Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Habe ich mir so sehr Pantoffeln und so sehr »was Trockenes« nach dem Rat meiner armen, guten Mutter angezogen, daß man es mit Mißbehagen aus diesen Blättern mir anmerkt?

Ich glaube nicht.

Was erzieht alles an dem Menschen! Und wie werden mit allen anderen Hoffnungen und Befürchtungen Eltern-Sorgen und –Glücksträume zunichte und erweisen sich als überflüssig oder besser als mehr oder weniger angenehmer Zeitvertreib im Erdendasein!

Als ein wohlgeratener Sohn, als ein älterer, verständiger Mann, als wohlgestellter Familienvater, als »angesehener«, höherer Staatsbeamter erzähle ich heute weiter vom Vogelsang und teile zuerst mit, daß wir, wenn nicht die besten Lateiner und Griechen auf unserm illustren Gymnasium, so doch die besten Engländer waren. Der für diesen Unterrichtszweig vom Staate besoldete Oberlehrer und Doktor war, obgleich er ein ganzes halbes Jahr »in London gewesen war«, durchaus nicht schuld daran. Wir hatten das einzig und allein dieser »kleinen amerikanischen Krabbe« zu verdanken, die zuerst uns in den Vogelsang die verblüffende Offenbarung brachte, daß allerhand nichtsnutzige Sprachen nicht nur tot zu unserm Elend in den Grammatiken und in Büchern ständen, sondern wirklich und wahrhaftig lebendig seien und bei allerhand Völkerschaften außerhalb des deutschen Vaterlands tagtäglich im Gebrauch und um uns im Vogelsang zu »imponieren«.

»Imponieren lasse ich mir nicht. Schlage mal auf im Lexikon: nasty«, sagte Velten, lange vor unseren Sekundaner-Mondschein- und –Gewitter-Abenden mit Heine, Geibel und Uhland in der Tasche und im Hirn und Herzen. »Boy heißt Junge, Bengel oder dergleichen, das weiß ich; aber nasty boy hat das Balg zu mir gesagt und die Zunge herausgestreckt. Gib mir das Buch, wenn du es nicht finden kannst.«

Er riß mir das Lexikon aus den Händen, fand das Wort, und – von da an bis zu Shakespeare, Byron und dem übrigen Groß und Klein ist wieder einmal nur ein Schritt gewesen.

Als wir Primaner geworden waren, hatte Miß Ellen Trotzendorff sich zu einem allerliebsten, naseweisen, eigensinnigen deutschen Backfisch herausgewachsen, aber ihr Englisch oder Amerikanisch so ziemlich vergessen: wir aber konnten es. Velten ausgezeichnet, ich mittelmäßig, doch auch vollkommen genügend für ein rühmliches Schulabgangszeugnis in dieser Hinsicht. Mistreß Trotzendorff, die mit ein paar angelernten Phrasen von New York herübergekommen war, blieb bei denselben: übrigens wuchs sie sich, wie der Vogelsang sagte, im Laufe der Jahre allgemach aus einer armen Person, die für ihre Kümmernisse nichts konnte, zu einer kompletten Närrin heraus. Und obgleich sie auch dafür eigentlich nichts konnte, so ließ der Vogelsang hier doch keine Entschuldigung gelten, ausgenommen die Nachbarin Andres, die mitleidig und geduldig bei dem Wort blieb:

»Die arme Agathe!« –

Jawohl, wir hatten alle unsere Not mit der »armen Agathe«; jeder auf seine Weise. In der besten die Frau Doktor Andres, in der schlimmsten des wirklich armen Weibes eigenes Kind. Was für eine Närrin wäre das geworden, wenn nicht der Vogelsang in allen seinen Nuancen, Schattierungen und Abschattierungen um es herum gewesen wäre? Welche Bilder und Gedanken steigen mir da auf, wie ich wieder den Brief in die Hand nehme, den mir Helene Trotzendorff, verehelichte Mungo, aus Berlin geschrieben hat und der mich dazu gebracht hat, diese Blätter mit meinen Lebenserinnerungen zu füllen!

