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III. Der Spieltrieb (Betätigungsdrang).

Unter Spiel kann man Verschiedenes verstehen. Einmal jede Betätigung, die sich keinen Zweck setzt, sondern sich selbst genug ist. Oder aber eine Betätigung, die zwar nach Regeln verläuft, aber keinen praktischen Zweck erfüllt, außer der »Unterhaltung«, dem »Zeitvertreib«, oder genauer, dem »Lustgewinn«, der darin liegt. Diese zweite Bedeutung ist gegenwärtig gebräuchlicher. Daher wird man, um die erste mitzutreffen, besser als von Spieltrieb von Betätigungsdrang reden, womit über die Art der Betätigung noch gar nichts ausgesagt ist. In der Körperbewegung zuerst erscheint dieser Betätigungsdrang. Wir sehen in ihr das einfachste Anzeichen animalischer Lebendigkeit. Ohne auf das Spielen der Tiere und die Theorien über den Sinn dieser Spiele einzugehen, wenden wir uns sogleich zur spielerischen Betätigung beim Menschen. Wir wissen, sie ist ein spezifisches Merkmal des kindlichen Lebens. Sie verschwindet dagegen aus den Gewohnheiten des erwachsenen Menschen, je mehr er sich einer Lebensaufgabe hingibt, d. h. sein Handeln Zielvorstellungen unterordnet. Uns geht aber hier nur die Frage an, welche Rolle eigentlich der spielerischen Haltung, allgemein gesagt, bei Gestaltungsvorgängen aller Art zukommt. Es braucht kaum versichert zu werden, daß wir dabei keineswegs den Gegensatz von Spiel und Ernst im Sinne haben, sondern vielmehr den von zweckfreier Betätigung einerseits, bei der jedoch auch im Einfall des Augenblicks die Resonanz der gesamten Persönlichkeit mitschwingt, und die immerhin überleitet zur Intuition – und andererseits zweckhaft gerichteter Betätigung. Ein Gegensatz also, der jenem anderen zwischen der Ausdruckssphäre und der Sphäre meßbarer Tatsachen ganz parallel läuft. Und in der Tat sind nun alle Vorgänge im Bereiche spielerischer zweckfreier Betätigung nur als Ausdrucksbewegungen aufzufassen und nur als solche in ihrer vitalen Bedeutung zu würdigen. Die in diesem Kapitel herangezogenen Beispiele solcher zweckfreien Betätigung haben sämtlich engste Beziehung zu den Grundproblemen der Gestaltung. Man wird also den Schlüssel zu allem folgenden nur dann besitzen, wenn durch diese Beispiele klar geworden ist, wie weit diese zweckfreie, rational nicht erfaßbare spielerische Einstellung in die kompliziertesten Kunstschöpfungen hineinragt. Aus diesem Grunde wurde das Ausdeuten unbestimmter Formen hier mitabgehandelt, obwohl diese Vermengung methodisch anfechtbar ist.

Aus dem Bereich spielerischer Betätigung, soweit sie sich auf anschauliche Gestaltung richtet, kennt jedermann einige einfache Arten des Formens. Z. B. das Kritzeln aus Langeweile beim Anhören von Vorträgen, in Sitzungen und in jedem Zustande von Ermüdung, von Nachlassen der Aktivität und Aufmerksamkeit. Doch ist dieses Kritzeln nicht etwa auf diesen Zustand des erschlafften Lebensgefühls beschränkt, sondern auch die erregte Spannung, die sich ablenken möchte, führt dazu. Die Kritzeleien auf Telephonblocks sind wohl mehr hierher zu rechnen. Das Wesen dieser Produkte liegt darin, daß Zielvorstellungen, sei es rationaler, sei es formaler Art, völlig fehlen. Dennoch ist die Bewegung der Hand nicht ganz automatisch, jeder Führung entrückt. Sondern nur der einzelne Strich entspringt einem blinden Impulse, während die Verbindung der Einzelheiten von dem noch so nachlässig überwachenden Urheber gelenkt wird. Dabei ist meist eine Tendenz zu Wiederholungen und zu symmetrischen oder konzentrischen Formen vorhanden. Durchweg produziert jede Persönlichkeit einen Umkreis typischer Formen, so daß der Kundige leicht noch an dem Niederschlag spielerischer Bewegungen den Urheber erkennt: es sind Ausdrucksbewegungen.

