Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Daß er sich wie Herostrat für das Pantheon der Weltgeschichte vorbereite, behaupteten gegen das Ende des damaligen Winters nur die alten guten geistreichen Bekannten vom Schlage Schwager Schlappe und Genossen und hatten ihren souveränen Spaß daran. Die Mehrzahl des Teiles der Stadtbevölkerung, der von ihm wußte, blieb dabei, er sei einfach für das Landesirrenhaus reif; und doch schlug die Stimmung mehr und mehr für ihn um. Und daran war dann wie gewöhnlich eine Minderzahl schuld, die meistens ihre Meinung nur so beiläufig über ihn aussprach, der er aber doch sehr im Kopfe herumgegangen sein mußte und auf deren Wort manche, ja viele etwas gaben. Als mir ein hoher Chef sagte: »Ein drolliger Patron; aber unter Umständen eigentlich zu beneiden und nachahmenswert!«, wußte ich, daß nicht nur völlige Billigung, sondern auch der Neid aus ihm redete und jedenfalls längere nachdenkliche Beschäftigung mit diesem Menschen, der »die thebaische Wüste in den Vogelsang übertragen zu wollen schien«. Letzteres Wort stammt jedoch nicht aus den juristischen Kreisen der Residenz, sondern aus den theologischen. Der augenblickliche junge Lieblingsprediger der Stadt (unverheiratet) sprach es. –

Zu Anfang März war alles vernichtet, woran für ihn und so sehr oft auch für mich eine Erinnerung gehaftet hatte, und was er nicht in anderer Leute Händen oder Besitz, sei es zu Nutzen oder Vergnügen, wissen wollte. An den Wänden deuteten auf abgeblaßten Tapeten dunklere Flecke an, wo Bilder gehangen hatten. Was die Bücherschränke und Regale anbetraf, so konnte es darin und darauf nicht öder aussehen als in eines andern, berühmteren Phantasiemenschen Studierstübchen, nachdem der Pfaffe, der Barbier, die Haushälterin und die Nichte dort Kehraus gemacht hatten. Der späte Enkel sehe sich in seinen eigenen vier Wänden um, denke sich alles fort, was in irgendeiner Weise was zu sagen, was vertraute und vertrauliche Form und Farbe für ihn hat, und erlasse es mir, von diesem Aufräumen malerisch weiterzuschreiben. Hat ihn sein Eigentum an und auf der Erde auch schon einmal in der rechten Art beängstet, so wird er auch wohl die richtige Art und Weise, den Kopf zu schütteln, herausfinden. Überhebung von gesichertem Besitz her und dürftiger Scherz aus momentanem Behagen wird kaum etwas damit zu tun haben. Aber er selber, Velten Andres, ließ dem Omnia-exeunt seiner Vogelsang-Tragödie sowohl nach griechischem wie nach englischem Muster noch ein Satyrspiel folgen, das ihn aber diesmal beinahe – nicht mit der Sanitätsbehörde, sondern wirklich mit der Polizei in Konflikt gebracht hätte.

Er lud den Vogelsang wie zur Plünderung eines abgerupften Weihnachtsbaums in sein Haus ein.

Er gab den noch vorhandenen alten guten Bekannten der Nachbarschaft alles das preis, was ohne eine Bedeutung für ihn war und erregte dadurch natürlich einen Zusammenlauf, der für einige Stunden den Verkehr in der Gasse beinahe völlig unterbrach.

Eingeladen hatte er mich nicht zu diesem letzten Kehraus; aber ich kam dazu, und zwar mit meiner Frau am Arm, von einem Nachmittagsspaziergang über den Osterberg.

»Was ist denn das da vor deines Freundes Hause, Mann?«

Sie hatte die ersten Anemonen und Leberblümchen da oben im Walde gefunden und gepflückt und drückte sich mit dem Frühlingsstrauß ängstlich an mich an:

»Siehst du's, da hat er es! Sie stürmen ihm das Haus! Was hat er nun wieder Neues – Schändliches angefangen – dein – Freund?«

