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III.

Daß Geisteskranke überhaupt hier und da seltsam fesselnde Werke zeichnen, malen und schnitzen, war bislang außerhalb psychiatrischer Fachkreise wenig bekannt. Was man davon wußte, ging vorwiegend auf Lombroso zurück, der solche Arbeiten in seinen Schriften erwähnt. Aber bei ihm geht diese Tatsache unter in den Bemühungen, die krankhaften Seiten des Genies nachzuweisen. So hat er wohl durch seine wirkungsvollen und noch dem plattesten Verständnis zugänglichen Schriften das Schlagwort »Genie und Irrsinn« auf der ganzen Erde eingebürgert. Aber damit ist in das allgemeine Wissen nur die unklare Vorstellung eingefügt, als ob Genies leider mehr oder weniger wahnsinnig zu sein pflegten, selbst wenn sie allgemein bewunderte oder gar klassische Werke geschaffen hätten, und daß man ihnen die krankhaften Eigenheiten eben nachsehen müsse, da sie nun einmal irgendwie zwangsläufig mit ihren Fähigkeiten zusammenhingen. Daß er dabei in der Diagnose Epilepsie häufig irrte, geht nur den Fachmann an. Epilepsie stand damals, nicht zum wenigsten durch Lombrosos eigene Forschungen, ein wenig in Mode, wie heute die Schizophrenie. Wir gehen hier nur von der Tatsache aus, daß bis heute das Grenzgebiet zwischen Psychiatrie und Kunst noch unter der Nachwirkung des Schlagwortes »Genie und Irrsinn« steht.

Ob Lombroso mehr Zustimmung oder mehr Widerspruch hervorgerufen hat, läßt sich schwer beurteilen. Jedenfalls müßte man die Stimmen wägen und nicht zählen. Denn seine Botschaft fiel auf guten Boden bei allen, denen künstlerische Produktion eine lästige Nebenerscheinung bedeutet in der sonst so folgerichtigen Entwicklung der Menschheit vom armen, unpraktischen und abergläubischen Wilden zum reichen, zweckmäßig und hygienisch lebenden Tatsachenmenschen der Neuzeit. Dagegen wehrten sich aufs heftigste gegen solche psychologisch mehr als harmlosen und in jedem Sinne unkritischen Verallgemeinerungen alle die, denen die geistigen Werte gestalteter Werke so hoch standen, daß ihnen deren Urheber dadurch sozusagen jenseits von »Gesund« und »Krank« gerückt waren. Und ihr Widerwillen verschärfte sich durch den Beifall jener anderen Gruppe seelischer Antipoden.

Als es dann gar noch Mode wurde, in »Pathographien« eine Art Krankheitsgeschichte bedeutender Persönlichkeiten zur Ergänzung ihrer Lebensgeschichte anzulegen, wuchs sich die Abneigung der geistig führenden Schicht gegen jede Art Vermischung von psychiatrischer und normalpsychologischer Betrachtungsweise zu einem gereizten Haßgefühl aus, das sich nun gegen die Psychiatrie als solche richtete. Spuren davon finden sich in der Literatur reichlich. Und man kann unseren Stand nicht frei von Schuld sprechen. Wenn ein so gescheiter und auch ernsthaft kultivierter Mann wie Möbius in völlig pretentiöse Plattheiten sich verlor und ganz unbefangen Krankheitssymptome in Nietzsches Werken dort beginnen ließ, wo sein eigenes Verständnis versagte – was will man da von Durchschnittsköpfen erwarten. Es ist nicht zu verwundern, daß bei allen derartigen Versuchen, große Persönlichkeiten mit psychiatrischem Maße zu messen, einer regelmäßig als zu kurz befunden wird: der Messende. Die unlösbaren Schwierigkeiten jedes solchen Unternehmens spielen nicht etwa nur in der Sphäre von Taktfragen, sondern es geht bei solchem Messen irgendwie um ein Ringen zwischen geistigen Potenzen – daß hierbei diejenige des kritisch Prüfenden je überlegen wäre, ist kaum zu erwarten.