Das Beschmieren der Wände, das Kinder und auch Erwachsene zum Ärger ordnungsliebender Mitmenschen so gern vollführen, entspringt ebenfalls in der Hauptsache einem spielerischen Betätigungsdrange. Was an bestimmten Vorstellungen dabei mitgerissen wird, sei es durch Milieuwirkung (Abort), sei es durch affektiv betonte Erlebnisse, ist wohl sekundär. Natürlich wäre es müßig, hier Grenzen zu ziehen. Auch der Übergang zum Mitteilungsbedürfnis ist gleitend. Über das spielerische Zeichnen der Kinder ist verhältnismäßig wenig mitgeteilt worden, da die Erwachsenen erst aufzumerken pflegen, wenn das Kind, gewiß unter ihrer Suggestion, seine Kritzeleien als reale Objekte deutet. Vermeidet man jeglichen Einfluß in dieser Richtung, so zeichnet das Kind, wie wir in einem Falle sicher beobachten konnten, bis über das vierte Jahr hinaus, rein aus Betätigungsdrang, ohne etwas damit zu meinen Vgl. Krötzsch (Anm. 8), S. 17.. Das Brotkneten, das in den Heilanstalten zeitweise eine große Rolle spielte, und ganze »Museen« zur Folge hatte, ist aus dem täglichen Leben wohl jedermann bekannt, oder war es wenigstens früher. Es handelt sich um jenes achtlose Spielen mit Brotresten während des Essens, wobei zunächst ohne bewußte Leitung des Vorgangs allerlei kleine Figuren entstehen, die dann gedeutet und weiter geformt werden.

Von den spielerischen Betätigungen der Naturvölker ist vor allem ein Vorgang ziemlich einwandfrei beschrieben: ein Teil der südamerikanischen Felszeichnungen findet sich an Stromschnellen, wo die Bootfahrer zu rasten pflegen. Diese »Zeichnungen« bestehen eigentlich aus Rillen, die ziemlich tief in den Felsen gekratzt sind und teils geometrische Figuren, teils menschliche Gestalten nach Art von Streichholzmännchen darstellen. Man fand nun, daß der Ausgangspunkt solcher Zeichnungen jene Rille war, die das Seil, das zum Heraufziehen des Bootes diente, in den Felsen gerieben hatte. Ob die Erkundigungen über magische Bedeutung dieser Bildwerke wirklich alle Möglichkeiten erschöpft haben, läßt sich natürlich nicht beurteilen. Die Entstehung der Bilder wird übereinstimmend so beschrieben Vgl. Koch-Grünberg: »Südamerikanische Felszeichnungen«, Berlin 1907. Ferner derselbe: »Anfänge der Kunst im Urwald«, Berlin 1906 und »Zwei Jahre unter den Indianern«, Berlin 1909..

