Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Es ist kein größeres Wunder, als wenn der Mensch sich über sich selbst verwundert.

Wie habe ich dieses Manuskript begonnen, in der festen Meinung, von einer Erinnerung zur andern, wie aus dem Terminkalender heraus, nüchtern, wahr und ehrlich farblos es fortzusetzen und es zu einem mehr oder weniger verständig-logischen Abschluß zu bringen! Und was ist nun daraus geworden, was wird durch Tag und Nacht, wie ich die Feder von neuem wieder aufnehme, weiterhin daraus werden? Wie hat dies alles mich aus mir selber herausgehoben, mich mit sich fortgenommen und mich aus meinem Lebenskreise in die Welt des toten Freundes hineingestellt, nein, -geworfen! Ich fühle seine feste Hand auf meiner Schulter, und sein weltüberwindend Lachen klingt mir fortwährend im Ohr. Ach, könnte ich das nur auch zu Papiere bringen, wie es sich gehörte; aber das vermag ich eben nicht, und so wird mir die selbstauferlegte Last oft zu einer sehr peinlichen, und alles, was ich über den Fall Velten Andres tatsächlich in den Akten habe und durch Dokumente oder Zeugen beweisen kann, reicht nicht über die Unzulänglichkeit weg, sowohl der Form wie auch der Farbe nach.

Als ich als Assessor an unserem heimatlichen Stadtgericht ihn wieder in Berlin aufsuchte, hatte er sein Lebensmärchen ferner wieder richtig wahr gemacht und saß über den Geschäftsbüchern des Vaters des Beaux als der »merkwürdigste Volontär, der mir jemals vor Augen und ins Kontor gekommen ist«, wie der alte liebenswürdige Herr meinte.

»Sie glauben es aber nicht, Herr Assessor«, fügte er hinzu, »wie mein Sohn an ihm hängt, aber noch weniger, daß meine Tochter, meine Leonie, es gewesen ist, die für alle meine Bedenklichkeiten das Gegenwort hatte und stets behauptete: was der junge Herr vorhabe, sei keine Torheit, Schnurre und Grille, sondern er wisse wohl, was er wolle, und sie würde an seiner Stelle ganz gewiß ganz dasselbige wollen. Er will es nämlich versuchen, in den Vereinigten Staaten sein Glück zu machen, und da hat er ja auch wohl recht. Mit unserm deutschen Doktor der Philosophie würde es da drüben in dieser Hinsicht wohl etwas langsam gehen. Dergleichen geistigen Überfluß schickt ihnen das alte Vaterland schon etwas sehr reichlich hinüber, und so ein alter deutscher Schneidermeister hat vielleicht auch seine Verbindungen in der neuen Welt und kann einem armen, strebsamen Teufel möglicherweise eher zu einem auskömmlichen Unterkommen verhelfen. Als von einem armen Teufel darf ich freilich meinen Kindern nicht von Ihrem Herrn Freunde sprechen, Herr Assessor; also, bitte, erwähnen Sie von diesem meinem Ausdruck nichts gegen sie. Wir sind eben eine wunderliche Gesellschaft in diesem Hause, das Hinterhaus eingeschlossen. Manchmal denke ich, die einzige Vernünftige von uns allen sitzt da hinten hinaus, nämlich diese Frau Fechtmeisterin. Na, schlägt die aber auch die Hände über unsern Doktor zusammen! Sie habe doch in Jena und sonst auf ihren Universitäten manchen kuriosen Gesellen kennengelernt, aber so einen verrückten wie Ihren Freund Andres noch nicht, meint sie. Das einzige Glück ist, daß sie sich doch nicht ausnimmt, wenn sie von der Kolonie – der Narrenkolonie redet, die sich hier in der Dorotheenstraße zusammengefunden habe. Die einzige übrigens, die mir bei der Geschichte wirkliche Sorge macht, Herr Assessor, das ist meine Leonie. Mein Junge findet sich schon noch zurecht im praktischen Leben, denn auch dazu haben wir von der Kolonie, diesmal meine ich unsere französische, die Anlage unserm Kurfürsten seinerzeit mitgebracht und zur Verfügung gestellt. Wird er nicht Kommerzienrat, so wird er doch Kommissionsrat, oder das Geschäft macht ihn dazu, ob er will oder nicht. Aber das Mädchen – was von eu- unserm deutschen Blut in das im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte hereingekommen ist, das entzieht sich vollständig meiner Berechnung. Meinen armen Leon verstehe ich zur Not noch ziemlich genau aus mir selber; aber meine Leonie – lieber Herr Assessor, ich wollte viel drum geben, wenn ich sagen dürfte, daß ich auch ihren Sprüngen folgen könnte. Hieße sie nicht noch wie wir anderen des Beaux, so merkte es der doch keiner von uns königlich preußischen Staatsbürgern mehr an, daß sie auch eurer sogenannten Tanzmeisternation entsprungen sei. Ich habe ja gegen den Verkehr mit dem Hinterhause nicht das geringste einzuwenden; aber etwas zu viel ist's mir doch, daß sie nur bei der Frau Fechtmeisterin zu finden ist, wenn man nach ihr fragt und sucht. Ich nenne sie oft nur la Belle au bois dormant, wenn ich wieder einen von meinen Jungen oder Leuten habe hinschicken müssen, um sie in das gewöhnliche Leben heimzuholen.« – –

