Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Ich habe eine längere Pause in der Abfassung oder Niederschrift dieser Annalen und Historien des alten Vogelsangs machen müssen. Als ich das letzte Blatt zu den Akten brachte, schneite es noch; nun läuft wieder ein grüner Schimmer über den Osterberg, und meine Kinder tragen Hände voll von den nämlichen Frühlingsblumen, die ihre Mutter in Velten Andres' verwüstetem, ausgeleertem Heimwesen aus der Hand gleiten ließ, ins Haus.

Wir hatten viel Sorge im Hause. Wir fürchteten, unsern ältesten Sohn, den seinerzeit Velten nicht aus der Taufe hatte heben wollen, am Typhus zu verlieren; aber der Junge ist uns erhalten geblieben und munter wieder auf den Beinen, und ich habe die Feder zum Besten seines Hausarchivs von neuem aufgenommen. Wir sind im März eines neuen Lebensjahres, und ich halte wieder den Brief in der Hand, den mir Mrs. Mungo im November des vorigen Jahres aus Berlin schrieb.

»Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er ist nun tot. Wir haben unsern Willen bekommen. Er ist allein geblieben bis zuletzt, mit sich selber allein, ohne Eigentum an der Welt ...«

Könnte ich ihr doch – könnte ich von hier an Helenen Trotzendorff die Feder in die Hand geben und sagen:

»Nun schreibe du weiter. Schließe das Aktenstück ab!« ...

Ich habe in den langen Jahren kaum etwas von dem Freunde gehört. Nach Hause, wenn man bei ihm nach seinem vernichteten Hause diesen Ausdruck noch gebrauchen könnte, ist er nicht wieder gekommen, und geschrieben hat er an mich auch nicht. Aber da mich meine Stellung in unserem kleinen Staatswesen dann und wann nach Berlin führte, so bin ich mit dem Hause des Beaux in einiger Verbindung geblieben. Kommerzienrat des Beaux – Leon des Beaux hält, trotzdem er längst zu den bedeutenderen Bankiers und Kapitalisten der Reichshauptstadt gehört, das alte gute Verhältnis aus »unserer Universitätszeit« noch aufrecht. Das väterliche Geschäft in der Dorotheenstraße besteht aber nicht mehr (aus einem Schneiderladen gelangt man ja wohl nicht zu dem Titel Kommerzienrat?), und Leon selber bringt die Rede nie darauf und sie gern auf etwas anderes, wenn sie darauf kommt. Da ich auch jetzt in seinen Geschäftsstuben nichts zu tun habe, kenne ich ihn nur in seinem Familien- und Gesellschaftskreise in seiner Villa einer vornehmen Vorstadt. Er ist auch verheiratet und hat eine gute, für ihn passende Frau bekommen. Er ist Vater von zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter. Der Junge wird Friedrich gerufen, das Mädchen Viktoria: die traditionellen altfranzösischen Familientaufnamen der des Beaux aus dem Languedoc figurieren nur noch in den Taufscheinen der Kinder. Die jetzige Madame des Beaux weiß nichts mehr von dem Familien-Wunderwinkel in der Dorotheenstraße, wo Leonie und Leon des Beaux ihr, ihres Vaters und ihrer Väter Eigentum in Angestammtem und Zuerworbenem festhielten und ihren Lebensstolz drauf gründeten. Sie, Frau Wera des Beaux, vordem zweite Liebhaberin am ***theater, hat sich in den guten Leon trefflich hineinzufinden verstanden; sie ist eine tüchtige Berliner Hausfrau und zugleich eine vornehme Frau, die die Stellung ihres Gatten wohl zu wahren weiß; aber von Albi, Simon von Montfort, Raimund von Toulouse, Peter von Castelnau weiß sie nichts, die Bartholomäusnacht kennt sie nur aus den Meyerbeerschen Hugenotten und das Edikt von Nantes –

»Für das muß ich eigentlich dem Himmel unbeschreiblich dankbar sein«, sagte sie mir einmal lachend an ihrem Teetisch. »Wie sollten ohne es Leon und ich uns wohl in der Welt zusammengefunden haben, Herr Oberregierungsrat?«