Gemeinsam ist diesen verschiedenartigen bildnerischen Betätigungen, für die sich leicht noch andere Beispiele anführen ließen, daß weder ein praktischer Zweck noch ein Sinn darin primär enthalten ist. Es hieße jedoch die theoretische Aufspaltung vielfältig verwickelter Tätigkeiten zu weit treiben, wenn man diesen einen Zug als allein wesentlich darstellen wollte. In Wirklichkeit mischt sich sogleich eine andere Tendenz den spielerischen Kritzeleien u. dgl. bei: jede noch so unbestimmte und von Abbildungscharakter freie Form fordert zur Deutung heraus. Mag diese Forderung auch mit verschiedenem Nachdruck sich beim Betrachter und beim Zeichner selbst, beim Kind und beim Erwachsenen, beim künstlerisch Veranlagten und wissenschaftlich Denkenden geltend machen – sie gehört zweifellos zu den Grundphänomenen, die schon bei solcher spielerischen Betätigung wirksam sind. Sehr einleuchtend erscheint der Deutungsdrang bei dem letzten Beispiel, den Felsritzungen an Stromschnellen, wo eben die bei praktischen Bemühungen entstandene Kurve als Teil einer Figur gedeutet und ergänzt wird. Aber der Geltungsbereich solches spielerischen Ausdeutens läßt sich leicht auch an anderen Beispielen veranschaulichen, die nicht an Betätigungen anschließen, sondern an die Wahrnehmung ruhender Außenweltdinge. In primitiven Kunstwerken zumal finden wir häufig noch die Spuren der ursprünglich vorhandenen Naturformen, die wohl zu spielerischer Betätigung herausforderten. So vor allem sind manche der berühmten steinzeitlichen Tierdarstellungen an den Wänden spanischer Höhlen sichtlich angeregt durch Vorwölbungen des Felsens, die nun mit Hilfe von Einritzungen und Farbstrichen zu jenen frühesten überaus lebensvollen Bildwerken von Menschenhand geworden sind. Auch unter jenen Grabmälern der jüngeren Steinzeit, die als Menhirs bekannt sind, finden sich öfters solche, bei denen die naturgegebene Form nur ausdeutend verstärkt wurde zu einem menschenähnlichen Bild. Die Frage der symbolischen Bedeutung solcher Bildwerke wird durch den Hinweis auf diese Gestaltungskomponente nicht berührt.

Ein ganzer volkstümlicher Kunstzweig entwickelte sich aus solchem Deutungsdrange in China. Jedes ethnologische Museum enthält einige Exemplare jener vielfach gewulsteten Wurzelknorren (meist der Teestaude), aus denen durch oft nur geringfügige Bearbeitung mit dem Schnitzmesser äußerst groteske, phantastische Menschen- und Tiergestalten geworden sind. Auch bei uns begegnet man solchen Gebilden gelegentlich im Umkreis volkstümlicher Kunstfertigkeit Im Felde stand die Fertigkeit, die Wurzelknollen dünner Stämme, die sich zu Spazierstöcken eigneten, durch leichte Bearbeitung zu phantastischen Gebilden auszugestalten, hoch im Kurse. Und es fanden sich recht viele Männer aus verschiedenen Berufen, die anderen Freude und sich kleine Sondereinnahmen damit bereiteten. Auch bei zahlreichen Primitiven gibt es Beispiele dafür. Und ein gebildeter Großstädter hat sogar eine ganze Sammlung solcher selbstverfertigter Wurzelwerke veröffentlicht: Strauch: Wurzelplastik. Eßlingen. 1920.. – Dasselbe Spiel, das hier zu dauernden Gestalten geführt hat, kennen wir alle, zumal von schönen Sommerabenden, wenn die langsam gleitenden Wolken uns, fast ohne unser Zutun, eine reiche Fülle von bald lebensnahen, bald verstiegen phantastischen Gestalten – bescheren, möchte man fast sagen, so gering wird das Tätigkeitsgefühl, sobald man sich diesem Deutungsspiel hingibt. Wir wissen von Goethe, wieviel Sinn er für dieses freie Formspiel hatte. In dem Gedichte »Howards Ehrengedächtnis« heißt es:

Da staunen wir und trau'n dem Auge kaum;
Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft,
Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft;
Da droht ein Leu, dort wogt ein Elephant,
Kameles Hals, zum Drachen umgewandt,
Ein Heer zieht an, doch triumphiert es nicht,
Da es die Macht am steilen Felsen bricht;
Der treuste Wolkenbote selbst zerstiebt –

