahr mindestens, um ihr für den diesmaligen Schrecken, den ich ihr einjagte, Genugtuung zu geben. Du lieber Himmel, sie da in den Armen zu halten und die alten guten Redensarten im alten Ton wieder zu hören! O wie oft habe ich in der Fremde ihr: du dummer Junge! im Ohr gehabt – und nun es sich wieder zwischen Lachen und Weinen sagen lassen zu dürfen! Eine Stunde hatte ich am Zaun zu warten, bis sie mit dem Hausschlüssel kam, den verlaufenen Hund einzulassen. Da habe ich Zeit gehabt, mir die neue Mauerwerksherrlichkeit zu betrachten, in der sie – sie allein das Ihrige – das Unserige festgehalten hatte; – und für wen? für wen? Da stand der Narr, der von der Schmetterlings- und Seifenblasenjagd heimgekommene Narr, und suchte nach rechts und nach links und nach gegenüber die alten Freunde und Bäume – fremde Gaffer und fremde Mauern um sich her. Sie haben es ihr zugebaut, das sonnige, grünende, blühende, lachende Familienerbe; sie aber hat Freund und Freundin, Nachbar und Nachbarin, Busch und Baum gehen und fallen sehen, hat dem Schatten über ihren Aurikelbeeten standgehalten und ihren Sessel vor ihrem Nähtischchen an ihrem Fenster nicht weggerückt. Sie hat alle Tatzen weggeschlagen, und nicht ihret-, sondern meinetwegen. Gnädige Frau, Karl Krumhardt – meinetwegen! ... Meinetwegen hat sie wie weiland die Juden in Jerusalem die Riemen von den Sätteln und das Leder von den Schilden abgenagt und das Heiligtum gehalten unter dem Fabriklärm von Hartlebens Grundstück her und der Tanzmusik aus dem Tivoli und der Zentralhalle. Ob ich als Bettler oder als Millionär wie weiland Mr. Charles Trotzendorff heimkam, ist ihr wohl recht gleichgültig gewesen; über ihrer Häkelnadel, ihrem Strickstrumpf, hinter ihrer lieben Brille hat sie nur die Gewißheit festgehalten: ›Den Schlingel, das arme Kind, kenne ich zu gut, um nicht zu wissen, wie das fest darauf rechnet, sich noch einmal hinter meiner Schürze zu verstecken und sich an meinen Rock zu klammern und Mama! Mama! zu heulen. Wer sollte um den Narren Bescheid wissen, wenn ich nicht? Hätte er mir das Kind, die Helene, heimbringen können, so wäre es freilich etwas anderes gewesen; aber das ist wohl nicht seine schlimmste Fehljagd nach dem Glück gewesen, daß Mistreß Mungo nicht in das letzte Grün des Vogelsangs hineinpaßte.‹ – Jetzt laßt mich gehen, Leutchen; jawohl, gnädige Frau, für einige Zeit bleibe ich im Lande, und nun machen Sie kein zu bedenkliches Gesicht hierzu. Ich lasse Ihnen Ihr wohlerworbenes Eigentum. Sehen Sie, da lächelt Freund Krumhardt – selbst nach seinem traurigen Tagesgeschäft. Es geht doch nichts über eine trauliche Abendunterhaltung, so bis in den nächsten Morgen hinein!«

Ob ich gelächelt habe, kann ich nicht sagen; aber das weiß ich, daß, als er gegangen war und wir nun wieder allein bei der schon in den Tag hineinglimmenden Lampe waren, meine Frau sich wie angstvoll an mich drängte, mir die Arme um den Hals warf und rief:

»Welch ein Mensch, welch ein lieber und unheimlicher Mensch! Also das ist dein Freund? Mit dem bist du aufgewachsen in eurer Vorstadt, während in meiner Eltern Hause niemand von euch wußte? O jetzt begreife ich es, daß der einem Menschen das Leben retten kann, bloß um sich über ihn lustig zu machen, wie er über meinen Bruder Ferdi! Daß er um ein törichtes Mädchen seine Mutter, sein Vaterland, seine Aussichten in der Heimat aufgeben konnte, und – sieh – so recht sagen kann ich es nicht, aber ich fühle es und weiß es sicher, daß, wenn er nachher scherzhafte Briefe an seine Mutter über seine Täuschungen und Enttäuschungen geschrieben hat, die ihm aus dem Herzen, und einem ruhigen, für mich als ein armes Frauenzimmer etwas zu ruhigem Herzen gekommen sind. Mit welchem Lächeln er von dir, mein bester Karl, als von meinem Eigentum sprach! Sieh, wir wissen nicht, wie er jetzt heimgekommen ist, ob mit Geld oder ohne; aber ein Eigentum hat der nicht mehr in der Welt und an der Welt, und was für mich und unseresgleichen sehr trostlos ist: will es auch nicht haben. Was kann denn der von alledem, was uns anderen Freude macht, noch gebrauchen? Und was kann ihm noch Sorge machen und Schmerz und Verlust fürchten lassen nach allem, was er uns erzählt und wie er zu uns gesprochen hat in dieser Nacht? Der hat keines Menschen Hülfe und Trost mehr nötig – auch deinen nicht, Karl. O das ist ein sehr gefährlicher Mensch; jetzt begreife ich wohl, daß hier in unserer kleinen Welt niemand etwas mit ihm hat anfangen können, daß nirgends für ihn ein Ruheplatz gewesen ist. Aber ist es ein Glück, so unverwundbar auf seinem Wege durchs Leben zu werden wie dieser, dein Freund Velten, der an allem, was uns anderen begegnen mag, jetzt nur Anteil nimmt wie wir auf unserem Theaterplatz, einerlei, ob es das Lustigste oder das Traurigste, das Dümmste oder das Klügste, das Häßlichste oder das Schönste ist, was vor ihm aufgeführt wird? Und was noch schlimmer ist, auch in ihm! Ich schwatze wohl törichtes Zeug; aber wie hätte ich in meinen Kreisen je erfahren können, daß es so etwas in der Welt geben kann? Daß Menschen über das Leben und den Tod, über alles, was uns anderen wichtig, süß oder bitter ist, so ruhig werden könnten? Ach, Karl, der ist doch noch ganz anders, als wie du ihn mir geschildert hast. Und, weißt du, noch eines – eure arme Leonie in Berlin, von der du mir erzählt hast, begreife ich wohl; aber die andere – die hier aus dem Vogelsang, ganz und gar nicht. Wenn sie, diese Helene Trotzendorff, nicht doch nur, euch närrischen, dummen Leuten gegenüber zum Trotz, eine ganz gewöhnliche dumme Gans gewesen ist, hat sie eine schwere Verantwortung auf sich genommen. Ich, für mein Teil, ich –«

»Nun, mein Herz?«

»Ich hätte auf diesen greulichen Menschen gewartet und mein Recht an ihn nicht so leicht hingegeben!«

Es war nach dem Begräbnistage meines Vaters. Die Kleine sah nach all den schlimmen, wunderlichen und abenteuerlichen Aufregungen, zwischen der erlöschenden Lampe und dem kommenden Tageslicht, übernächtig, abgespannt, ja, völlig unglücklich drein, aber lächeln mußte ich doch über das mir scheu-trotzig zugerufene Wort. Sie aber sprang auf aus ihrer Sofaecke, blies die Lampe aus und rief:

»Ja, es ist mir ganz einerlei, ob du lachst oder brummig siehst: dein Freund Velten Andres gefällt mir ausnehmend, und ich kann das um so ruhiger sagen, als ich hier gar nicht für mich spreche.«

»Und für wen?«

»Für uns alle. Jawohl! Und da meine ich etwa nicht bloß, wie du mir natürlich abzusehen glaubst, uns arme, in die Konvenienz gebannte Frauenzimmer, denen da mal was Neues aufgeht, sondern euch mit, ja, euch Männer vor allem! Wir nehmen doch höchstens ein etwas tieferes Interesse an solch einem neuen Phänomen an unserem beschränkten Horizont; aber ich glaube, wäre ich ein Mann, und noch dazu einer aus der hiesigen Stadt und Gesellschaft, so müßte ich dann und wann neidisch auf solch einen übrigens im Grunde gräßlichen Menschen werden.«


 << zurück weiter >>