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Ach, und er war so gut und hielt sich so still und tat keinem seiner hiesigen Mitmenschen was – fast ein volles Jahr im Vogelsang. Fast ein volles Jahr hindurch gab es in der fast zur Großstadt herangewachsenen Residenz keinen kleinbürgerlicher von seinen Renten lebenden Rentner (wenn auch nicht in Schlafrock und Pantoffeln) als wie Velten Andres. Das Interesse an ihm erlosch bald vollständig: wie Mr. Charles Trotzendorff war er wahrlich nicht heimgekehrt; übrigens wußte auch seine jetzige Nachbarschaft im Vogelsang kaum noch etwas von Josef, das heißt in diesem Falle von dem Doktor Andres und seiner Familie.
Gegen alte Schulfreunde und sonstige Jugendgenossen hatte er im Verkehr eigentlich nur das eine Wort:
»Schauderhaft müde.«
Wenn er dann gähnend vielleicht noch hinzugesetzt hatte: »Ausschlafen!« und der gute Freund mehr und mehr zu dem Bewußtsein gelangte, daß er seinerseits eigentlich nichts mitzuteilen habe, so war es denn freilich für beide Teile das beste, wenn solche Unterhaltung nicht fortgesetzt wurde, sondern der Verkehr überhaupt unterblieb. Helläugig, lebendig, wach und das Spazierstöckchen schwingend ging dann der »Besuch«, in der festen Überzeugung:
»Wieder einmal einer, der zu große Rosinen im Sack hatte und nachher das gewöhnliche Pech im Leben gehabt hat. Schade um den alten, lieben Kerl!«
Ich habe selber einigen solcher guten Leute von dem Fensterstuhl der Frau Doktern mit das Geleit gegeben bis zu dem morschen Türchen in der letzten grünen Hecke des Vogelsangs, ihnen, an dieser Hecke lehnend, nachgesehen und, wenn ich es konnte, meine Gedanken haben dürfen über das Wachen und das Schlafen in dieser Welt. –
Aber auch mir gegenüber verhielt der Freund sich schweigsamer, als es mir eigentlich recht schien. Ich erfuhr über seine Erlebnisse im Grunde jetzt aus seinem Munde nicht mehr, als was er im Laufe der Jahre darüber an seine Mutter geschrieben hatte. Auf einem Spaziergange gelangten wir auf dem Osterberge auch wieder einmal auf die Stelle, von wo wir drei Kinder: er, Helene Trotzendorff und ich, einst um den Laurentiustag die Sternschnuppen fallen sahen und unsere Wünsche für das Leben gehabt hatten.
Ich erinnerte ihn daran, und er legte mir die Hand gelassen auf die Schulter und sagte ohne alle Aufregung, ohne Lächeln, aber auch ohne Stirnrunzeln:
»Mir haben sie so ziemlich Wort gehalten, die fallenden Sterne. Einem bescheidenen Gemüt wird schon das Seinige zuteil, und weiß es sich zu bescheiden, wo es nicht anders geht. Was wünschte ich mir damals doch? Wenn ich nicht irre, den Heckepfennig, den Däumling und das Tellertuch der drei Rolandsknappen. Ich habe das alles gehabt und habe es noch, soweit es mir zum täglichen Gebrauch nötig ist. Auf das Vergnügen, Persepolis in Brand zu stecken, verzichtet man, wenn man sein letztes Schulheft in den Ofen gesteckt hat. Auch ein ›berauschter Triumphtod zu Babylon‹ erscheint mir nicht mehr als das löblichste Exit-homo-sapiens, Ab-geht-der-Narr. Ich wünsche nüchtern zu sterben, oder wenn du lieber willst – vollkommen ernüchtert. So eigentumslos als möglich. Übrigens habe ich ein gutes Gedächtnis, und es war kaum nötig, daß du mich eben auf diesem Platze an jenen Sommerabend erinnertest. Auch von der Tonne des Diogenes war ja wohl damals bei solch einem fallenden Stern die Rede? Nun, in der habe ich mich jetzt, der alten Frau da unten zuliebe, in ihren Ofenwinkel gewälzt oder wälzen dürfen. Man muß sich alles gefallen lassen, lieber Krumhardt. Und auch die Menschen nicht in ihren Illusionen stören. Die alte Frau da unten im Vogelsang zum Beispiel ist noch immer der Meinung, daß ihr Söhnchen die Welt durch seine Tatkraft überwunden habe und weiter überwinden werde. Die scherzhafte Idee, in mir einen Helden meinem Vater und dem Vaterland, der Hebamme und der Menschheit überliefert zu haben, hat sie so manches Jahr durch und vorzüglich jetzt während meiner längeren Abwesenheit so tröstlich und heiter aufrechterhalten, daß es eine Sünde wäre, ihr die Illusion zu nehmen. Hier hört auch für mich das Spiel mit der Welt auf: das wäre ein zu schlechter Spaß, der nun noch als Wolke vor die Abendsonne ziehen zu wollen! Beiläufig, ich habe ihr einen ihr ausreichend imponierenden Haufen Dollars auf den Tisch gelegt; soll ich vor ihr nun auch meine leeren Taschen umwenden und ihr sagen: ›Mama, du hast vergeblich das letzte Grün aus dem Vogelsang für das Geschöpf, das auch sehr, sehr dein Geschöpf ist, für den dummen Jungen, deinen Velten, festgehalten!