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Straßen der Erinnerung

Die Zeit, da die Straßen der Welt nach allen Flügeln der Windrose offenstanden und jedes Frühjahr zu neuen Ufern lockte, ist vorbei. Nun mag man beschaulich in sich gehen und die Pfade der Erinnerung wandeln … Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn … Und am versprechungsvollsten blicken aus unserem Gedächtnisspiegel gerade die Straßen der Städte uns an im Licht und Dunkel ihrer Geschichte; hier enthüllt sich etwas von Werden, Zusammenhängen, organischem Geschehen, wonach wir im Wirbelwind der uns gegenwärtig umbrausenden unübersehbaren Ereignisse erkennungssehnsüchtig verlangen. Hier finden wir Schicksal und Anteil …

* * *

Die Straße als Abbild von Leben und Tod enthüllt sich im Süden offener als im Norden. Und die Antike spricht über den »Abgrund der Jahrhunderte« weiter wirkend zu uns. Via Appia, die Gräberstraße von Pompeji und Athen verkünden heut noch den hohen Ahnenkultus der Alten: Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt. Steinerne Gedächtnisdichtung liest man hier still und bewegt. Gefaßte Trauer stellt sich dar voll wehmütigen Scheidens. Verhüllte Gestalten, in den langwehenden Falten des Schleiers schon losgelöst und erdentrückt, strecken abgewandt die schmale, blasse Hand noch einmal dem Bleibenden entgegen, ehe sie entschwinden. Gedämpft und weich klingt diese Klagemelodie, und das lichte Weiß der Mäler leuchtet voll verklärtem Schein.

Der griechische Mensch wird in der Leibhaftigkeit des Schmerzes gewiß auch leidenschaftszerfleischt aufgeschrien, gestöhnt und gewimmert haben. Bei den Dichtern hören wir ja die kreischenden, ja brüllenden Wehelaute der geängsteten und gequälten Kreatur. Die bildende Kunst aber – hier wird Lessings »Laokoon« gültig – suchte nicht die vorübergehende, zerrbildhafte Verzweiflung zerrissener Mienen und verrenkter Gebärden peinlich peinigend festzulegen und starr auszuprägen. Sie löste erlösend das Dauernde aus dem Gefühl, und, dem musikalischen Requiem verwandt, ließ sie über Elendsgebärden und stammelnde Jammertöne einen Gesang der Seele voll Aufschwung und Erhabenheit des Leids erklingen. Und deutlich erkennt man hier den Sinn der reifen griechischen Plastik; die Leidenschaften nicht in ihrer Wildheit zu spiegeln, sondern sie durch Abbilden von Harmonie und Maß zu reinigen. Dieser Sinn liegt ja auch dem Wort von der Katharsis zugrunde. Und vielleicht bedeutet das wortlose Vorbild ruhig ergebenen Abschieds zwischen dem Gehenden und dem noch Verharrendem auf hellenischen Marmortafeln die gleiche Mahnung, die in dem deutschen Märchen vom toten umherirrenden Kind mit dem Tränenkrüglein ausgesprochen wird, die Mahnung, abzulassen von Ungebärdigkeit und Heftigkeit der Affekte und, die rohe Natur überwindend, in edlerer Trauer in sich still zu werden.

Dies deutsche Tränenkrüglein kam mir an einem Frühlingsvormittag auf dem athenischen Totenpfad vor dem Dipylon in die Erinnerung durch die Grabstelle, die einen »Lutrophoros« trägt, jenen Krug, in dem das Wasser für das Hochzeitsbad geholt wurde und dem man, wie ein Zeichen versäumter Erdenfreude, dem Unvermählten auf seiner letzten Stätte aufbaute.

Doch viel stärker als der Tod verkündet sich das Leben in den Straßen der alten Welt, und auch hier klingt für den Hellhörigen Antike und Gegenwart zusammen. Die heilige Straße von Athen nach Eleusis fuhr ich mit dem lieben Gefährten Ludwig Krähe, der so jäh abberufen ward. Osterzeit war's, vorüberwandelnde Männer schleppten ein jeder sein Osterlamm auf dem Nacken, so daß die Tierbeine über die Schultern steif herabhingen, genau so wie der steinerne Kalbträger auf der Akropolis – ein Werk früher Kunst (Walter Pater nennt ihn »gotisch«) – seine Last zum Opferaltar des Zeus trägt. Am Wegrand lag der katholische Wunderschrein, Kloster Daphni mit stillem Vorhof, der grün-erzenen Glocke im verstrickten Laubengezweig, den Feigenbäumen mit breitgestreckten Leuchterarmen und den Passionsfresken. Legendenspiele voll mystischen Glanzes sind sie: Engel mit Pfauenfederflügeln, blau und golden; ein beschwingter Cherubim, der sich mit ekstatischer Gebärde in den Raum stürzt; die sterbende Maria auf rotdurchwirktem Lager mit schmalem, herbem Antlitz im Heiligenschein … Rosa mystica …

