Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Ich habe dem Nachbar Hartleben Raum zu seinen Eräußerungen gegeben. Es lag mir daran, diesen guten Mann aus der Erinnerung mir hinzumalen, wie er war und sich gab zum Besten seiner Nachbarschaft. Have, pia anima! Sanft ruhe seine Asche: er hat's auch um den Ritter mehrerer Orden Dr. jur. Oberregierungsrat Krumhardt verdient, daß der ihn seinen Nachkommen nach den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig, aufbewahre als ein Zeichen, wie es vordem zuging im Vogelsang. Sein schmeichelhaftes Wort über mich auf dem vorigen Manuskriptblatt kommt hierbei wahrlich nicht in Betracht, sondern vielmehr ein vollkommenes Gegenteil davon. Es half sehr, wenn der Nachbar Hartleben seine Meinung über den Sohn meines Vaters dahin abgab:

»Bengel, wenn ich du wäre, so hätte ich gestern doch nicht mit den Händen in den Hosentaschen dabeigestanden und die anderen allein es ausfechten lassen!«

Ich war dann wirklich das nächste Mal nach besten Kräften mehr mit dabei. Gewöhnlich litten dann aber leider nicht nur meine Jacken, Hosen, Nase und Augen, sondern auch die Gefühle der Eltern sehr unter dieser Besserung in Nachbar Hartlebens Sinne. Die »Frau Doktern« hatte dann nicht nur mit einem Waschnapf für die blutende Nase, einer Kompresse für das geschwollene Sehorgan, sondern auch noch mehr mit sanft überredender Bitte im Nachbarhause »einzuspringen«, wie Velten sich ausdrückte.

»Meiner ist natürlich der Hauptsünder gewesen. Sagen Sie es ihm nur ja recht ordentlich, Herr Nachbar!« –

Mein wackerer, braver Vater! meine gute, sorgenvolle Mutter! sie hatten wahrlich ihre täglichen und nächtlichen Nöte im Vogelsang. Leider aber tröstet und erquickt den Menschen auf seinem Erdengange auch die sicherste Gewißheit, daß er recht habe oder es jedenfalls bekommen werde, wenig. Meine Eltern hatten vollkommen recht und wußten das auch, aber Genuß zogen sie kaum aus ihrem Wissen. Dieses konnte sie nur darin bestärken, ihr eigen Fleisch und Blut möglichst auf dem richtigen Wege zu erhalten, auf daß und damit die Welt bestehe und ordnungsgemäß an nachfolgende Geschlechter weitergegeben werde. Nach besten, treuesten, sorglichsten Kräften haben sie so an mir getan, und – gottlob, ich weiß, daß meine Frau und meine Kinder mit ihren Erziehungsresultaten zufrieden sind. Sie sehen alle mit Respekt zu dem alten Herrn Rat, dem »Großpapa«, über meinem Schreibtische auf, und meine Frau sagt dann auch wohl lächelnd:

»Du, es ist möglich, daß du es nicht glaubst; aber ich glaube, die Mama, deine Mutter, setzte häufiger ihren Willen gegen ihn da auf dem Bilde durch, als ich den meinigen dir gegenüber. Vorzüglich was die Kinder anbetrifft.«

»Sie teilten sich eben auch in die Verantwortlichkeit dafür gegenüber der Welt, mein Schatz.« –

Jaja, so redet man, über den Schreibtisch weg, am trauten Winterofen, in der Gartenlaube über die, so ihrer Arbeit für diesmal entledigt sind, über die Gras wächst und zu denen noch einige Zeit ihre Nächsten im Leben kommen, bis Straßenzüge, Eisenbahngeleise oder, im besten Falle, der Ackerpflug über sie weggehen und ihre Stätte nicht mehr gefunden, doch auch nicht mehr gesucht wird.