‹? – Ich habe oft im Leben Komödie spielen müssen, vorzüglich in den letzten Jahren, und wie der Kaiser Augustus hätte ich mich meiner Begabung dafür wohl rühmen dürfen: jetzt und hier am Platze aber, dieser alten Frau gegenüber, fällt es mir schwer, das Wort vom Schlafen, Schlafen, dem Ausschlafenmüssen wie vor den anderen als ein Scherzwort, und um Fliegen – wollte ich sagen Narren abzuwehren, festzuhalten. Nein, nein, die Sonne ist ihr übergenug verbaut worden; das Licht, das ihr in ihrem stilltapfern, lieben, schönen Leben von mir ausgegangen ist, soll ihr nicht ausgehen, soweit das an mir liegt! Sie soll ihre Freude an mir behalten!«
Ich konnte dem Mann, über den also wirklich niemand etwas Genaueres wußte als ich, nur stumm die Hand drücken; eine mündliche Erwiderung gab es hierauf nicht.
Velten lächelte:
»Es war um das Jahr siebenzehnhundertsiebenundsechzig und der größte Egoist der Literaturgeschichte also achtzehn Jahre alt, da er seinem Freunde Behrisch den Rat zusang:
Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde;
und er hat selber sein Leben in Poesie und Prosa danach eingerichtet, und es ist ihm wohl gelungen. Es war im Salon der Mrs. Trotzendorff, als mir beim zufälligen Blättern in allen möglichen Bilderbüchern jenes Wort des frühreifen Lebenshelden in Puder, Kniehose, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen in dem rechten Augenblick wieder vor die Augen kam. Unser Dämonium bedient sich viel öfter, als man merkt, solcher Mittelchen, um uns unter die Arme zu greifen, sowie auch um uns davor zu behüten, uns lächerlicher zu machen, als unbedingt zum Fortbestehen der Welt durch den Verkehr von Hans und Grete notwendig ist. Man kann auch von einem achtzehnjährigen Jungen was lernen, zumal wenn der Genius dem Bengel die Stirn berührt hat. Es war der Gesellschaftsabend, an welchem mir unsere Kleine aus dem Vogelsang zum erstenmal ganz deutlich machte, was alles zu einem elenden Gut auf der wankenden Erde werden kann. Verse habe ich nie gemacht; aber die Fähigkeit habe ich doch, im Komischen wie im Tragischen das momentan Gegenständliche, wenn du willst, das Malerische, das Theatralische jedesmal mit vollem Genuß und in voller Geistesklarheit objektiv aufzufassen: ich habe an jenem, der alte Goethe würde sagen: bedeutenden Abend dem Papa Trotzendorff das Blatt aus seinem Renommiertischexemplar gerissen, es fein zusammengefaltet und in die Brusttasche geschoben. Manchen Leck in meinem Lebensschiff habe ich bis zum heutigen Tage damit zugestopft, und – jetzt, meine ich, haben wir die schöne Natur von diesem Aussichtspunkt aus, auf dem wir voreinst unsere Wünsche an die fallenden Sterne knüpften, genug bei hellem Tage besehen, und wir können gehen.«
Wir gingen – stiegen noch einmal den Zickzackweg am Osterberge hinunter. Jetzt konnte da nicht mehr Elly unter der Armenmannsbuche über eine Wurzel stolpern und sich eine blutende Nase holen. Der Weg war »planiert« worden, und wo der schöne, alte, morsche Baum seine Zweige über ihn gestreckt hatte, stand jetzt eine weiß gestrichene Zinkfigur, eine Nachbildung der Canovaschen Hebe, und daneben deutete an einem andern wohlgepflegten Pfade eine Hand auf einer Tafel nach einem »Asyl für Nervenkranke«, dessen Aufblühen in seinem Waldbesitz am Schluderkopf Vater Hartleben glücklicherweise auch nicht mehr erlebt hatte und also auch nicht deshalb keine Ruhe in seinem Grabe zu haben brauchte. Um die späte Nachmittagsstunde war die Gegend hier von Spaziergängern und Spaziergängerinnen recht belebt. Es begegneten uns mehrere, die uns grüßten oder die ich zu grüßen hatte und die öfters einen Blick über die Schulter nach meinem Begleiter zurückwarfen. Daß uns jemand begegnet wäre, der etwas aus ihm »zu machen gewußt« hätte oder ihn nur annähernd richtig in seine Lebensordnung und seine Erfahrungen über menschliche Zustände und Schicksale hätte einordnen können, habe ich nicht in den Akten.
