Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Die Sonne war schon im Untergehen; sie leuchtete aber auf dieser Höhe noch durch den Buschwald, und die Wipfel glühten in ihrem Schein. Wir zwei aus dem Vogelsang lagen in dem hohen Grase, Leon des Beaux saß auf einem Baumstumpf, hatte auf den Knieen die feinen Aristokratenhände zusammengelegt, blickte zum Zenit und träumerisch in die Runde, sah auf den Freund und seufzte:

»Oh, Herr, – wenn ich es doch nur sagen könnte, wie mir zumute ist. Welch ein wundervoller Tag das wieder war –«

»Für einen Menschen, der mit Stangen im Land der Goldorangen und Zitronen, im Orient und am Nordkap war, aus Albi stammt, den Großen Kurfürsten in Germanien zum Paten hat, den geschmackvollsten und nahrhaftesten Schneider von Berlin zum Papa, sich Leon des Beaux nennt und als Königlich Preußischer Kommerzienrat dermaleinst einen wirklichen Künstler mit der Schöpfung seines Grabdenkmals beauftragen wird! Leon, das Wundervollste ist doch noch für Sie zurück und kommt jetzt erst. Der Abend ist freilich schön genug dazu.«

Er, Velten Andres, sprach das so mürrisch, so verbissen-giftig, daß ich mich auf dem Ellbogen emporstemmte, um ihn besser betrachten zu können, und Leon ihn fast ängstlich anstarrte.

Er, im Grase liegend, die Hände unterm Kopf, zog die bei der Rettung meines Schwagers »Schlappe« halbgelähmte drunter hervor, wies in die Höhe:

»Der Ast da oben war es, Karlos! Da hatte sie sich verklettert, hing, klammerte sich an und kreischte. Ich schlafe ziemlich traumlos, aber meine Blamage von dem Tage kommt mir doch dann und wann immer noch nachts im Schlafe. Das war der meinige – mein Ast meine ich! Was durch Nachklettern und naturhistorisch als Wickelaffe zu leisten war, glaube ich möglich gemacht zu haben. Meine erste wirklich verlorene Lebensschlacht, des Beaux! Den Krumhardt da höre ich noch zetern, ehe ihm der einzig richtige Philistergedanke kam und er zu Tal stürzte, den Nachbar Hartleben herauf- und uns herunterzuholen. Wißt ihr, Kinder, so ist der Mensch: diesen Baum und was dran hing und hängt, werde ich bei keiner Lebens-Haupt- und Staatsaktion mehr los: es ist das erstemal gewesen, daß ich des Menschen Unzulänglichkeit auf dieser Erde auch an mir in die Erfahrung gebracht habe. Kein geschlagener Held, kein verblüffter Philosoph hat mich auf seinem Schlachtfelde oder in seinem System seit dem Nachmittag was Neues zu lehren. Es ist nichts mit dem Heroentum in dieser Werkeltagswelt, Leon, und deshalb bin ich seit heute morgen fest entschlossen, Helm und Harnisch an den Nagel zu hängen, jeglichen Federbusch als Staubwedel zu vergeben und vor allem das gelahrte Dintenfaß in den Gossenstein zu gießen, den Plato und den Aristoteles zuzuklappen und Schneider zu werden! Meine Alte billigt meinen Entschluß; an Ihren Papa habe ich bereits geschrieben, des Beaux. Was fällt euch an? Entzückung oder Schmerzen?«

Wir standen aufrecht auf den Beinen, Leon und ich, und stierten auf ihn herunter.