Ja, über den Schreibtisch weg sehe ich heute (nicht mit leiblichen Augen) auf unsern alten Kirchhof im Vogelsang, wo sie den Rat und die Rätin Krumhardt, den Doktor und die Frau Doktern Andres und den Nachbar Hartleben so nachbarschaftlich nebeneinander gebettet haben und wo wir, meine Kinder, mein Weib und ich, wo Velten Andres und Helene Trotzendorff nicht ihre Ruhestätten bei ihren besten Erziehern finden werden. Jetzt liegt auch er schon zwischen Backsteinmauern und Zement-Kunsthandwerk, der Friedhof des Vogelsangs; damals lag er noch vollständig im Grün, und eine lebendige Hecke ging um ihn her. Hohe Bäume überschatteten ihn, und die Vögel sangen da noch – auch die Nachtigall zu ihrer Zeit, und hier war's, wo wir, wenn uns der Weg zum Walde hinauf zu sonnig war, nicht Schiller und Goethe (die hingen uns von der Schule her aus dem Halse, wie Velten sich ausdrückte), sondern Alexander Dumas den Vater lasen und mit seinen drei Musketieren, wie er, die Welt eroberten.

Und dann –

Und dann –

Dort vor dem Tor lag eine Sphinx,
Ein Zwitter von Schrecken und Lüsten,
Der Leib und die Tatzen wie ein Löw,
Ein Weib an Haupt und Brüsten.

Die Nachtigall sang: O schöne Sphinx!
O Liebe! Was soll es bedeuten,
Daß du vermischest mit Todesqual
All deine Seligkeiten?

Und wenn sich alle Schulmeister der Welt auf den Kopf stellen oder vielmehr fest hinsetzen aufs Katheder: sie erobern die Welt zwischen dem sechzehnten und zwanzigsten Lebensjahre doch nicht durch moralisch, ethisch und politisch gereinigte Anthologien. Der »Unsinn«, der Mondenschein, der »frivole Ungeschmack« und die Nachtigall, der »Blödsinn«, der Lindenduft, das ferne Wetterleuchten und die hübsche Jungfer Lorelei im lichten Sommerkleide im Mondlicht behalten doch ihr Recht: der Spiegel behält sein Recht, aber nicht die Rute dahinter...

»Das Gewitter scheint doch heraufzukommen, Velten!« sage ich, während wir jetzt noch im Mondlicht neben einem Grabe stehen, auf dem eine einfache Steinplatte in Goldschrift den Namen Valentin Andres, Doktor der Arzneikunde, nebst Geburts- und Todes-Jahres- und Tagesdatum trägt; und Velten Andres lacht:

»Laß es kommen,

Den Toten im Meere kümmert's nicht,
Er ist ja naß genug«,

und das ist wieder aus einem Poeten, den man um diese Lebenszeit sehr gern zitiert, wenn auch die Zitate wie die Faust aufs Auge passen. Aus dem Ferdinand Freiligrath ist's, der auch nicht von den Herren Lehrern zu den Klassikern gezählt wird, sich selber nicht dazu zählte und doch auf ungezählte Hunderttausende von Schuljungen von größerm Einfluß ist als der Dichter des Egmont, der Iphigenie und des Torquato Tasso. –

Seinen Vater kennt Velten eigentlich nur aus den Erzählungen seiner Mutter.

»Nur der Mutter und meinetwegen hat er sich was aus dem Sterben gemacht, für sich selber nichts«, sagte der Sohn seines Vaters. »Kommt dieser Sofaheld uns hier auf dem Kirchhofe mit seinem dummen Gewitter! Geh du dreist nach Haus und hol dir einen Regenschirm, wenn deine Alten dich wieder loslassen; Miß und ich bleiben hier, bis wir naß sind bis auf die Knochen. Famos, da verkriecht sich die holde Luna, und da haben wir die Prostemahlzeit, wie sie in Schödlers Buch der Natur steht. Komm rasch nach Hause, Lenchen! Deine Alte kenn ich; die wird ja rein verrückt beim leisesten Donner, und auf meine Alte und mich wird's natürlich allein abgeladen, wenn du morgen mit einer Schnupfennase herumläufst.«