Weniger »naturgegeben« ist eine andere Gruppe von Gesichtseindrücken, die uns zum Hineinsehen von Gesichtern und Gestalten anzuregen pflegt, zumal wenn eine unbestimmte Beleuchtung die nüchtern objektive Auffassung der Situation erschwert. Jede mit Mörtel beworfene Wand, von der Teile abbröckeln, jede Tapete mit unbestimmten Mustern, jede Holzwand, schließlich jede Fläche, die durch Unebenheiten oder Flecken »belebt« ist, wie wir gelegentlich zu sagen pflegen, bietet sich spielerischer Ausdeutung dar oder drängt sich gar auf. Joh. Müller Joh. Müller (der Physiologe) hat seine Beobachtungen niedergelegt in der Schrift: »Über die phantastischen Gesichtserscheinungen«, Koblenz 1826. Ausführliche Zitate in Jaspers: »Allgemeine Psychopathologie«. 2. Aufl. S. 41 u. 43. nennt diese Anlage Plastizität der Phantasie und schildert sehr anschaulich, wieviel Freude er schon als Kind daran gehabt hat. Außer der die Suggestion erleichternden Dämmerbeleuchtung spielt dabei natürlich die persönliche Veranlagung des Betrachters die wichtigste Rolle. Daß Kinder in den Speiseresten auf ihrem Teller alles mögliche Getier erblicken, und nicht minder an jedem Holzstück eine ausreichende reale Grundlage für Pferd und Puppe finden, mit denen sie eben zu spielen gedenken, ist bekannt. Empfänglicher für das in Rede stehende Phänomen sind ferner Menschen, die gewohnt sind, »künstlerisch« zu sehen, Frauen mehr als Männer, allgemein suggestible und phantastische Personen mehr, als sachlich nüchterne. Schließlich darf die öfters gemachte Beobachtung herangezogen werden, daß man in der Ermüdung geneigter ist, die reale Form nur als Anregung zu spielerischem Ausdeuten zu nehmen. Was aus Tapetenmustern vor dem Einschlafen oder gar im Fieber werden kann, weiß mancher aus Erfahrung. Mit Umsicht eingeleitet wird solche Formdeuterei bei den zeitweise beliebten Klexographien. Die wolkigen Gebilde, die der Tintenabklatsch darbietet, sind freilich ganz besonders ergiebig für Gestaltsanregungen. Mancher abseitige Eigenbrödler hat mit dieser Beschäftigung seine stillen Stunden erfüllt. Am bekanntesten ist die Serie von Klexographien geworden, die Justinus Kerner herstellte und mit Gedichten begleitete, in denen er die grotesken Motive dieser »Bildwerke« nochmals freispielend weiter ausdeutete. Die Bereitschaft zu solchem Spiel ist nach dieser oberflächlichen Umschau offenbar abhängig von der allgemeinen Stellung des Menschen zur Umwelt. Denn jene Gruppen von Menschen, die wir besonders veranlagt dazu fanden, stimmen dann überein, daß ihr affektives Verhältnis zur Außenwelt stärker ist, als ihr objektiv erkennendes. Dem entspricht, daß alle diese Ausdeutungserlebnisse schon normalpsychologisch sehr leicht etwas vom Charakter des Unheimlichen haben.