Nach den christlichen Mysterien umfing uns dann der Bannkreis der eleusinischen. Unvergeßlich blieb aus dem Museum in den Eleusis-Ruinen die Statue der Korbträgerin, die vor dem inneren Auge die Vorstellung des ganzen Festzuges entstehen ließ.

Und seltsam sah man sie in neuer Verwandlung bald darauf lebendig wiederkehren in der österlichen Auferstehungsprozession vor der byzantinisch geschmückten Jesu-Bahre: in dem Mädchenchor mit Blumenkörben auf dem Haupt, feierlich schreitend unter psalmodierendem Gesang …

* * *

Nach dem griechischen Frühling ein Römerzug. Die charakteristische Römerstraße findet man aber vielleicht weniger in Rom selbst, als in den Koloniestädten, die sich aus den Militärlägern entwickelten. Hier ist das Urbild der mathematischen, in großen sich schneidenden Linien angelegten Stadtpläne, die später für alle von einem überlegenen Herrn abhängigen Gemeinwesen, also besonders für die Königsstädte, vorbildlich wurden.

Timgad, das alte Thamugadi, in Algier, am Rande der Sahara, gibt, aus dem Wüstensand ausgegraben, ein gutes Beispiel.

Von Batna, der französischen Garnison, die mit Spahi- und Zuavenkasernen, mit Bastionsmauern und Festungstoren das moderne Erbe des antiken Waffenplatzes angetreten, fährt man im Kraftwagen durch trocken-durstiges Staubgrau, vorbei an weidenden Kamelherden mit langen, gebirgigen Schatten über endlos sich dehnende Flächen.

Und dann steigen die Säulen des steinernen Römerlagers auf. Ein weites übersichtlich gemustertes Gefild. Man erkennt sogleich den Unterschied dieser künstlich bewußten Gliederung zu alten, allmählich gewachsenen Straßen. Diese zeigen enge winklige, schiefe Gassen. Die Militärstadt aber drückt das Gerade, Ausgerichtete, das »Disziplinierte«, die Geschlossenheit der Reihen aus. Die Straßen bewahren, gleich den ursprünglichen Zeltwegen, rechtwinklige Kreuzungen: Nord und Süden, West und Osten mit den Hauptzugängen sind durch die breitesten Führungen, die sich im Mittelpunkt schneiden, verbunden. Die schmaleren Nebenstraßen laufen streng parallel damit in gleichem Schritt und Tritt.

Diese gradlinigen Bahnen ermangelten nun aber der Vorteile, die jene engen, schräg laufenden Gassen boten, nämlich des Schutzes gegen die prall herunterfallenden Sonnenstrahlen. Um sie abzuwehren, schuf man eine Architektur, die vollendet das Zweckmäßige mit dem Schmuckhaft-Monumentalen verband. Man legte den Häuserreihen in der ganzen Länge des Laufsteges Säulenhallen vor. Solche Kolonnaden sind in Timgad gut erhalten, wenn auch nicht so großartig wie im syrischen Palmyra. Links und rechts von dem gepflasterten Fahrdamm ragen die Säulen weit durch die Steppe, viele noch aufrecht, mit einfach machtvollem Viereckkapitäl, andere als gebrochene, gespaltene, zerknickte Stümpfe, verwittert aus der Erde starrend wie Stummel von Elefantenbeinen. Und diese Säulengalerien sind gewiß die Ahnen für die Portikusstraßen von Bologna, von Algier (für die neuen am Hafen, wie für die alten, z. B. Bab Azoun im Araberviertel), für die Rue Rivoli in Paris und für alle solche Wandelgänge in den Städten des achtzehnten Jahrhunderts, die Berliner Königs- und Leipziger-Kolonnaden nicht zu vergessen.