»Lächerlich machen lasse ich mich nicht«, sagt Helene und setzt sich auf einen halbversunkenen Grabstein neben dem des Doktors Andres. »Ich bleibe hier, wie du gesagt hast! Aber auch allein. Bilde dir ja nicht ein, du Schafskopf, daß du morgen mit mir renommieren willst! Karlchen, nimm ihn auf den Arm und trag ihn zu seiner Mama. Ja, ich bleibe hier und denke an meinen Vater – was kümmern mich eure Toten und dummen Gewitter? In Amerika kommt das ganz anders, und kommt mein Vater, um uns wieder zu sich zu holen, so – o Himmel, Velten!«

Sie hatte trotz ihrer großen Worte doch einen kleinen Schrei ausgestoßen ob des ersten grellen Leuchtens und rasch nachfolgenden Krachs aus der Höhe. Sie duckte sich auch vor dem Platzregen; aber sie biß die Zähne zusammen und blieb auf ihrem Sitze.

»Jetzt sei keine Närrin, Lenchen, komm mit nach Hause.«

»Nein.«

»Tu es Karls wegen. Der arme Teufel besieht Redensarten, an denen er wochenlang zu kauen hat, wenn er mit verdorbenem Sonntagsstaat heimkommt.«

»Er kann ja laufen. Ihr könnt meinetwegen beide laufen; ich finde meinen Weg schon allein. Ich denke an meinen Vater in Amerika und brauche keinen andern hier. Meine Mutter sagt, wenn er kommt, ist er reicher und vornehmer und stärker als alle hier.«

»Es ist wahrhaftig Hagel dabei, und die Sache wird ungemütlich, Karl«, brummt Velten. »Na, bei schönem Wetter habe ich nichts dagegen, daß du die Märchenprinzeß herausbeißt, Miß Ellen; jetzt hör auf mit deinem Schnack – und gehst du nicht willig, so brauch ich Gewalt, sagt Goethe, und nun komm, Herzchen –

Eine Wassermaus und eine Kröte
Gingen eines Abends spöte
Einen steilen Berg hinan.«

Der sechzehnjährige Signor Petruchio hat den Rock abgerissen und ihn dem sein wildes, phantastisches Köpfchen mit beiden Armen gegen den niederrasselnden Hagel- und Platzregensturm schützenden Kinde übergeworfen, das nur schwach widerstrebende aufgegriffen, und zwar mit dem fernern Zitat aus dem Sekundaner-Klassikertum:

»Da begann die Wassermaus zur Kröte:
Warum gehen wir des Abends spöte
Diesen steilen Berg hinan?«

fügt aber hinzu: »Eigentlich ist's umgekehrt: die Kröte hat das Wort. Ja, zapple nur, Kröte, kleine Riesenkröte! Diesen Abend sind wir noch in Deutschland, und deiner Mama Vereinigte Staaten von Nordamerika und sonstigen Herrlichkeiten können mir – kommen.«

Wie Helene und Velten von den Müttern empfangen werden, habe ich nicht in den Akten; was mich selber betrifft, so wird mein Vater wohl gesagt haben:

»Endlich könnten diese Dummheiten wohl aufhören. Allotria auf dem Kirchhofe! ... Und übrigens scheinst du mir auch seit längerer Zeit schon dich einer recht überflüssigen, wenn nicht schädlichen Leserei zu ergeben. Bleib bei deinen wirklichen Büchern und meinetwegen auch älteren Poeten; aber laß mir diese dummen Romane und sogenannten neueren Dichter aus dem Hause, mein Sohn. Nebenan da zur Vernunft zu reden, hilft ja nicht; da laß ich den Narreteien allmählich ihren Weg; aber hier in meinen vier Pfählen bleibt Verstand Verstand, Sinn Sinn, Unsinn Unsinn und Schund Schund. Was ist deine Meinung, Adolfine?«

»Bis auf die Knochen muß der Junge durchweicht sein. Eine wahre Überschwemmung hat er mir in die Stube gebracht. Gott sei Dank, Kind, daß du wenigstens mit heiler Haut wieder da bist! Mir beben noch die Glieder – das sieht schön aus im Garten nach dem Hagel und Gewitter. Geh jetzt hin und zieh dir was Trockenes an und vor allen Dingen Pantoffeln.«


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