Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
Wilhelm Raabe

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Er ist noch oft dort erklungen. Er wurde ein sehr vertrauter Klang da.

»Siehst du, Karl, man findet überall die Leute, zu denen man paßt. Wie wir hier zusammenhocken, wir vier jetzt, ist das nicht grade dasselbe, wie damals, als wir drei aus dem Vogelsang auf dem Osterberge im Wald lagen und das niedliche Residenznest unter uns hatten? Haben wir heute abend nicht ebenso dies Berlin unter uns? Nur immer über den Dingen bleiben und möglichst wenig von ihnen haben wollen! Fragen Sie nur den Kandidaten beider Rechte hier, Fräulein Leonie. Der steht vor dem Referendarexamen und beantwortet Ihnen jegliche Frage aus und über Banausien mit Eins A. Leon, Sie sind und bleiben ein Riese, und wenn Sie mich noch so schafsmäßig anstarren. Was sagen Sie übrigens zu dem letzten New Yorker Briefe meiner Kleinen, Fräulein Leonie? Das arme Wurm scheinen sie drüben schon sauber eingeseift zu haben; ich wollte, ich hätte sie heute abend auch hier bei uns, um ihr den Kopf zurechtzusetzen. Und Sie würden mir dabei helfen, nicht wahr, Fräulein Leonie?«

»Sie hat Ihnen einen sehr hübschen Brief geschrieben, Herr Andres«, sagte Leonie des Beaux leise. »Sie scheint in einem großen Leben zu leben und gibt sich doch alle Mühe, treue – Freundschaft zu halten mit – mit –«

»Dem Vogelsang, dem Osterberge, kurz, der deutschen Kinderstube«, lachte Velten. »Das wollte ich ihr aber auch geraten haben«, setzte er ein wenig mit den Zähnen auf der Unterlippe hinzu, und dann kaum hörbar für sich: »Sie weiß es ja aber auch, daß ich sie ihr ganzes Leben lang nicht loslasse.«

Leonie hatte das letzte Wort aber doch gehört: »Gibt es solch einen festen Griff auf dieser Erde?«

»'Was man will, kann man durchsetzen', meinte unser alter Oberlehrer Doktor Langemann auf unserm Gymnasium zu Hause. Fragen Sie nur Krumhardt, Fräulein, der hat sich in seiner Lebensauffassung auch nach dem Wort gerichtet und geht als Sieger zu den Toten.«

»Rede kein Blech, Velten!«

»Ich bin niemals mehr gediegenes Erz gewesen als an diesem Abend und unterm Auge des alten Hugenottenpastors und des jungen Albigenserritters da an der Wand. Die haben sie vielleicht ihrerzeit lebendig gebraten, aber haben die zwei nicht noch heute ihre Faust am Kragen hier meines intimen Freundes, Monsieur Leon des Beaux aus Albi? Übrigens haben wir, Lenchen und ich, schon lange vor Ihrer Frage, Fräulein Leonie, eine Wette auf dem Osterberge draufhin gemacht, wer von uns beiden den festesten Griff habe und den andern zu sich holen werde. Selbstverständlich und naturgemäß hat sie gegenwärtig die obere Hand, und ich werde es meiner Alten zu Hause nicht ersparen können: ich muß hinüber zu ihr nach Amerika.« – –

Es ist unaktenmäßig in den Akten: wir haben damals solche Unterhaltungen geführt in Leons und Leonies romantischem Zauberstübchen in der Stadt Berlin. Und es sind auch solche Briefe, von denen Velten Andres redete, – Briefe, die Helene Trotzendorff hinter dem Rücken von Vater und Mutter geschrieben hatte, dort von Hand zu Hand gegangen. Wie sehr erwachsene, verständige, vernünftige Leute wir draußen in den Gassen der Reichshauptstadt sein mochten, in Leonie des Beaux' Reiche waren wir noch dergestalt unmündig Volk, daß wir die höchsten Ehrenstellen und Sitze im Kinderhimmel des Evangeliums hätten in Anspruch nehmen dürfen. Und wir wußten es natürlich nicht und hielten uns im Gegenteil für außerordentlich weltklug, Fräulein Leonie vielleicht ausgenommen.

Die achtete mit immer größeren, schärferen und – ängstlicheren Augen auf den neuen Freund ihres Bruders, auf den närrischen Velten Andres. Daß es mir freilich damals aufgefallen wäre, kann ich nicht sagen: ich kann es eben nicht genug wiederholen, daß das meiste aus dieser Vergangenheit mir selber erst klar und deutlich wird und einen logischen Zusammenhang gewinnt, wie ich diese Blätter beschreibe und – paginiere.

Ob er, der Junge aus dem Vogelsang, je in seinem Leben einen Begriff davon bekommen hat, was diese großen, anfangs so freudigen, dann mehr und mehr ernsten, traurigen Augen für ihn bedeuteten, weiß ich nicht. Wie viele treu besorgte Blicke aus lieben Augen gehen einem verloren, während man auf das Zwinkern, das Schielen und Blinzeln der Welt rundum nur zu genau achtet und sich sein Teil Ärger, Kummer, Sorgen, Verdruß und Verzweiflung draus holt!