Ein wichtiges Motiv bei dieser bewußten und planmäßigen Straßenführung ist, daß alle größeren Züge mit weithin sichtbarem Fernblick einem die Perspektive abschließenden Bauwerk zustreben. So führt die eine Hauptstraße Timgads zu seinem Wahrzeichen, dem Triumphbogen Trajans, gewaltig in harmonischer Fülle aufgetürmt, mit Doppelbogen von Säulen gefaßt, mit stolzem Gesims und Rundbogen-Portalen. Sie stehen erhaben aufgereckt über der Zeit. Doch sie münden heut, gleich den mystischen »Tori« japanischer Bergheiligtümer und gleich den Mauerpforten der Tempelwildnis von Luxor, ins Nichts.

Eine so heroische, bewußte, von überlegenem Plan und Willen geleitete Anlage, voll Richtung und wirkungsvoller Komposition, findet man dann später in allen Königsstädten und Fürstenresidenzen. Die Herrschaft nicht nur über die Untertanen, über die »Seelen«, sondern auch über das Unbeseelte spricht sich darin aus. Alles muß sich in majorem principis gloriam in Reih und Glied stellen; kein freiwüchsiges Wuchern gilt, sondern ebenso wie Bäume und Gewässer zu Wänden und künstlichen Spielwerken sich fügen, so wird die Straße zur öffentlichen Herrlichkeitsbahn, zur via triumphalis.

Ein kleines, aber ungewöhnlich folgerichtiges Beispiel eines nach dem Paradeschema ausgerichteten Stadtplans bietet das, wie es in »Hermann und Dorothea« heißt, »liebliche Mannheim«, aus bayrischer Kurzeit, mit seinen Gevierten, seinen Häuserblocks, seinem Mittelkreis, aus dem die unter rechtem Winkel sich schneidenden Straßen dann in den umschließenden Parkdamm münden.

Der wahrhafte Sonnenglanz der Königstraße leuchtet aber erst in Paris. Die Sonne ist die Place de la Concorde, mit ihren weiten, den Blicken langhin aufgetanen Ausstrahlungen, und von ihnen steigt in stolzestem Anstieg die Elysee-Allee empor und klingt, gleich der Zentralstraße antiker Lagerstädte, aus im lichtdurchfluteten Triumphbogen.

Und in unserer eigenen Nähe, in Berlin, das ja auch eine Königstadt, bietet sich mit dem Zug vom Schloß über die Linden durch das Brandenburger Tor, über den Stern zur Charlottenburger Sommerresidenz ein ähnlicher Herrenpfad, nur nicht in so sicherer und zweifelloser Kraft der Darstellung. Denn der Rhythmus dieser Linie schwebt nicht in Fülle, sondern erweist sich, wie Lichtwark hervorhob, als gebrochen. Der Königsplatz nämlich, der einen monumentalen Taktteil übernehmen müßte, spaltet sich zusammenhanglos ab. Und das Schlußstück, das Charlottenburger Schloß, erhebt sich, ebenso wie die erste Station, der Schlüterbau an der Spree, nicht in der Gesichtsrichtung, nicht als Inhalt, Fülle und Mittelaufsatz der umrahmenden Straßenwangen, sondern nur seitlings an der Straße, als Beilager.

In München hingegen schwingt die Welle voll Ebenmaß vom Maximilianeum zum Siegestor. Und die Grachtstraße am Türkengraben rundet sich harmonisch in den Ehrenhofplatz von Nymphenburg aus, nicht anders, als schritte man durch lange, gerade, vorbereitende Galerien in einen sich weitenden Festsaal.

Die Großstadt unserer Tage, die aus dem Druck von Giebeln und Dächern ins Freie drängt, schuf gleichfalls solche lang und breit ausladenden Straßenzüge. Sie dienen heute jedoch keiner Repräsentation mehr, sie sind als Zweckstraßen gedacht, als Luftarterien für die eingebauten Städter. Sie strecken sich nicht wie ihre Ahnen als Wallfahrtswege zum Endziel pomphafter Bauten im französischen Königsstil, sie leiten vielmehr rousseauisch die verirrten Kinder zurück in die Natur. So führt die Heerstraße, die durch ihren Namen auch noch einen Römer-Anklang weckt, in grasiger Hebung und Senkung eratmend hinaus zu Wald und Fluß, zum Havelufer, wo im Sonnenuntergang die Wasserfläche mit huschig wehendem Binsengebüsch opalen und metallisch durch die ausgezackten, durchscheinenden wolkigen Wände der Kiefernzweige schimmert …

* * *

Malerischer und phantastischer als die Großstadt lockt vielleicht die mittelalterliche Bürger-Kleinstadt mit Schragen und Krambuden um die gotische Kathedrale und dem labyrinthischen windschiefen Kreuz und Quer:

Krummenge Gäßchen, spitze Giebeln,
Beschränkten Markt, Kohl, Rüben, Zwiebeln,
Fleischbänke, wo die Schmeißen hausen,
Die fetten Braten anzuschmausen.