Während wir, Velten und ich, wie letzterer sich ausdrückte, unsern Stiefel fortgingen, wuchs unsere Kleine auf wie eine gebannte, verzauberte Prinzessin aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm. Sie war klug und schön und wurde immer klüger und immer schöner; aber sie hatte in Lumpen zu gehen und im wilden Walde im bloßen Hemde zu irren, auf bloßen Füßen Wasser zu holen für die Küche und die goldenen Haare auf der Heide als Gänsemädchen zu strählen. Und leider war sie in ihrer Verzauberung im Vogelsang nicht so geduldig wie die ins Elend geratene Königstochter der lieben Sage. In den Bäumen am Osterberge saß sie wohl auch dann und wann auf einem bequemen Zweig als Allerleirauh; aber »die Haare sehr nach innen«, wie wiederum Velten sich zierlich und bezeichnend ausdrückte. Wer sie zu Tränen der Reue, Rührung und Ergebung bringen wollte, mußte das fein anfangen, und gelang es eigentlich nur der Nachbarin Andres; Tränen der Wut und Bosheit ihr zu entlocken, war recht leicht, und diesen »Spaß« machte sich Velten Andres, der Sohn seiner Mutter, nur zu häufig. Was Helene Trotzendorff Gutes aus dem Vogelsang in ihres Vaters Königreich später mitgenommen hat, hat sie zum größten Teil doch nur den beiden zu danken gehabt. –

»Nun höre sie einer da drüben«, sagte um diese Lebenszeit mein Vater, in unserer Gartenlaube beim Sonntagsnachmittagskaffee von der Zeitung aufsehend. »Da liegen sie sich wieder bei der Doktorin in den Haaren – einerlei, ob es Spaß oder Ernst ist: die Passanten bleiben stehen, und die Nachbarschaft legt sich in die Fenster und hat ihren Grund dazu! Und die Amalie lacht dazu! Endlich könnte sie doch bedenken, daß sie keine Kinder mehr sind. Junge, Junge, wenn ich dich nur erst glücklich auf der Universität habe! Sieh doch mal über die Hecke, Frau, und frage deine Amalie, was sie nun wieder vorhaben. – Der Lärm ist ja unerträglich.«

Jawohl, der Lärm war unerträglich, vorzüglich für mich, der trotz seiner bessern Erziehung und Beaufsichtigung, oder gerade wegen derselben, so gern mit dabeigewesen wäre; aber –

»Was habt ihr denn, Kinder?« fragte, ihr Strickzeug niederlegend, meine Mutter über den nachbarlichen Zaun, und – da sind sie schon mit hochroten Köpfen, Fräulein Ellen und Velten Andres, und hinter ihnen erscheinen die Mütter, Mistreß Trotzendorff in Tränen – und die Frau Doktern sagt über deren Schultern weg mit ihrem Lächeln:

»Ja, es war die höchste Zeit, daß von hier aus mal wieder eingeschritten wurde. Jetzt reden Sie Vernunft, Nachbar Krumhardt; ich bin mit der meinigen vollständig zu Ende.«

Es war am Tage vorher eine Hundertdollarnote aus Nordamerika im Vogelsang angelangt, und Mrs. A. Trotzendorff hatte, ohne alte Schulden in der Nachbarschaft abzutragen, sofort an diesem Sonntagnachmittag ihre Vernunft walten lassen, das Wort genommen und es behalten trotz Veltens »naseweisen, unverschämten Einredens«, trotz der Frau Amalie abwehrenden Kopfschüttelns und Lächelns, ja, auch trotz ihres Lachens.

Sie hatte ein gar liebes, doch auch vielbedeutendes Lachen an sich durch ihr ganzes Leben, die Frau Doktorin Amalie Andres; aber es wirkte auch am heutigen Tage so wenig auf Deutsch-Amerika wie meines braven Vaters nüchterne, ehrliche Ernsthaftigkeit.