Einen objektiven Wert hat die psychiatrische Untersuchung produktiver Menschen nur, wenn diese unzweifelhaft geisteskrank waren und ihre Werke auch bei Kundigen lebhaft umstritten sind. Dann kann man zu der erwünschten psychologischen Klärung verhelfen, indem man Unverständliches etwa auf psychiatrisch Bekanntes zurückzuführen vermag. Ist das Werk Gemeingut geworden und der Schaffende sicher geisteskrank gewesen (wie bei Hölderlin), so kann man immerhin noch aus psychiatrischer Erfahrung Tatsachen von psychologischem Wert beibringen. Läßt sich aber ein Psychiater bereit finden, ein umstrittenes Werk dadurch zu klären, daß er den ihm sonst unbekannten Autor in den Verdacht der Geisteskrankheit bringt, so handelt er fahrlässig und dumm, er sei sonst, wer er wolle.

Mögen auch bei neueren Arbeiten auf pathographischem Gebiet durch Überwiegen der theoretisch psychopathologischen Gesichtspunkte über die historisch-biographischen die peinlichen Seiten jeglicher derartigen Betrachtung gemildert sein – überwinden lassen sie sich für das Gefühl des Kulturmenschen niemals. Denn für ihn wird selbst die plumpe »sichere Tatsache« einer Geisteskrankheit nur einen Lebensfaktor unter anderen bedeuten, der wie alle anderen nur vom Werke aus zu werten ist. Ist das Werk gestaltet und lebt in anderen – was verschlägt es, ob die als Kulturfaktor winzige Gruppe von Psychiatern nachweisen kann, der Schöpfer müsse wenigstens nach seinem Tode die und die Diagnose tragen vor allem Volke? Taugt aber das Werk nichts und ist der Autor gesund – wer hat dann etwas gewonnen?

Trotz all dieser schwierigen Verwicklungen und trotz aller Empfindlichkeit gegen die Meinung des Psychiaters umkreist der Kulturmensch in Gedanken unermüdlich das Problem, das durch Lombrosos Schlagwort nur verdunkelt wurde: wenn die Alten von dem heiligen Wahnsinn sprachen, der den Dichter in der Intuition befällt, wenn sie Ekstasen, ein Außersichsein kultivierten, und wenn sie Irre heilig hielten – so muß doch ein tief Gemeinsames in allen diesen Formen des »Wahnsinns« stecken, oder wir müßten uns denn vermessen, jenen einen Mängel an wesenhafter Erkenntnis vorzuwerfen, die etwa durch exakte Methoden zu vertiefen wäre. Und wenn andererseits heute zahlreiche seelische Zustände, die durch Jahrtausende als Kulturfaktoren höchsten Ranges galten, als krank entlarvt werden, so muß bei dieser methodisch einwandfrei durchgeführten Entlarvung doch irgend etwas im Ansatz falsch sein, oder mindestens muß etwas Wesentliches verlorengehen bei dieser Betrachtungsweise. In der Tat hat sich aus solchen unruhigen Erwägungen heraus die allgemein gesteigerte Neigung, sich über psychopathologische Fragen zu unterrichten, besonders lebhaft dem alten Kernproblem zugewandt: sind denn wirklich bei stichhaltiger psychologischer Rückführung auf das Wesentliche jene Ausnahmezustände irgendwie verwandt – der künstlerische Inspirations- und Gestaltungsvorgang einerseits und andererseits das Weltgefühl des Geisteskranken?

In dieser allgemeinen Fassung nun verliert das Problem allerdings sehr viel von seiner verletzenden Schärfe, weil es unpersönlich geworden ist. Und diese psychologische Frage nach den Beziehungen zweier seelischer Zustandsformen, die einst einander ähnlich schienen und jetzt einander fremd sein sollen – die ist der fernste Richtpunkt unserer Untersuchungen.


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