Am allerwenigsten konnte das mein Schwager »Schlappe«, der uns auch entgegenstieg, seinen Weg sich nach gewissen roten und gelben Zeichen – Kurzeichen – an den Bäumen regelnd, um ein ihm gottlob nur hypochondrisch angeflogenes Herzleiden im Keime zu ersticken.
»Siehe da, die beiden Seelenverwandten! Die zwei Inseparables aus der Voliere da unten, eurem Vogelsang. Habe bei deiner Mama über die stadtbekannte, drollige letzte Hecke gesehen, Velten, und mich über die liebe alte Dame wieder einmal recht gefreut. Diese beneidenswerten Nerven! Unter der Konzertmusik aus dem Tivoli das Fürstliche Intelligenzblatt zu lesen und sich doch dabei freundlich nach der Gesundheit eines Nebenmenschen erkundigen zu können! Und mit solchem Behagen auf dem Gesicht! Wie befindest aber eigentlich du dich, alter Mensch und Rätsel der hiesigen Menschheit? Velten, verantworten kannst du's beinahe nicht, wie du die ortsangehörige Alltagswelt, soweit sie noch zu dir hinreicht, intrigierst. Man sieht dich nicht, man hört dich nicht, du könntest allgemach die Wohlwollendsten dahin bringen, sich bei der Polizeidirektion nach dir zu erkundigen oder sogar das edle Institut auf dich aufmerksam zu machen. Kommen so die Welteroberer nach Hause, oder ist das nur eine neue Weise von dir, der Residenz das Problem zu lösen, wie man Weltüberwinder wird?«
»Die älteste, einfachste und behaglichste Weise, sowohl was die Welteroberung als was die Weltüberwindung angeht, lieber Rat bei der Regierung«, sagte Velten Andres.
»Man trägt ein Wort von dir in der Stadt herum über Ausschlafenmüssen«, sagte der Schwager. »Der Freiherr von Münchhausen beim seligen Landgerichtsrat Immermann hat ein ähnliches. Nicht wahr, du machtest mich neulich darauf aufmerksam, Karl? Unsereiner kommt ja zu dergleichen Lektüre leider zu selten, und ich habe wirklich noch nicht Zeit gefunden, in dem Buche nachzulesen, inwieweit deine Redewendung uns gegenüber eine scherzhafte Reminiszenz daraus ist. Nun, Andres, vielleicht bist du selber gelegentlich so freundlich, mir nähere Auskunft darüber zu geben. Aber ich habe die Herren wohl schon zu lange aufgehalten; – so geht das eben immer, wenn ältere Zeit- und Altersgenossen, Schulbankgenossen, auf solchen altbetretenen Wegen einander begegnen! Schönsten guten Abend, liebe Leute, und meine Grüße an deine Gattin, Krumhardt!«
Im Vogelsang saß auch ich noch ein Stündchen unter der Konzertmusik aus dem Tivoligarten mit dem Freunde und seiner Mutter. Er wußte jedenfalls sein gefühllos gewordenes Herz wohl zu verbergen und auf der wankenden Erde an diesem festen Punkte es wie vordem leichtbewegt in all den Lichtern, Farben und Schatten, die Menschen im wahrsten Sinne miteinander verwandt machen, spielen zu lassen. Wie da der Schatten der hohen Brandmauer, der jetzt von meiner Eltern und meinem Heimwesen auf uns fiel, wieder sich lichtete! Wie es wieder wie Abendsonne aus unserer, Veltens und meiner, Kinderzeit und aus der Zeit, da Amalie, Agathe und Adolfine auch noch Kinder, junge Mädchen, Bräute und junge Frauen waren, durch Baumgezweig nur tanzende Schatten auf die kleine Laube warf und den Tisch darin, auf welchem Veltens Vater noch seine Rezepte für die ganze Nachbarschaft unter dem Osterberg schrieb! Da war freilich auch wieder nicht die Rede von großen Abenteuern; aber noch weniger von einem Blatt, das in der Fünften Avenue zu New York aus einem Salontischbuch gerissen worden war. Da gewann eine liebe Vergangenheit ihr Recht wieder und behielt es für eine gute Stunde von neuem mit seinem: Weißt du wohl noch, Mutter? und ihrem: Denkt ihr wohl noch daran, ihr bösen Jungen? – Der Nachbar Hartleben