Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Wilhelm Raabe

Die Akten des Vogelsangs

(1893-95)

Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen,
sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.
   
Peter Schlemihl

An einem Novemberabend bekam ich (der Leutnant der Reserve liegt als längst abgetan bei den Papieren des deutschen Heerbanns), Oberregierungsrat Dr. jur. K. Krumhardt, unter meinen übrigen Postsachen folgenden Brief in einer schönen, festen Handschrift, von der man es kaum für möglich halten sollte, daß sie einem Weibe zugehöre.

»Lieber Karl!

Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er ist nun tot, und wir haben beide unsern Willen bekommen. – Er ist allein geblieben bis zuletzt, mit sich selber allein. Daß ich mich als seine Erbnehmerin aufgeworfen habe, kann er freilich nicht hindern; das liegt in meinem Willen, und aus dem heraus schreibe ich Dir heute und gebe Dir die Nachricht von seinem Tode und seinem Begräbnis. Dieser Brief gehört, meines Erachtens, zu der in seinen Angelegenheiten (wie lächerlich dieses Wort hier klingt!) noch nötigen Korrespondenz. Seinen Ton entschuldige. Es klingt hohl in dem Raume, in welchem ich schreibe: er hat die Leere um sich gelassen, und wie ein Kind nenne ich Dich, Karl, noch einmal Du und bei Deinem Taufnamen; es soll kein Griff in die Zukunft sein; es ist nichts als ein augenblickliches letztes Anklammern an etwas, was vor langen Jahren schön, lustig, freudenvoll und hoffnungsreich gewesen ist. Auch Deine liebe Gattin wird den Ton verzeihen, wenn sie auch gottlob nichts weiß von der Angst, die wir Weiber haben können in einem so leeren Raume. Ihre Angst im Dunkeln wird sie ja wohl auch schon gehabt haben in ihrem Leben.

Helene Trotzendorff als ein sich fürchtendes Kind? – Nein, doch nicht! – So ist es nicht! – Die wilde Törin möchte sich nur entschuldigen, daß sie Euch ruhigen Seelen durch ihre Nachricht den bürgerlichen und häuslichen Frieden stört. Von jetzt an, lieber Karl, gedenke meiner als einer mit dem Freunde zu den Toten Gegangenen; ich wollte, ich könnte sagen: in den Frieden.

Euer Freund Leon war sehr aufmerksam, doch Eure Frau Fechtmeisterin hat mir das Recht zuerkannt, das Begräbnis zu besorgen. Er, der Herr Kommerzienrat des Beaux, tut mir nur die nötigen Wege. Nun bin ich allein mit dem Freunde und freue mich über ihn und könnte ihm wieder wie unter den Holunderbüschen zwischen den Buchsbaumeinfassungen der Aurikelbeete unserer Kindheitsgärten oder auf unseren Bergen und Waldwiesen in den Haarbusch greifen und ihn Schelm nennen oder einen schlechten Menschen. Verdient hätte er das heute, wie vor Jahren. Er hatte in seinem Frieden noch denselben Zug um Nase und Mund wie vor Jahren, wenn er mich zu Tränen vor Ärger und Erboßung und Dich, guter alter Jugendkamerad, zu einem Zitat aus einem deutschen oder lateinischen Klassiker gebracht hatte.

Die Frau Fechtmeisterin hat das große, schlaue Kind wahrhaftig wie ein kleinstes, dummstes, hülfslosestes Kind besorgt und zu Tode gepflegt. Sie ist jetzt nahe an die neunzig Jahre alt und sagt: ›Daß ich das noch tun mußte, hat mich das ganze letzte halbe Jahr durch auf den Beinen erhalten; ich hatte es ihm ja aber auch so versprochen, wenn ich auch niemals geglaubt habe, daß mal ein Ernst aus seinem Spaß werden könne.‹ Sie konnte es nicht wissen, daß er immer Ernst aus dem Spaße machte! 

Wenn wir nun zusammensäßen, so könnte ich Dir wohl noch vieles sagen. Zu schreiben weiß ich nichts mehr; ich bin auch sehr müde.