An drei Städte denke ich da vor allem: an das flandrische Brügge, das deutsche Hildesheim, das italienische Siena. In Brügge lockt nach der Kunstandacht in Notredame und Johaneshospital, nach dem stolzen Patrizier- und Handelsherrenprunk auf Markt- und Burgplatz, mit steinernem Flecht- und Rankenwerk, mit Spitzen- und Goldfiligran, mit Denkmalszier an Wänden und in Nischen, die Stille und Abgelegenheit der ärmeren Viertel im Osten bei der Jerusalemskirche. Da windet sich die Rue d'huile zwischen Mauern ohne Häuser, grasbewachsen, verödet, und die Rue de Poivre, unverändert in ihrem mittelalterlichen Gesicht: schräg schlängelig, schmal, mit niedrigen Giebelhäusern, oft nur von der Frontbreite einer Scheibe, der Puppenstubentür, dem winzigen Flur mit dem begrünten Gartenfenster im Hintergrund; und immer sitzt hier zusammengeduckt ein von der Zeit und dem Tod vergessenes Hutzelweibchen vor dem Klöppelkissen.

Lieblicher aber spinnt sich mittelalterliche Stimmung in einer kleinen deutschen Stadt, und reiner als in Nürnberg und in dem allzu bewußten Rothenburg, in Hildesheim. Hier schlingern die winkligen Gassen im Zickzack vor den Augen, auch wenn man nicht bei Mondschein aus dem Ratskeller kommt – Straße, wie wunderlich siehst du mir aus. Statt der Richtschnur und Gleichförmigkeit von herrisch auf eine Formel gebrachten Massen tummelt sich vor- und rückspringend eine Fülle der Gesichte, der Hausprofile mit Erkernasen und merkwürdig gestellten Fensteraugen. Ein Stockwerk baut sich über das andere vorgekragt hinaus, und die oberen rücken von hüben und drüben einander ganz nah auf den Leib. An gotische Spitzbögen läßt der Durchschnitt solchen Straßenzuges denken, nur ohne Ebenmaß; wildwüchsig wirkts wie ein vom Erdstoß ins Wanken geratenes Kirchenschiff, dem schon das Dach abgestürzt.

Die Wände dieser Straßen aber gleichen in Schilderei und Zierat Bilderbibeln und Miniaturhandschriften. Fachwerkbauten sind es, gefügt aus dem breiten Pfostenwerk des Balkengerüstes – dem Gerippe des Hauses – und den Zwischenflächen aus Putz. Reiche Schnitzkunst auf den Kanten der Balken (die durch Form und Schmuck oft den Mangelbrettern verwandt erscheinen), Relief- und Skulpturtafeln in den Füllungs-Gevierten verkünden altdeutschen Witz und Verstand. Mythologische, christliche, emblematische Motive spielen durcheinander. Die vier Senkrechtsleisten eines Balkons zeigen die Figuren eines Löwen als Sinnbild der Tapferkeit, einer Löwin mit Säugbrüsten, eines Lammes für die Geduld und einer Taube mit der Unterschrift »spes«. Sehr ähnlich berührt sich übrigens diese Bildersprache auch mit den künstlerischen, phantasievollen Spielkarten der Monogrammisten. Über dem Familienwappen der braunen Haustür mit schweifiger, handgerecht dem Niederdruck sich anschmiegender Klinke – einer Freude für moderne »Zweckästhetik« – thront die Madonna; die Erker winden sich besonders schmuckhaft heraus, gleich Chorlogen oder Reliquienschreinen. Dann neigt sich der Weg, Bäume nicken wipfelwehend über verwaschene Mauern mit steinernem Kugelaufsatz, eine rostige Laterne schaukelt an der letzten Biegung, und nun liegt auf grünem Wiesenhügel, in gelben Blumen eingebettet, die romanische Godehardikirche mit Kapellen, Chören und gewölbtem Umgang.