Die neunte Woge ist ja wohl im Auf und Nieder des Meeres die Woge der Götter und des Glücks, und wenn das auf den Wassern mit Hülfe des Winters wirklich der Fall ist, weshalb sollte da nicht auch im Auf und Nieder des Menschenlebens solch eine neunte Woge den mutigen Schwimmer zur Höhe heben? Nach den dann und wann aus den Vereinigten Staaten im Vogelsang einlaufenden Briefen hob sich Mr. Charles Trotzendorff mindestens wieder auf der siebenten, wenn nicht gar achten Welle: »Daß er die armen Seelen, seine Närrin von Frau und das Kind, nicht ganz abgeschüttelt hat und für sie verschollen ist, ist mir freilich ein Wunder; aber ein Schwindler war er, und ein Schwindler bleibt er, und was an seinen Rimessen hängen mag, das möchte ich auch nicht alles auf meinem Gewissen haben«, sagte mein Vater.

Doch –

»O, lieber Krumhardt, bester Nachbar«, ruft jetzt die Frau Nachbarin Agathe; »o, mein Charles! Mein armer herrlicher Charles! Mein Einziger! Ich weiß das ja nur zu gut, wie ihr hier über ihn denkt. Glaubt ihr, ihr hättet es mich diese langen schrecklichen Jahre durch nicht merken lassen? Wenn auch nicht durch Worte, doch auf jede mögliche andere Weise! Und nun schreibt er: wir könnten anfangen, die Fühlhörner wieder aus dem Schneckenhause zu stecken, er tue es auch. Elly, die Schneiderin kommt doch übermorgen gewiß? O Gott, und wenn ich dann mit meinem vollen Herzen zu euch komme, so sitzt ihr da und zieht Gesichter in mein Glück; der eine auf die eine Weise, der andere auf die andere. Ich bin ja ganz gewiß dankbar und weiß, wie sehr ich euch für so manche Güte verpflichtet bin; aber ich weiß auch, daß Charles ganz gewiß seine und meine Schuld bei euch abtragen wird. Dem Himmel sei Dank, daß ich mir und meinem armen Kinde bald nicht mehr jeden armseligen Fetzen auf dem Leibe nachrechnen lassen muß! Und, Amalie, Hartleben will ich ja auch fürs erste noch nicht mein entsetzliches Unterkommen bei ihm kündigen und mich nach einer anständigeren Wohnung in der Stadt umsehen. Fragt doch nur Ellen, ob wir nicht ganz genau wissen, was wir an dem Vogelsang haben, wenigstens bis jetzt gehabt haben. Nur noch eine kurze Zeit abwarten, schreibt er ja, gottlob; also, bitte, habt auch ihr gütigst nur noch eine kleine Weile Geduld mit uns! Ihr sollt uns ja auch drüben später willkommen sein, und das sage ich besonders dir, lieber Velten. Jawohl, dir! Schneide du nur deine Gesichter und zupfe Ellen am Ärmel! Das Kind hat's ja leider Gottes hier in unserm Hunger und Kummer vergessen, in was für eine andere Welt es hineingehört von Vater und Mutter wegen. Bester Krumhardt, in dieser Hinsicht werden Sie ganz auf meiner Seite stehen, wenn ich unserer guten Amalie jetzt ganz offen sage, daß der junge Mann, ihr Sohn, unser guter Velten, nicht von dem besten Einfluß auf – ich will mal sagen, seine Umgebung ist. Mit bloßem Gesichterziehen und spitzigen, lächerlichen Anmerkungen und allem übrigen von der Art kommt man nicht durch die Welt, lieber Velten, und besuchst du uns später wirklich vielleicht einmal auf dem Broadway, so werden dir mein herrlicher Gatte, Ellens Pa – und die große Welt selber dir das noch etwas klarer machen, als ich es könnte und – hier Lust dazu hätte.«


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