Da war wieder der lärmvolle Hof, auf dem die vornehmsten Rosse der großen Hauptstadt dem berühmtesten Hufarzt und seinen Gehülfen in die Kur gegeben wurden. Da war wieder der dunkle Eingang und die steile, enge Treppe, die zu der Frau Fechtmeisterin Feucht und ihrer wechselnden studentischen Mieterschar hinaufführte. Die Türglocke hatte noch denselben schrillen Klang wie früher, und was die Tür öffnete, war noch dasselbige ritterliche Zwergenweiblein wie früher, und wer sich am wenigsten verändert hatte, das war die Frau Fechtmeisterin Feucht, und wie immer mit dem Strickzeug in den Händen und dem dazugehörigen Garnknäul unterm linken Arm: wohin kommen alle die Strümpfe, die solche liebe, auf dem Altenteil und ihren Erinnerungen sitzende alte Damen stricken? Von denen, die aus den Händen der Frau Fechtmeisterin hervorgingen, hätte es manch ein akademischer Bürger der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin durch manch ein Semester statistisch ganz genau nachweisen können. –

Sie erkannte mich nicht gleich. Es lagen ja zwei Staatsexamina zwischen unserm letzten Zusammensein und dem heutigen Besuch.

»Sie?« rief sie dann. »Also endlich? Wenn ich nach einem Menschen auf Erden ausgesehen habe, so sind Sie das.«

Und mir die Tür ihres Stübchens öffnend, schob sie mich hinein:

»Da haben wir den zweiten aus dem Vogelsang, Leonie. Jetzt aber auf die Mensur mit mir, Assessor Krumhardt. Sehen Sie wohl, daß Ihnen die Schmarre über der Nase daheim bei Ihren Leuten am grünen Tisch nichts geschadet hat! Und der andere Tresenhüpfer und Ellenreiter drunten bei des Beaux Sohn und Nachfolger! Sie kennen doch Fräulein Leonie des Beaux noch, Herr Kommilitone?«

Oh, wohl kannte ich sie noch! Das liebe Mädchen erhob sich wie sonst aus ihrem Sessel, der absonderlichen, greisen Freundin gegenüber, sie schien mir noch ruhig-schöner, stattlich-vornehmer geworden zu sein und lächelte:

»So leicht vergißt man doch wohl seine guten Freunde nicht, Mama Feucht! Vorzüglich wenn man aus dem Vogelsang –«

»Nach Berlin kommt und endlich einmal wieder die weißeste Hand aus dem Roman von der Rose küssen möchte.«

Sie reichte sie mir lächelnd, aber nicht zum Kuß, und sagte: »Hier, Herr Assessor, wie sonst aus der Schneiderwerkstatt und dem Herzen der Romantik heraus; seien Sie uns willkommen, da mit der alten Treue unser altes, närrisches Spielzeug doch auch sein Recht bei Ihnen behalten hat, Messire Charles du Pré-aux-Clercs.«

»Von der Schreiberwiese!« rief ich, die feine Ironie wohl verstehend. »Jawohl, jawohl, gnädiges Fräulein! Und der Chevalier sans peur et sans reproche da unten im Vorderhause hinter den Geschäftsbüchern des Herrn Kastellans sitzt heute besser zu Roß auf seinem Dreibein, mit der Feder hinterm Ohr, als je ein Rittersmann, der in Stahl und Eisen auszog für das Trecrestien, franc royaume de France; und die Frau Fechtmeisterin Feucht ist schon abgef- geschlagen, noch ehe sie sich recht ausgelegt hat für ihr Rittertum von der Saale.«