Und gut läßt sich hier auch ein für die Naturgeschichte der Straßen sehr charakteristisches Merkmal der alten, vormals wehrhaften Städte bemerken: die Wandlung der Bollwerkwälle zu luftigen, die Stadt umkreisenden Baum- und Gartenwegen, die Wandlung des gepanzerten Gürtels, der »ceinture de chasteté« der jungfräulichen Stadt, zu einem blumengewundenen leichten Kranzreif.

Strenger, trutziger als die redseligen deutschen Fachwerk-Physiognomien starren die steinernen Straßenwände der altitalienischen Stadt Siena. Beklemmende Enge zwischen den abwehrenden Mauern aus dunklem Stein mit spärlichen Fensterlöchern und schweren, schwarzen Eisenfackelhaltern. Überwölbte Abstiege führen in die Unterstadt; wie ein Baugewerk mit Schächten und Tunnels senkt sich's, und ganz überraschend, nicht in der Perspektive, sondern seitlich öffnet sich plötzlich ein Rundeinschnitt, der Campo mit dem Palazzo Publico. An der einen Seitenflanke streckt sich der steile Turm wie ein ragender Flügelmann, in überwältigender Wucht der Unsymmetrie. Die Wände des Platzes ziehen sich konkav gebuchtet; der Boden breitet sich nicht eben, sondern wellig, muldig, wie eine ungeheuere, aufgeklappte Muschelschale, und der Brunnen, Fonte Gaza, gleicht einer marmornen Riesenschwemme … Ungeheuerlich, willkürlich, bezwingend, von ganz anderer Rasse als der Zeremonialzuschnitt der Königsstädte …

* * *

Aber die Königsstädte haben außer ihren breiten Straßen im Staatskleid für den Korso der Wagen, Reiter und Sänften, außer diesem Salonteil für das prunkvolle Ins-Licht-Stellen von Reichtum, Macht, Herrlichkeit, des überlegenen Herrscherwillens, auch ihre Hintertreppen- und Kehrseiten-Zonen; verwahrloste Viertel der Elenden und Verachteten, voll Schutt, Gerümpel, Kehricht, mit Höckerpflaster. Und will man das dunkle Kapitel der Straße lesen, das man Via mala überschreiben könnte, so findet man es vielleicht gerade in dem abseitigen Bereich der Königsstädte weit eindrucksvoller als in den kleinen Bürgerstädten.

Wieder denkt man zuerst an Paris, an Paris, die Fundgrube für den Jäger der Kostbarkeiten alter und neuer Künste, wie für den Lumpensammler. Führer wird hier Balzac, der so leidenschaftlich ausrief: »Wer aber, o Paris, Deine dunklen Gänge, Deine Lichtschächte, Deine tiefen, schweigenden Sackgassen nicht bewundert, wer zwischen Mitternacht und zwei Uhr des Morgens Dein Murmeln und Säuseln nicht vernommen hat, der kennt noch nichts, weder von Deiner wahren Poesie, noch von Deinen wunderlichen und großen Gegensätzen.«

Ihm ähnlich, freilich voll gelassener, weltweislicher Beschaulichkeit, steuerte später Anatole France »le nez en vent« durch die Engpässe »de tes rues de Paris dont j'aime avec piété tous ces pavés et toutes les pierres«.

Balzac erschnupperte in allen Himmelsrichtungen der Pariser Ober- und Unterwelt, nachsteigend, die »Brise der Pariserin« in ihrem abgleitend getragenen Schultertuch, in ihrem »Genie des Ganges«. Er belauschte sie auf heimlichen Wegen und auf den öffentlichen Gesellschaftspfaden. Und er schrieb als Ausbeute solcher Forschungsreise einen Naturgeschichtsabriß der Pariser Straße. Er steht am Anfang der »Geschichte der Dreizehn«, im neunten Band der Insel-Ausgabe. Balzac sieht die Straßen wie Wesen an, er erkennt ihre menschliche Eigenschaft, er unterscheidet die edlen Straßen, die achtbaren, die arbeitenden und die handelnden, die schändlichen und mörderischen. In ihnen entdeckt er böse, kleine, zweifenstrige Häuser, in denen von Stockwerk zu Stockwerk Laster, Verbrechen und Elend hausen. Und manche Straßen haben gleich der Rue Montmartre »einen schönen Kopf und endigen in einen Fischschwanz«.