Es sah in der Tat bedrohlich aus; und wir hatten Mühe, durch den menschenvollen Garten zu der Haustür zu gelangen, die er aus den Angeln hatte heben lassen und mit welcher auf der Schulter ein alter Holzknecht weiland Nachbar Hartlebens durch das Gewühl das Freie zu erreichen suchte. Nun fand es sich aber, daß es doch im ganzen lauter gute alte Bekannte und Freunde waren, die er sich aus den »letzten Gassen« und von den Zäunen des Vogelsangs mit dem Wort: »Seht zu, Kinder, was ihr von dem Kram gebrauchen könnt!« eingeladen hatte wie der König im Evangelium das Volk zu seinem Festmahl. Sie machten auch gern Platz, soviel es ihnen möglich war und zogen die Mützen, und einigen, denen ich zu hoch gestiegen war, als daß sie mir die Hand hätten reichen können, mußte ich sie hinhalten: »Na, alter Freund, das geht hier lustig zu!«

»Ja, sagen Sie mal, Herr Assessor! So was hat der Vogelsang gewiß noch nicht erlebt. Zu so was gehörte einzig und allein unsere selige Frau Doktern und unser Herr Velten, der Herr Sohn!« ...

Es ging freilich nicht bloß gierig, sondern auch lustig zu. Aus dem benachbarten Tivoligarten hatte das Getümmel nicht nur die Kellner und Kellnerinnen, sondern auch fast das gesamte Personal des eben dort vorhandenen »Théâtre-Variété« hergezogen, um sich »den Spaß anzusehen«. Miß Athleta, die stärkste Dame der Welt, und Signor Volcano, der Feuermensch, die »größte Sensationsnummer der Gegenwart«, John Arden, der Weltmeisterschaft-Springer, und die drei Schwestern Larsen, die internationalen Exzentrik-Sängerinnen, Fräulein Miranda, die Piston-Virtuosin, und Herr German Fell, von der Anthropologie genannt »das gefundene Mittelglied«, der unübertrefflichste Affendarsteller beider Hemisphären: sie waren alle wie von Velten Andres zu seinem Kehraus gerufen und traten mit den Geladenen aus dem alten Vogelsang die letzten Buchsbaumeinfassungen der »Rabatten« der Frau Doktern nieder und schienen von der neuzugezogenen, kopfschüttelnden Nachbarschaft und der verblüfften Polizei allein für die Sache das volle Verständnis mitgebracht zu haben.

Und Velten schien das auch zu wissen und behandelte sie als hochwillkommene Ehrengäste. Im Sturm der Plünderung behielt er Zeit für einen Händedruck mit dem von der Wissenschaft so lange und schmerzlich vermißten und endlich gefundenen Anthropomorphen mit nicht hervorstehendem Eckzahn, wie für einen Händedruck mit Miß Athleta, bei dem er aber schmerzzuckend das linke Bein hochzog und die Luft zischend zwischen seinen auf die Unterlippe gesetzten Zähnen durchblies.

Nimmer war mein Honoratiorentöchterlein, mein Weib, Schlappes Schwester, in so ausbündig zweifelhafte Gesellschaft geraten wie jetzt und hier. Immer ängstlicher drängte sich die liebe kleine Hand mit dem Schneeglöckchenstrauß vom Osterberg mir an, je weiter wir gegen die jetzt türlose Hauspforte vordrangen.

»O Gott, Mann!« flüsterte sie, als aus der Mitte der ihn lachend vertraulich umdrängenden Sisters Larsen, der drei internationalen Exzentrik-Sängerinnen, der Freund auch ihr lächelnd die Hand entgegenstreckte:

»Aber, gnädige Frau, wie freundlich von Ihnen! Doch weshalb so spät?«

»Der greuliche Mensch! Dachte er etwa auch, ich sollte ihm bei seinem letzten menschenfeindlichen Aufräumen helfen?« sagte meine arme Kleine auf dem Heimwege und nachher, trotz allem, noch öfter, wenn die Rede auf ihn kam. Augenblicklich stammelte sie nur:

»Wir kamen zufällig über den Osterberg, Herr Andres, und hier durch den Vogelsang.«

»O und wie Sie mir recht kommen, Frau Assessorn, gnädige Frau«, ächzte hinter uns eine halb durch Tränen, halb durch Lachen erstickte Weiberstimme. Eine harte, abgearbeitete Weiberfaust beförderte die größte Sensationsnummer der Gegenwart, den Feuermenschen Volcano, aus dem Wege, packte dann mich am Oberarm, schob uns, mein Weib und mich, gegen die Haustür der Frau Doktor Velten vor, und dann – auf den Sohn der besten Frau des Vogelsangs mit zitterndem Zeigefinger deutend, kreischte Riekchen Schellenbaum:

»Ja, Karl – Herr Assessor, wollte ich sagen; die ganze Stadt sollte man hierzu zusammenrufen! Ja, die Herrschaften kommen zur richtigen Stunde, um ihm, dem Herrn da, zu sagen, daß dies eine Sünde und Schande ist! Hier, der Frau Assessorin, Herr Velten, habe ich mein Elend ja wohl schon seit Monaten des Abends klagen dürfen; aber heute reicht das nicht mehr aus. Hier vor allen Leuten muß ich es ausrufen und ausschreien, was ich ausstehe und ausgestanden habe. Bin ich schon im Irrenhause, oder soll ich erst herein? O Gott, Herr Velten, wenn mich doch die selige Frau Mutter mit hinunter in ihr ruhiges Grab genommen hätte – zehntausendmal wäre mir das lieber gewesen, als wie daß ich diesen Winter durch das liebe Ihrige selber mit in meiner Schürze habe in den Ofen und auf den Küchenherd tragen müssen! Lieber Herr Assessor, Herzenskarlchen, ich habe ja auch zu Ihnen gehört und Sie auf den Armen getragen, und auch bei Ihren lieben Eltern bin ich ein und aus gegangen in guten Tagen und habe zugegriffen in bösen – Sie können es mir bezeugen, daß ich mich habe zusammennehmen können und ihm nicht die guten, lieben Sachen vor die Füße geschmissen habe und nicht die Schürze über den Kopf geschlagen habe und ihm nicht wie eine Verrückte aus dem Hause gelaufen bin! Nun gucke einer, wie mich das schwarze Mohrengesicht hier aus dem Tivoli angrinst! Nicht wahr, Herr Assessor, da von Spukmeyers seligem Grasgarten her und hier, wo ich auf Ihres Herrn Vaters Grundstücke als junges Kindsmädchen auch ihm das Laufen gelehrt habe, ihm, der sich jetzt diese Gesellschaft hergebeten hat, um sich mit anzusehen, wie er sein Vater- und Mutterhaus zu einer Brandstatt und Räuberhöhle macht. Da holt sich die lahme Brandten ihr ungesegnet Teil am Eigentum mit dem Waschfaß, in dem ich ihm seiner seligen Mutter Hemden gewaschen habe! Vor meinen Augen, als ob ich allein zu gar nichts gehörte und ich kein Herz im Leib hätte, was sich vor Wehmut und Gift umwenden könnte! Als ob ich allein in diesem Juchhe an meinen Tränen versticken müßte! Gehen Sie mal weg, Mamsell Luftspringersche, – da schleppt sich, wahrhaftigen Gottes, die Bande aus dem Hungerwinkel mit meinem – mit der seligen Frau Doktern Küchenschrank, als wenn ich nicht jetzt noch den Schlüssel dazu in der Tasche hätte! Nach dem soll mir aber wer kommen! Die guten Sachen! Und als ob man selber gar nicht vierzig Jahre lang damit hantiert hätte und sie kennte! – Alles wie vor die Hunde. Wer die besten Zähne hat, zuerst damit dran! – Oh, die Ruppsäcke! Wie beim Jüngsten Gericht! Jawohl, am Jüngsten-Gerichts-Tage, Herr Andres, da wird auch noch die Frau Mutter gegen Sie auferstehen und Ihnen sagen, daß dieses hier wirklich nicht in der Ordnung ist und nach Menschenordnung zugeht, nicht wahr, Herr Assessor, nicht wahr, Frau Assessern?«

Sie stand ihm jetzt dicht, Nase gegen Nase, gegenüber, dem Liebling des Vogelsangs, den sie voreinst auf den Armen getragen, dessen Mutter sie zu Tode gewartet hatte und der ihr nun solches antat. Giftig bohrten ihre Augen in seine ruhigen, freundlichen. Die Fäuste zitterten und zuckten ihr, wie vor dem Zuschlagen –

»Das ist nun leider so, Riekchen«, lächelte der Unmensch, »den Küchenschrank hat die Familie Steinbeiß aus dem Hungerwinkel, aber den Schlüssel hast du. Die Haustür hat auch schon einen Liebhaber gefunden; aber den Schlüssel dazu habe ich noch – es ist mein letztes von meinem Besitztum im Vogelsang. Willst du ihn?«


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