Mit den besten Wünschen für Dich und Dein Haus

Helene Trotzendorff, Widow Mungo.«

»Was hältst du so den Kopf mit beiden Händen?« fragte mich recht spät am Abend meine Frau, nachdem die Kinder längst gekommen waren, um mir eine gute Nacht zu wünschen. »Hast du heute wieder mal kein Stündchen Zeit für uns übrig gehabt, armes Männchen? Großer Gott, diese Berge von Akten! Was haben wir denn eigentlich noch von dir?«

Sie lehnte sich bei diesen Worten über meine Stuhllehne und legte mir ihre kühle Hand auf die Stirn.

»Die bösen Akten sind es diesmal nicht, mein armes Weibchen. Es ist etwas viel Grimmigeres. Was erschrickst du denn? Dich und deine Kinder geht es nur recht mittelbar was an.«

Ich gab ihr den Brief der Witwe Mungo, der mich in dieser Nacht über die gewohnte Zeit hinaus von dem allabendlichen Plauderstündchen im Wohnzimmer ferngehalten hatte, und Anna nahm ihn, wenn nicht erschreckt, so doch sehr verwundert und gespannt, und sah natürlich zuerst nach der Unterschrift.

»Von Helene Trotzendorff?«

»Von der Witwe Mungo.«

Die Pfeife war mir längst ausgegangen; ich stand auf, um sie in einem Wirrwarr von Gedanken gedankenlos wieder anzuzünden, und ging nun in meiner Arbeitsstube auf und ab, während Anna an meinem Schreibtische in meinem Arbeitsstuhl Platz nahm und zwischen den freilich berghohen, ihr so ärgerlichen Aktenhaufen das liebe Gesicht über den unheimlich wunderlichen Brief aus Berlin beugte, um es sofort, jetzt doch im höchsten Grade erschreckt, wieder zu erheben und mir zuzuwenden.

»Velten tot? Unser – dein Freund Andres! – Und sie – Helene – die Witwe Mungo, allein bei ihm!«

Das Blatt zitterte in ihren Händen, als sie weiterlas; aber sie machte weiter keine Bemerkungen, bis sie fertig war, das Schreiben niederlegte, mit der Hand darüber strich, wie um es zu glätten.

»Aber das ist ja ein entsetzlicher Brief! In seiner Unverständlichkeit doch gar nicht so, wie ich sie mir nach deinen – euren Reden und Erzählungen vorgestellt habe, daß unsereine trotz ihres Erschreckens und Mitgefühls wieder mal nicht weiß, was sie dazu sagen soll. Velten Andres tot, und die amerikanische Talermillionärin jetzt als seine Totenwache, wie es scheint, in seiner leeren Dachstube. Was will sie denn jetzt da? Ganz dumm und irre wird man hierbei! Du lieber Gott, wie machen sich doch die Menschen aus puren Grillen das Leben schwer und das Sterben zu einem Komödienschluß! Ja, was siehst du mich an? Wenn es nicht so trauriger Ernst wäre, so möchte man wirklich sagen: aus seiner Rolle ist keiner von beiden gefallen. Und der gute Leon ist auch natürlich wieder da und steht dabei wie der brave Mensch im Hintergrund, der auf dem Theater immer dabei ist, wenn so eine Katastrophe eintritt, daß doch wenigstens einer als vernünftiger Teilnehmer den Kopf schüttelt. Aber freilich – du mußt und willst doch auch wohl als erster alter guter Freund und Bekannter von allen jetzt zu ihr nach Berlin?«

»Morgen – wenn es mir irgend möglich ist.« –

»Weshalb sollte dir das nicht möglich sein? In solchem Fall darf sich jeder Mensch seinen Urlaub selber geben. Ich für mein Teil werde morgen diesen unheimlichen Brief bei hellem Tageslicht lesen. Jetzt ist er mir wie ein Stein auf den Kopf gefallen, und ich gehe zu den Kindern. Die Mädchen sind eben aus dem Theater nach Hause gekommen. Das ist in diesem Augenblick meine einzige Rettung nach dieser Lektüre. Der Himmel bewahre sie uns vor zu viel Einbildungskraft und erhalte ihnen einen klaren Kopf und ein ruhiges Herz.«