»Wenn ein junger Mensch zuerst doch nach Jena gehörte und vom Hausberge und dem Fuchsturm in die Welt hätte hineinsehen müssen, so war das doch mein Herr Velten«, seufzte, zugleich verdrossen und betrübt, die Frau Fechtmeisterin. »Oh, dies Berlin! Wie kann ein deutscher Student mit Berlin sein Dasein anfangen und in Berlin hängenbleiben? Und noch dazu ein Kind mit solchen Naturgaben wie dieses, das meinen Seligen zu Rührungstränen gebracht haben würde, – trotz seiner lahmen Linken der beste Schläger, den sie jetzt hier haben, und – verkriecht sich nun hinter einem Kontortisch! Der Kalk fällt mir darüber von den Wänden.«

»Da hat die Frau Fechtmeisterin recht«, lächelte Leonie. »Die Wände drüben in Ihres Herrn Freundes Stube erzählten freilich mit Jammer von den Triumphen, die dort die hohe Kunst gefeiert hat! Und versuchen Sie sich nur mit meinem Bruder, Herr Assessor. Die Welt kehrt sich freilich gänzlich um: der Schneider geht auf die Mensur, und Germaniens Heldenjugend, wenn nicht auf den Schneidertisch, so doch in die doppelte Buchführung und –«

Eben hatte sich draußen in der Vorsaaltür ein Schlüssel gedreht, und ein Schritt erklang im Gange. Die junge Dame, errötend und wie erschreckt, brach ab in ihrer Rede.

»Baissez-vous, montagnes,
Haussez-vous, vallons!
M'empêchez de voir
Ma mi' Madelon«,

klang es draußen aus einem französischen Volksliede, das uns vordem Leonie des Beaux in ihrem Salon im Vorderhause dann und wann zum Flügel gesungen hatte.

»Da haben wir ja die Tafelrunde aus den Contes de ma Mère l'Oie wieder einmal beinahe vollständig beisammen«, rief Velten Andres; und ich sehe ihn wieder vor mir in seiner Pracht, wie man sich in der Jugend den Lord Byron und im Alter den jungen Goethe vorstellt. Mit dem treuen, lachenden, siegessichern Auge und dazu dem Schelmenzug um den Mund – den Liebling der Götter und des Vogelsangs, den Weltüberwinder von Leichtsinns Gnaden. Ich habe ihn nie so wieder gesehen wie jetzt unter den Trophäen der Frau Fechtmeisterin Feucht, wo er uns nunmehr wie ein Kind von seinen Plänen für die nächste Zukunft sprach, als von dem Selbstverständlichsten, was auf dieser Erde von jedermann vorgenommen werden könne.

Er schob es alles aus dem Wege, was ich einzuwenden hatte; – die alte ritterliche Frau und Leonie hatten keine Waffen gegen ihn: das schöne Mädchen übrigens auch keine anderen als ihre melancholisch-scheuen, ihre großen, sehnsüchtigen Augen, die ihre liebe Gewalt nur hinter seinem Rücken kundgeben konnten und von deren ihm gehörenden Wunderreichtum er nichts wußte.

Wir waren sehr »heiter« an dem Morgen, vorzüglich als auch Leon, der um diese Lebensstunde zu der elegantesten Tiergartenritterschaft der jungen Weltstadt gehörte, in Stiefeln und Sporen dazukam.

»Als ich vorhin von Ihrem dreibeinigen Roß hinter Ihrem Pult mich herabschwang, lieber Freund, habe ich doch auch eine Genugtuung gehabt«, sagte Velten. »Ihr Papa hat mich auf die Schulter geklopft und gemeint: ›Sehen Sie, cher ami, nicht bloß Ihre Herren Professoren können Vorlesungen halten und Examina anstellen und Diplome verleihen, auf welche hin selbst so'n Belletriste wie Sie sich durch die Welt schlagen und es in ihr zu etwas bringen kann. Meinem eigenen Jungen sind Sie wahrhaftig schon um mehrere Nasenlängen vor im Weltverständnis. In einem halben Jahr schicke ich Sie dahin, wohin ich ihn befördern wollte, offen gestanden, Herr Andres, um ihn Ihren übeln Einwirkungen zu entziehen. In tailor made suits drüben überm Ozean Ihr deutsches Gemüt zur Sache hinzugetan, und Sie können dreist dort den Laden aufmachen, wie hier am Ort mein Großpapa, Monsieur Raymond Guy des Beaux, dessen Papa, wie wir in unserm Familienarchiv haben, dem Alten Fritz nach Kunersdorf auf den Ruinen von Küstrin in Chorrock und Beffchen französisch predigen und ihn trösten durfte.‹«

Wie schade, wie schade war es, daß er auch jetzt von den Augen, die ihn aus dem Verborgenen auf allen Wegen und bei allen Worten begleiteten, nichts wissen sollte, nach dem Willen des Geschicks! ...


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