Fritz und Vicky, die beiden Kinder des lieben, harmlosen, freundlichen Paars, wissen nur von Sedan, Gravelotte, der dritten Einnahme von Paris und von Kaiser Wilhelm und seinen »Paladinen«; von den Paladinen der »Tante Leonie« aber wenig mehr. Sie sind eben eine geraume Zeit nach Sedan, Metz und der dritten Einnahme von Paris in die deutsche Welt hineingekommen, und das Eigentum ihrer Vorfahren väterlicher Seite hat kaum noch viel Bedeutung für sie. Was in der Dorotheenstraße noch pietätvoll zusammengetragen worden war, das dient in der jetzigen Villa des Beaux in den Gemächern nur noch hie und da zur Zier, und im Salon der Frau Kommerzienrätin schaut der erste brandenburgische Ahnherr, der Sieur Antoine des Beaux, dem der Große Kurfürst seinerzeit die Hand geschüttelt hat, von der Wand aus seinem Clair-obscur ernst, aber auch ruhig in das Plein-air des laufenden Tages hinein. Das Bild hat Kunstwert: von wieviel Wänden wird es wohl noch auf fremde Leute hinuntersehen?

Und Leonie? Leonie des Beaux?

Von der wissen die Kinder ihres Bruders nur zu sagen, daß sie sehr gut, aber nur einmal auf längere Zeit zu ihnen und Papa und Mama vom Rheine her gekommen sei, ohne daß einer im Hause oder sonst jemand sehr krank gelegen habe.

Leonie des Beaux hatte sich wie Velten Andres ihres Eigentums an der Welt entledigt, sie war Diakonissin zu Kaiserswerth geworden und diente dem Herrn jetzt auf einer »Arbeitsstation« in Deutsch-Lothringen. Da ich die Feder auch nicht in ihre Hand legen kann, hatte ich dieses zu den Akten zu bringen, ehe ich weiterschreibe in Sachen Velten Andres und – Helene Trotzendorff. – – –

Ich bin wieder auf dem ersten Blatt der Chronik des Vogelsangs.

»Du mußt und willst doch auch wohl als erster guter alter Freund von allen nach Berlin?« hatte meine Frau an jenem Novemberabend gefragt, und »Morgen, wenn es mir irgend möglich ist«, hatte ich ihr geantwortet. Dann waren wir beide, Anna und ich, zu unserem jungen Volk gegangen, um uns zu vergewissern, daß wenigstens da noch alles in Ordnung auf Erden sei. Am andern Mittag war ich in Berlin. Meine Stellung in unserm Staatswesen erlaubte mir, den nötigen Urlaub, wenigstens für einige Tage, mir selber zu geben.

»Erkälte dich nicht, Alter«, hatte meine Frau gesagt. »Bedenke deinen Rheumatismus und denke auch ein wenig an deine Jahre, und daß wir im November sind.«

Ich bedachte freilich manches in meinem Blitzzuge; auch nicht zum mindesten meine wohlgezählten achtundvierzig Lebensjahre. Würde ich aber noch einmal von meinen Türen, die ein Bedienter öffnete, von meiner behaglichen Luftheizung, meinen amtlichen Aussichten auf die Zukunft und darin den Titel Exzellenz, ja, würde ich auch nur noch einmal von Weib und Kindern reden, so liefe das nur auf eine Wiederholung von schon Gesagtem hinaus. Während einer unbehaglichen Wirtstafel hatte ich mir zu überlegen, ob ich am besten erst den Kommerzienrat des Beaux in seiner Villa oder Mistreß Mungo im Kaiserhof von meiner Ankunft benachrichtige und ihnen die weitere Führung überlasse. Zwischen drei und vier Uhr nachmittags aber stand ich allein in der Dorotheenstraße vor dem Hause, in welchem die alte Hugenottenfamilie zum letztenmal ihre Lebensandenken zusammengehäuft und Velten Andres eigentumslos seinen Weg über die Erde beendet hatte. Seit meinen Studentenjahren war ich nicht wieder in diese Gegend der Stadt gekommen, und von dem Hause war nur die Nummer geblieben, was die Gassenseite anbetraf. Vater des Beaux nahm nicht mehr das Maß der oberen Zehntausend der Stadt, und der Hofhufschmied beschlug nicht mehr die Hufe ihrer Rosse in der Dorotheenstraße: nach der Gassenseite hin hatte sich die Dekoration vollständig verändert, soweit ich meiner Erinnerung trauen konnte. An der Architektur der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des Jahrhunderts emporblickend, konnte ich, mit dem Briefe Helene Trotzendorffs daheim auf meinem Schreibtische, in meinem und des Vogelsangs Aktenkonvolut, mich nur fragen:

»Frau Fechtmeisterin Feucht? Ein Irrtum ist doch wohl ausgeschlossen?«

Ich habe auf meinem Wege durch meinen Beruf und vorzüglich während der zwei Jahre, in welchen ich zu Hause der Oberstaatsanwaltschaft als Mitarbeiter zugeteilt war, in mancherlei Örtlichkeiten mich zurechtzufinden gelernt. Hier hatte ich nur den Neubau zu durchschreiten, um merkwürdigerweise in dem neuesten Berlin das wenn nicht älteste, so doch ältere noch vollständig an Ort und Stelle zu finden. Das weite, lärmvolle Gehöft des Hofhufschmieds war freilich überbaut worden und bis auf einen brunnenartigen, lichtlosen Lichthof verschwunden. Doch der Frau Fechtmeisterin Feucht und ihrem Reich hatte die Zeit nichts anhaben können. Ich fand sie beide noch, wie sie vor Jahren gewesen waren: das Hintergebäude der großen Firma des Beaux und die Frau Fechtmeisterin. Sie hatten sich beide gar nicht oder nur ganz unmerklich verändert, das eine, rauchgeschwärzt, mit jetzt seinen hundertundzwanzig, die andere, weiß, zierlich, das richtige Märchenweiblein, mit fast ihren neunzig Jahren auf dem Nacken! –

Baissez-vous, montagnes,
Haussez-vous, vallons!
M'empêchez de voir
Ma mi' Madelon –

wie kam es, daß auf den dunkeln, steilen Treppen, die zu der alten Frau hinaufführten, dieser Vers, daß die süße Stimme, die das Lied uns in dem vornehmen Salon des Vorderhauses so oft gesungen hatte, mir plötzlich wieder in den Sinn kam? Es waren doch eigentlich nur wenige Jahre her, daß wir dort in dem Zauberwalde Brozeliand zusammensaßen und über der Berliner Schneiderwerkstatt, aller romantischen Wunder voll, provençalische Minnesänger, altfranzösische Chroniken und hugenottische Streitschriften und Liederbücher durchblätterten, und nun schien mir nichts davon übrig zu sein als dieser Ton, dieser Vers! Und schauerlich merkwürdig kam mir dazu eine spätere Winternacht in das Gedächtnis zurück und ein anderer Vers, aber nicht aus einem französischen Volksliede, sondern aus einem deutschen Klassiker. In seinem von seinem Eigentum an der Erde sich leerenden Vaterhause im Vogelsang murmelte ihn Velten Andres bei seinem Vernichtungs- und Befreiungswerk vor sich hin:

Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde.

Dorotheenstraße Numero 0 – Hintergebäude – Frau Fechtmeisterin Feucht – Studiosus Valentin Andres! Ich zog im dritten Stockwerk wie ein eben Erwachender die Glocke und erkannte auch ihren Klang wieder.

»So etwas mußte es wohl sein, was uns zwei noch einmal im Leben zusammenbringen konnte, Herr Krumhardt«, sagte dann ganz dieselbe Stimme, die vor Jahren mich so oft freundlich begrüßt und auch dann und wann gar mütterlich gewarnt und gescholten hatte. »Sie treten wohl erst einen Augenblick bei mir ein, ehe Sie in sein Zimmer hinübergehen, Herr Oberregierungsrat. Sie hat Sie wohl nicht so früh hier in Berlin erwartet; aber mir konnten Sie nicht früh genug kommen. In meinem Alter kann man ja wohl alles leicht nehmen, aber dieses wird mir doch zu schwer allein zu tragen. Seit dem Morgen sitzt sie wieder auf seinem Bett, mit den Ellbogen auf den Knieen und dem Kopf zwischen den Händen.«

»Sie? Allein mit ihm? Helene? Helene Trotzendorff?«

»Die große amerikanische Dame. Haben Sie nicht auch von ihr und ihren Reichtümern in der Zeitung gelesen?«

Die alte Frau faßte mit ihrer dürren, altersharten, kühlen Hand meine heiße:

»Kommen Sie, Herr. Es hat Zeit, daß Sie zu ihr gehen. Sie scheint nichts mehr von Zeit und Stunde zu wissen; aber seit sie mir gesagt hat, daß Sie kommen würden, sind mir in der Erwartung die Minuten zu Jahren geworden, denn gegen wen könnte ich so meiner Seele Luft machen, wem könnte ich hiervon so erzählen als wie Ihnen? Wem kann man denn so was begreiflich machen als wie einem, der auch mit dazu gehört hat vom Anfang an?«


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