Die Beziehungen aller derartigen freien Formspiele zu dem Gestaltungsvorgang im Bereich der großen Kunst sind viel enger, als es zunächst scheinen mag. Sie beschränken sich keineswegs auf den nächsten Umkreis kindlichen oder primitiven Gestaltens, sondern wirken höchst lebendig, zumal in aller nicht rein abbildenden Malerei. Lionardo, der aus der Malerei eine Wissenschaft zu machen trachtete, war doch weitschauend genug, auch diese spielerische Komponente, die seinen Grundsätzen durchaus nicht entsprach, vollauf zu würdigen und ihre Anwendung sogar zu empfehlen. Er spricht Lionardo da Vinci: »Das Buch von der Malerei«. Ausg. v. H. Ludwig, Wien 1882. Teil II, Abschn. 60 und 66. Vgl. auch die Stelle aus Kellers »Grünem Heinrich«, Anm. 43. von einer »neuerfundenen Art des Schauens, die sich zwar klein und fast lächerlich ausnehmen mag«, aber doch den »Geist zu Erfindungen weckt«. »Sie besteht darin, daß du auf manche Mauern hinsiehst, die mit allerlei Flecken bekleckt sind, oder auf Gestein von verschiedenem Gemisch,« oder »in die Asche im Feuer, in die Wolken, oder in Schlamm – wenn du sie recht betrachtest, wirst du sehr wunderbare Erfindungen in ihnen entdecken – Kompositionen von Schlachten, von Tier und Menschen – von ungeheuerlichen Dingen, wie Teufeln, verschiedenartigen Landschaften, geschmückt mit Gebirgen, Flüssen, Felsen, Bäumen, großen Ebenen, Tal und Hügeln – lebhafte Stellungen, sonderbar fremdartiger Figuren, Gesichtsmienen, Trachten und unzählige Dinge, die du in vollkommene Form bringen magst«. – »Durch verworrene und unbestimmte Dinge wird nämlich der Geist zu neuen Erfindungen wach. Sorge aber vorher, daß du alle die Gliedmaßen der Dinge, die du vorstellen willst, gut zu machen verstehst.« Botticelli aber wirft er vor, er treibe Mißbrauch mit solchen Anregungen und meine, »dies Studium sei eitel, denn wenn man nur einen Schwamm voll verschiedenerlei Farben gegen die Wand werfe, so hinterlasse dieser einen Fleck auf der Mauer, in dem man eine schöne Landschaft erblicke. Es ist wohl wahr, daß man in einem solchen Fleck mancherlei Erfindungen sieht – und es ist gerade, wie beim Klang der Glocken, in den kannst du auch Worte hineinlegen, wie es dir gefällt. Aber obschon dir solche Flecken Erfindungen geben, so lehren sie doch nicht irgendeinen besonderen Teil zu vollenden. Und jener Maler malte sehr traurige Landschaften.«

In den pädagogischen Bemühungen der Maler, die sich über die Grundlagen ihrer Kunst Gedanken machen, tauchen solche Probleme immer wieder auf. Am folgerichtigsten bei Adolf Hölzel, der jetzt schon durch drei Wellen verschieden gerichteter künstlerischer Tendenzen als Lehrender gegangen ist und immer wieder junge, aufstrebende Begabungen an sich fesselt. Diese Anziehungskraft beruht offenbar darauf, daß er eben den Wurzeln des Gestaltungsprozesses immer nahe ist und nie doktrinär erstarrt. So gab es für ihn eine Entwicklungsphase, in der er konsequent erprobte, was aus zweckfreier Betätigung und nachfolgendem Ausdeuten entstünde. Diese Bemühungen führen so tief in den Gestaltungsprozeß ein, daß es sich lohnt, sie hier kurz zu skizzieren. Wir werden später noch mehrfach darauf zurückgreifen müssen.

Wenn man mit abgewandtem Blick auf einem Blatt Papier mit dem Stift wahllos Kritzeleien ausführt und dabei möglichst die ganze Fläche mit einem Liniengewirr von verschieden starken und verschieden ausladenden Kurven bedeckt, nunmehr erst hinblickend sich zu irgendeiner Komposition, sei es Figur oder Landschaft, anregen läßt, und diese Komposition durch einige hineingesetzte Konturen kenntlich macht, so entsteht eine Zeichnung, die weit mehr, als eine aus Detail zusammengesetzte ähnliche Skizze, den Charakter des einheitlichen Bildwerkes trägt. Jeder mäßig Begabte kann sich durch Versuche von dieser Tatsache überzeugen. Hölzels theoretische Meinung geht gewiß mit Recht dahin, die »Mittel« des Künstlers (nämlich die Grundmittel: Linie, Form, Farbe) »könnten« an sich etwas, d. h. es wohne ihnen, sobald sie in irgendeiner Kombination vorlägen, und ausdeutend – nämlich auf Bildzusammenhang hin – angeschaut würden, eine gewisse potentielle Energie inne. Man kann diese Betrachtungsweise leicht als eine etwas phantastische Mythologie der künstlerischen Mittel bezeichnen, die mit billigen Personifizierungen arbeite, aber es steckt eine tiefe Erkenntnis darin, die besser in die zentralen Gestaltungsvorgänge einführt, als begriffliche Deduktionen.