»Ganz meine Meinung, liebe Anna«, seufzte ich, und dann ließ ich den Brief Helenens unter meinen Aktenhaufen, zog den Arm meines klugen, klaren und ruhigen Weibes unter den meinigen, und wir gingen zusammen zu den Kindern. – Das sind schon ziemlich erwachsene junge Leutchen mit wenn auch jungen, so doch eigenen Lebenserfahrungen und Interessen: von Velten Andres und Helene Trotzendorff wußten sie nichts, oder doch nur wenig. Und das wenige konnte jetzt bloß ein romantisches Interesse für sie haben. Mit den Akten des Vogelsangs hatten sie persönlich nichts mehr zu schaffen. Ob sie später einmal persönlichen Nutzen aus ihnen ziehen werden, wer kann das wissen?

Daß mein Vater nur auf das zu dem Landesorden hinzugestiftete Verdienstkreuz Erster Klasse und den Titel Rat die Anwartschaft besaß, sagt alles über unsere gesellschaftliche Stellung im deutschen Volk um die Zeit herum, da ich jung wurde in der Welt. In welchem juristischen Sonderfach er ein Beamteter war, ist wohl gleichgültig, daß er aber ein sehr tüchtiger Beamter war, haben alle seine Vorgesetzten anerkannt und viel häufiger von seinem Verständnis in den Geschäften Gebrauch gemacht, als sie ihren Vorgesetzten gegenüber laut werden ließen. Es handelte sich in seinem Amt viel um Zahlen, und er hatte einen hervorragenden Zahlensinn, womit, beiläufig gesagt, meistens auch ein entsprechender Ordnungssinn verbunden ist. Beides gab ihm eine Stellung in unserer heimischen Bürokratie, die für unser häusliches Behagen nicht immer von dem besten Einfluß war; denn die Vorstellung, nicht studiert und es dadurch zu etwas Besserm gebracht zu haben, verbitterte nur zu häufig nicht nur ihm, sondern auch uns, das heißt meiner Mutter und mir, das Leben.

Ich habe übrigens in meiner heutigen oberregierungsrätlichen Stellung dergleichen wackere Herren gleichfalls gottlob unter mir und hole mir nicht selten für meinen Amtsberuf nicht nur Aufklärung, sondern auch Rat von ihnen. Das Bild meines seligen Vaters aber, mit dem zu dem Landesorden hinzugestifteten Verdienstkreuz Erster Klasse auf der Brust, habe ich in Lebensgröße (nach seinem Tode nach einer guten Photographie gefertigt) über meinem Schreibtische hängen und hole mir auch von ihm heute noch Aufklärung und Rat, und nicht bloß in meinen Geschäften, sondern im Leben überhaupt.

Meine Mutter war eine Frau, deren höchste Lebenswünsche und Ansprüche durch den Titel Rätin ganz und gar erfüllt wurden. Sie war eine gute Mutter und die beste der Gattinnen, wenn das letztere vom vollständigen Aufgehen in den Ansichten, Meinungen, Worten und Werken des Gatten abhängig ist. Sie fühlte sich wohl in der Zucht, in welcher er sie und sein Haus hielt, und ich glaube nicht, daß sie je einen andern Willen haben konnte als den seinigen.

Geschwister habe ich nicht gehabt, wenigstens nicht solche, die so lange geatmet hätten, um von Einfluß auf mein Leben zu werden. Den Ersatz hierfür lieferte die Nachbarschaft, und zwar in ergiebigster Weise, und davon handelt denn auch, um es hier schon kurz zu sagen, die Akte, die ich jetzt anlege. Wem zum Besten, wer mag das sagen? Jedenfalls mir zu eigenster Seelenerleichterung und aus tiefgefühltem Bedürfnis nach einem, nach etwas, das einen ruhig anhört, aussprechen läßt und nicht eher dazu redet, bis das Ganze vorliegt. Daß es nicht eine Personalakte in der wirklichsten Bedeutung dieses Wortes ist, nimmt in meinen Augen den Aufzeichnungen nichts von ihrem Wert. –


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