»Bist du nicht bei Troste, Velten?«

»Wie gewöhnlich! Sonst aber nur ein neuer Unsinn von dem Schlingel! würde der Vogelsang sagen«, lachte der wirkliche Heros des Vogelsangs, sich nur noch etwas behaglicher unter der Eiche, in der sich einst Fräulein Helene Trotzendorff verklettert hatte, zurechtlegend. »Ja, so ist es, meine Herren! So halten wir uns für frei und werden an Ketten geführt. Und die eisernen sind nicht die unzerreißbarsten; jeder im Spinnweb zappelnde Brummer kann darüber nachsagen. Sie und Ihre liebe Schwester, Leon, ebenfalls, aber gottlob mit frommseligen, närrischen Traumaugen – ich bitte Sie, des Beaux, sehen Sie nicht so dumm aus: es verhält sich so! Es ist wahrlich keine kleine Vergünstigung der Götter, wie ihr guten Kinder im blauen Himmel der Provence an euren Goldfäden über der Mark Brandenburg und der Stadt Berlin schwingen zu dürfen! ... Krumhardt, dein Protokollführergesicht ist mir niemals so sympathisch gewesen wie in diesem Augenblick! Wenn du dereinst deinen Kindern von deinem Jugendfreunde erzählst, so vergiß nicht, mit melancholischem Kopfschütteln zu seiner Entschuldigung anzuführen: Der arme Tropf konnte nichts dafür; das Mädel hatte ihm eben eines ihrer Goldhaare durch die Nase gezogen und zog ihn daran sich nach; – so wurde er zum Schneider und ging für die Wissenschaft verloren drüben in der Atlantis. Der Baum steht nicht umsonst da, und ich liege nicht ohne Grund hier unter ihm. Drunten im Vogelsang sitzt meine Alte vor ihrer Korrespondenz mit Amerika, und hier in der Tasche trage ich den letzten Brief Miß Ellens aus Saratoga: das Mädchen verklettert sich noch einmal, und ich muß ihr wiederum nach; es ist keine Hülfe und Abwehr dagegen!«

Auch er stand jetzt auf den Füßen. Ich hatte ihn nie so schön, stolz und grimmig gesehen. Er hob wie drohend die gesunde rechte Faust zu dem schicksalvollen Geäst über uns auf, zu der luftigen Höhe, in der sie voreinst gehangen hatten, die zwei Kinder aus dem Vogelsang, sie in zitternder, wimmernder Todesangst und er im ohnmächtigen, vergeblichen Ringen mit der Unmöglichkeit, Hülfe zu schaffen.

»Willst du uns den Brief nicht lesen lassen oder vorlesen, Velten?«

Er holte ihn zögernd aus der Tasche, hielt ihn mir hin und zog ihn rasch zurück.

»Nein! Man muß zuviel zwischen den Zeilen lesen. Was könnt ihr davon wissen? Du gar nichts, Karl; – vielleicht noch eher etwas der Träumer Leon da. Es ist eben Unsinn; – schade, daß wir nicht Ihr Fräulein Schwester hier mit uns haben, des Beaux. Die würde freilich mit ihren lieben, treuen, klugen Augen am klarsten sehen. Meine Mutter meint, das Kind sei für uns verloren, der Aff' habe sich schon zu hoch für den Vogelsang verstiegen und Mr. Charles Trotzendorff sein Recht an ihm mit Zinsen genommen. Möglich! Aber was hilft ihre Überzeugung mir? Ich höre das arme Ding zwischen seinen lachenden Zeilen kreischen und meinen Namen rufen wie damals dort oben auf dem Ast. Wie damals muß ich ihr nach! Aber diesmal wirst du nicht zum Nachbar Hartleben um Stricke und Leitern herunterlaufen dürfen, alter Junge. Ich hole sie mir aus ihrer Verkletterung diesmal ohne fremde Hülfe. Niemals habe ich in meinem Leben etwas so sicher gewußt wie das! Jawohl, wenn Ihre Schwester, wenn Leonie hier wäre, die würde mit den rechten, mit meinen Augen zwischen den Zeilen des albernen Geschmiers lesen und mir den rechten Waffensegen geben. A la rescousse, mon preux chevalier! Und somit bleibt es dabei: ich werde dem fernen Westen nicht bloß als deutscher Doktor der Weltweisheit, sondern auch als internationaler Reisender in Herrenkonfektion imponieren. Für ein halbes Jahr müssen Sie mir schon Ihren Kontorstuhl im Geschäft Ihres Herrn Vaters überlassen, Messire Leon des Beaux. Bei der Frau Fechtmeisterin Feucht reden wir demnächst noch des weiteren hierüber. Jetzt aber sage ich dir, Krumhardt, sieh du nicht so dumm aus!«