Die Gestaltungskomponente, die in solchen Versuchen sozusagen in Reinkultur gezüchtet wird, ist bei den verschiedenartigen Produktionsweisen der Künstler durchweg beteiligt, wenn auch in sehr verschiedenem Grade. Das hängt von anderen Faktoren ab: der persönlichen Veranlagung, der Wirkungsbreite des rationalen Überbaues (Schulung, Zwecksetzung), technischen Besonderheiten. So zwingt etwa die Aquarelltechnik, bei der die Farben ständig naß ineinanderfließen, von einem Augenblick zum anderen mit großer Geistesgegenwart zufällig entstehende Nuancen auszunutzen, und gibt dabei Gelegenheit, eine unerwartet eintretende günstige Konstellation so stehen zu lassen, wie sie entstanden ist, vielleicht gar das ganze Bild auf dieses Zufallsdetail hin abzustimmen. Ein ähnliches Improvisationsspiel treiben viele Graphiker, indem sie den Grund ihrer Kupferplatte beim Ätzen für Augenblicke dem Zufall überliefern und das Resultat verwerten, oder indem sie die Maserung ihres Holzstocks für den Druck stehen lassen. Dies führt hinüber zu dem Zwang des gegebenen Marmorblocks. Man weiß von Michelangelo, daß er sich von einem solchen Block anregen ließ, eine Figur hineinzudeuten, und man findet diese Entstehungsgeschichte bei zahlreichen anderen Plastiken belegt. So ist es noch in frischer Erinnerung, wie bei der Diskussion über jene Marmorgruppe Max Klingers, die er »das Drama« nannte, dieser Zwang des gegebenen Blockes hineinspielte, ohne doch seinem wahren Gewichte nach gewertet zu werden. Denn zweifellos rührt in jenem Falle die uneinheitliche Wirkung des Werkes daher, daß der Künstler in seinen Block einzelne Gestalten von verschiedenen Seiten hineingedeutet hat, ohne eine anschauliche Gruppeneinheit zu erreichen. So mußte er durch gedankliche Verknüpfung ersetzen, was er für die Anschauung nicht gefunden hatte.

Das Gemeinsame aller angeführten Beispiele liegt dann, daß naturgegebene oder spielerisch entstandene Formen nicht als das genommen werden, was sie einer exakten naturwissenschaftlichen Beschreibung sind, sondern daß der Betrachter, der vielfach zugleich der Künstler ist, Formen aus seinem Vorstellungsschatz hineinzieht. Er wird angeregt, solche latenten Formvorstellungen in sich lebendig werden zu lassen, und diese Anregungen von Seiten der unbestimmten Formgegebenheiten können sich je nach der Anregbarkeit des Betrachters zu Forderungen steigern. Es ist dann, als ob die im Beschauer auftauchenden Formvorstellungen in dem Außendinge vorhanden wären, als ob er sie wahrnähme. Dieser psychologische Tatbestand wird gewöhnlich einer besonderen seelischen Fähigkeit zugeordnet, um nicht zu sagen einem »Vermögen«: der Phantasie. Es lag uns daran, diesen vagen Begriff zu vermeiden und die Beziehungen der vielverzweigten »Phantasietätigkeit« zu jenem einfachen spielerischen Betätigungsdrang zu unterstreichen, der uns schon beim Kinde und in irgendeiner Art bei jedem Menschen wirksam zu sein scheint, sofern er irgend etwas »gestaltet«.


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