Seltsamerweise hatte Leonie des Beaux das größeste Vertrauen zu mir, und durch mich wußte sie allgemach ebensogut als ich, wie es im Vogelsang aussah, oder vielmehr (schon damals) ausgesehen hatte. Sie kannte nicht bloß die Familie Krumhardt, Vater, Mutter und Sohn, sondern sie kannte auch den alten Hartleben und Mistreß Trotzendorff – letztere in ihrer Verdunkelung wie im blendendsten Glanze. Sie hatte an jeder grünen Hecke mitgelehnt, in jeder Gartenlaube mitgesessen; sie kannte den Osterberg und die zierlichen Promenadenwege und Bänke am Rande des Waldes und die Aussicht auf die kleine, zierliche Residenz drunten im Tal. Wovon sie aber am genauesten Bescheid wußte, das war - seine Mutter, die Frau Doktorin Andres und ihr Häuschen – neben uns an, hinter dem nächsten nachbarschaftlichen, lebendigen Liguster-, Stachel- und Johannisbeerzaun zwischen Mein und Dein im Hypothekenbuch. Ja, wie ich das jetzt schreibe, erfahre ich es erst, wie gut sie bei seiner Mutter Bescheid wußte – damals – und wie sie vom Keller bis zum Dache sich in dem kleinen Hause unter dem Osterberge zurechtgefunden haben würde, wenn man ihr den Türgriff in die Hand gegeben hätte. Ach, wie häufig geschieht das, daß wir seufzen: »Ja, wenn das und das gewesen wäre, so hätte sich alles so leicht zum Bessern – zum Besten wenden können! Es war ja so einfach, es lag ja so vor der Hand! Man brauchte in der und der Stunde, in dem und dem Augenblick nur zuzugreifen, um das Richtige für einen ganzen langen guten, glückseligen Lebensweg zu treffen. Eine Wendung von der Rechten nach der Linken, oder umgekehrt, genügte vollständig, wenn wir nicht so blind, so dumm gewesen wären!« – Was wissen wir aber eigentlich hierüber? – – – – – – – –

Das Verhältnis zwischen Velten und Leon, dem besten, klarsten Kopfe des Vogelsangs und dem besten, harmlosesten und verworrensten der Stadt Berlin, vertiefte sich ebenfalls immer mehr. Für dieses weiß ich kein edleres und schöneres Gleichnis als das sehr edle und sehr schöne: die Freundschaft zwischen einem lieben, klugen, bis in den Tod und das Lächerlichwerden getreuen Hunde und seinem Herrn, Eigentümer und – besten Freunde. Damals!

In Velten Andres hatte der arme, glückliche, reiche Haussohn aus dem Schneiderladen alles gefunden, was er bis dahin in Berlin und der weiten Welt außerhalb des Familienzauberturms vergeblich gesucht hatte – einen von der allgemeinen Heerstraße gleich ihm verlaufenen Genossen, der in der rechten Weise über ihn lachte und ihm mit jedem Lachen und Lächeln und durch jeden kameradschaftlichen Schlag auf die Schulter, jedes Zupfen am Ohr das Herz mit in seine Höhe hinaufnahm. Nein, das Herz nicht; nur den Kopf. –

Kein Hund und keine Liebende konnten um diese Lebensstunde auf den Geliebten, den Herrn und den Freund genauer achtgeben, besorgt-freudiger auf jedes Wort, jeden Wink, jede Bewegung beim stillen Nebeneinander und im menschenvollen Gesellschaftszimmer, kurz, bei jeder Lebenskomödienszene passen als Leon und Leonie des Beaux auf alles, was Velten Andres sagte und tat oder – nicht sagte und nicht tat. Daß er das so deutlich wußte wie ich, glaube ich nicht: sein späterer Lebensweg spricht dagegen. Er war es eben zu sehr gewohnt, daß die Leute ihm nachsahen und er nicht über sie hinweg, sondern durch sie durch in seine Welt hinein auf seine Weise, die nur sehr selten mit der – unsrigen übereinstimmte. Mit der unsrigen! Denn wie oft habe ich schon zu Hause, im Vogelsang, den Vernünftigen dort recht geben müssen, wenn sie meinten: »Der Junge ist rein verrückt!« –

Es war ein wunderlich behagliches Leben dort bei der Frau Fechtmeisterin Feucht in Veltens erstem Studentenstübchen und in des alten deutsch-französischen Schneidermeisters und seiner Kinder Zaubererinnerungsraum. Von außen sah man es dem Hause in der Dorotheenstraße wahrhaftig nicht an, was es in seinem innersten Innern barg. Daß ich, ein deutscher Studiosus der Jurisprudenz, nach Berlin gekommen sei, um mich in meiner Wissenschaft daselbst noch mehr zu vervollkommnen, ging mir von Tag zu Tage mehr aus dem Begriff verloren. In dieser Beziehung war es ein Glück zu nennen, daß mein Aufenthalt mir nur kurz von meinem Vater bemessen worden war. Die einzige, der ich zu Hause dieses Semester hätte begreiflich machen können, war die Frau Doktorin Andres. Die aber wußte natürlich schon sehr Bescheid, wies auf einen Haufen Briefe aus der Reichshauptstadt und lächelte trübe:

»Ja, ich weiß schon. Daß sich das Kind drüben in Amerika wieder zu den Seinen finden würde, wußte ich.«

Mit einem leisen Seufzer und seinem Blick über die nächste Nähe fügte sie hinzu und glaubte fest an ihr eigen Wort:

»Du kennst ihn ja, lieber Karl, und weißt, wie wenig Einfluß ich von jeher auf ihn gehabt habe.«

So reden die Weiber, wie sie das Glück und das Elend, das Beste und das Schlimmste auf diesem Erdball weitergeben! –


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