Drunten im Tal sagte seine Mutter zu mir:

»Der arme Junge! Er hat dir erzählt, was er jetzt vorhat, Karl, und es nutzt nichts, ihm dagegen mit tausend Gründen zu kommen. Und ich lasse mich leider Gottes nur zu gern mit meinem Besserwissen beiseite schieben. Da liegt der Briefwechsel, den ich mit meinem armen Kinde geführt habe, die Jahre durch: es ist die gewöhnliche tragische Posse. Die Welt der Gewöhnlichkeit, der Gemeinheit gewinnt es uns wieder ab, die Firma Trotzendorff behält ihr Recht; aber der Geist Gottes schwebt zu allen Zeiten über den Wassern und bezeugt sein Recht auf jede Weise, auch die wunderlichste. Auch die Illusion gehört eben zu seinen Mitteln, die Erde grün zu machen und schön zu erhalten, und dein närrischer Schulgenoß läßt nicht von seinen Illusionen, lieber Karl. Er kann das Mädchen noch nicht aufgeben, und er sagt die Wahrheit, wenn er meint, daß auch sie noch immer nur auf ihn wartet und nach ihm um Hülfe aussieht. Möchte ich das ändern, wenn ich's könnte? Nein, nein! Ganz gewiß nicht! Auch ich halte ja, Gott sei Dank, meine Illusionen noch immer fest, wenn auch nicht mit seinem lachenden Herzen. Sie ist ja auch in eurer Kinderzeit zu meinem Kinde geworden, und ich weiß, was sie wert ist und unter allen Umständen – ja allen – wert bleiben wird. Auch wenn sie ihm verlorengeht. Wenn er fern sein wird, habe ich Zeit, mir das, nicht bloß in schlaflosen, sorgenvollen Nächten, sondern auch da, an meinem Fensterchen im Sonnenschein, zurechtzulegen. Dein guter, treuer Vater, lieber Krumhardt, sitzt hier jetzt häufiger als sonst bei mir und erzieht noch wie sonst an mir und meinen Kindern; jetzt meint er, mein Junge habe nun den ersten praktischen Einfall in seinem Leben gehabt. Soll da unsereine trotz ihrer Sorgen und Ängste nicht lachen? Euer netter, reicher junger Freund aus Berlin, mein lieber Freund, euer Herr Leon, hat uns auch in dieser Hinsicht einen großen Dienst erwiesen. Er hat ihn, ich meine deinen guten Papa, wenigstens zu einem kleinen Teil mit der Unzurechnungsfähigkeit meines Velten ausgesöhnt. Ach Gott, von welchen Mächten werden wir doch beherrscht und hin- und hergezogen? – ›Ich hätte den Burschen nie für so praktisch gehalten, und es soll mich schon freuen, Frau Nachbarin, wenn ich mich wenigstens zur Hälfte geirrt habe‹, sagt er, dein Herr Vater, seit er in Erfahrung gebracht hat, daß auch große, wirkliche Geschäftsmänner etwas von ihm halten und ihn gern auf seinen närrischen Wegen fördern. Sieh, Kind, ich rede ja nur so offen und frei mit dir, weil du von uns allen hier im Vogelsang der einzige wirklich Verständige bist und mit deinem Herzen und Gemüte doch auch zu mir und Helene und deinem Freunde gehörst – weil du zu meinen Vogelsangkindern gehörst! Also nimm dir aus dem Unsinn, den ich schwatze, heraus, was du dermaleinst vielleicht brauchen kannst, um uns unser hiesiges Recht, wenn nicht vor der weiten Welt, so doch vor dir selber angedeihen zu lassen. Denn sieh, eben weil ich nicht an das Glück meines Velten im Sinne der Welt glaube, so möchte ich grade deshalb, als seine arme, angstvolle Mutter, einen haben, der in der richtigen Weise, wenn keinem anderen, so doch sich selber von uns mit vollem Verständnis erzählte und sich all unser Schicksal zurechtlegte.«


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