kommt in Hausschuhen mit der letzten Anklage gegen den Schlingel, den Velten, über die Gasse, um sich von der Frau Doktern das Versprechen abnehmen zu lassen, seiner »Madam« Trotzendorff die Miete zu stunden und ihr eine neue Tapete in die Wohnung zu kleben. – »Und nun das Wurm da«, brummt der Nachbar, »ja, Frau Nachbarin, da drückt es sich an Sie an und macht fromme Augen, als ob es noch niemalen ein Wässerlein getrübt und heute meinen Pudel frisiert hätte. Ich hätte Ihnen das Vieh mitgebracht, aber es schämt sich seiner Verunstaltung, daß es kein Prügel und keine Bratwurst unterm Sofa hervorkriegen. Mit ihrer Mutter Putzschere ist die Krabbe daran gewesen und hat das Beest verschnitten, daß kein Mensche es mehr herauskriegt, wo es in der Naturgeschichte hingehört. Jawohl, Frau Doktern, Gottes Lohn reicht hier nicht aus, da müssen Sie schon das Ihrige dazugetan haben, auf daß ich mir solche angenehme Inquilinenschaft von einem Jahre ins andere gefallen lasse und sogar noch dankbar bin.« –
Wir sind Kinder – junges Volk – und das schönste Mädchen des Vogelsangs lehnt sich als Jungfrau über Veltens Mutter: »Bei dir bleibe ich auch in der weitesten Ferne und, bitte, bitte, nimm es Mama nicht übel, was sie dir heute wieder gesagt hat, nach dem Briefe von Papa. Sie kann ja nichts dafür, daß wir nirgends recht hinpassen. Ich auch nicht, liebste, beste Tante Andres! Und ich durch deine Güte und Liebe und Barmherzigkeit noch weniger als Mama!« ...
Ja, weißt du noch, Velten? Erinnerst du dich wohl noch daran, Krumhardt? – – »Wie steht es denn mit euren Schularbeiten für morgen, Jungen, wenn ich fragen darf?« Es ist mein eigener braver, sorglicher Vater, mein seliger Vater, der in Schlafrock und Hauskäppchen mit der langen Pfeife an die Hecke gekommen ist, wo jetzt die hohe Brandmauer des Nachbarhauses sich erhebt. Und meine Mutter mit dem Strickzeug in der Hand und dem Garnknäul unterm Arm kommt auch aus unserer Laube heran. Es ist mehr und mehr wie eine Wiederbringung im Fleisch für den Vogelsang: in Fleisch und Blut, mit jedem Gestus und Tonfall sind sie wieder da bei der Frau Doktorin Andres, alle sind sie wieder heraufgestiegen und – am lebendigsten für den Mann neben der heiter-schönen Greisin, der auf seiner Brust das Blatt trägt mit dem ersten Vers der dritten Ode an Behrisch:
Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde,
und im grimmigsten Ernst sein Leben nunmehr darauf eingerichtet zu haben glaubt.
Wenn ich dann nach Hause komme, finde ich vielleicht meinen Schwager bei meiner Frau sitzen, und er fragt mich:
»Nun sage mir, hast du noch immer nicht genug von diesem maulfaulen, bodenlos langweiligen, gänzlich verödeten Patron, diesem Mister, Senhor oder Monsieur Andres, deinem Freund Velten? Sieh mich nur, bitte, nicht in der veralteten, vorwurfsvollen Weise an, lieber Krumhardt; auch das intensivste Dankbarkeitsgefühl muß sich allmählich einem solchen unnahbaren, unfaßbaren, ewig gähnenden und ewig grinsenden Burschen gegenüber abstumpfen. Weiß der Himmel, wir sind ihm seinerzeit mit den möglichsten Avancen nahe gegangen; aber wie er uns jetzt heimgekommen ist, möchte ich doch manchmal wünschen, es habe mich damals ein anderer aus der kühlen Pfütze heraufgeholt und ich dürfe ihm, ohne im nächsten Abendblatt auf die Eselswiese getrieben zu werden, sagen: ›Mensch, laufen Sie mir noch einmal in den Weg, so mache ich den Verein für öffentliche Gesundheitspflege auf Sie aufmerksam und denunziere Sie als endemisch gefahrbringend!‹«
Er war nicht ohne Witz, mein armer seliger Schwager Schlappe. Durch ein Herzleiden ist er uns nicht entrissen worden vor einem Jahre.