Doch nicht nur auf dem linken Ufer, im Land des Heiligen Ludwig, wo die Dämonen vom Notre-Dame-Dach gierig hinunterblinzeln, wo um die Türme von St. Sulpice das Dämmern Huysmanscher schwarzer Magien weht, nicht nur auf dem Martyrberg, mit dem Himmel von Sacré Coeur, der Hölle von Moulin de la Galette und dem labyrinthischen Fegefeuer verstrickter Steil- und Stiegengassen tun sich »les mystères de Paris« auf. Auch dicht benachbart den großen Hauptadern des gewaltigen Stadt-Molochs gibt es Winkelspuk, Verwunschenheit und natürliche Schundbilderbogen der Straße. Vor allem in den Abzweigungen der Rue Rivoli, der Rue de la Paix, um die Kirche St. Roche herum. Ich beobachtete selbst einmal dort einen kleinen dramatischen Ausschnitt, wie aus der Comédie humaine gewonnen. Bühne war der »Entre-Sol«, das Zwischengeschoß eines, nach Balzacscher Bezeichnung, Hauses mit dem bösen Blick. Die Zuschauer drängten sich auf dem Pflaster davor. Oben sah man ein keifendes Paar, eine dralle Wirtschafterin mit Schürze und drohend geschwungenem Flederwisch und einen älteren Mann in Hemdsärmeln und Hängehosen mit Mecker-Miene und greifender Gebärde. (Im siebzehnten Jahrhundert nannte man eine so eindeutig ausholende Armbewegung den »kühnen Ehrengriff«.)

Jetzt riß das Weib das Fenster auf und rief hinunter: »Voyez cet amant!«, und der Chor johlte, das Stichwort aufnehmend und den verliebten Alten verspottend, wie aus einem Munde zurück: »Oh, les cheveux blancs!«

Doch erst im Dunklen sind Mysterien zu Haus. Paris bei Nacht hatte auch in der stolzesten Epoche nichts vom königlichen Glanz. Die »Soleil«zeit besaß trotz allem nicht die Macht, eine Mitternachtssonne anzuzünden. Und die Stadt, die wir als ville de lumière liebten, versank am Abend in Finsternis und wurde zum Schreckrevier der Lichtscheuen.

Doré zeichnete in einigen Blättern zu den »Contes drôlatiques« die in Dämmer und Düster verhexten Irrwege des alten Paris. Verbrechen und Verschwörung gespenstern hier; der Abenteurer, der zum Liebchen schleicht, tut es immer auf die Gefahr, daß er »seinen Mantel verliert und ein paar Degen um die Ohren kriegt«. Damals kamen die Umhänge von der Farbe der Mauer auf, um mimikryhaft unter dem aufblitzenden Blendlaternenschein der Beutelschneider und Stegreifgesellen sich in den verschwimmenden Hintergrund hineinzuducken. Das Fräulein von Scudéry, die freilich vom sicheren Port ihres Altjungfern-Bettes gemächlich raten konnte, rief für solche Ängstliche anfeuernd das alte Rittertum ohne Furcht und Tadel auf:

Un amant qui craint les voleurs
N'est pas digne de l'amour.

Neben dem Überfall und dem Mord bedrohten aber noch Schmutz- und Ekelgefahren den Nachtschwärmer: Unflathaufen, Pfützen, die Abflußrinnen und nicht zum wenigsten die Güsse von oben aus den Fenstern, aus denen die Pandora-Schalen der Schlafkammern ohne Bedenklichkeit entleert wurden.

Der Literat, Komödiendichter und Sekretär der Herzogin von Angoulème, Edm. Boursault, schildert in einem Brief an seine Freundin Babette die lächerlichen Widerwärtigkeiten seines Heimwegs. Ein groteskes Nachtstück ist's, wie er von seiner Herrin Haus durch pechschwarze Nacht tappt. Gegen den klatschenden Regen deckt er den Kastorhut mit dem Saum seines Mantels, gegen die mißduftende Sintflut der Topfschwingerinnen ist er machtlos.

Über solchen Segen von oben berichten auch noch alte Berliner aus der argen Zeit des Scheunenviertels und der Königsmauer, wo heute der schönste Theaterbau unserer Stadt, das Werk Oskar Kauffmanns, erstand, das Volksbühnen-Haus.

Natürlich war auch die Nacht in Alt-Berlin mit Dunkel geschlagen. Und jeder mußte, um sich hindurchzulotsen, sein eigenes Licht leuchten lassen.

Die Gräfin von Reden bemerkt von den Winterfesten des Jahres 1804 in ihrem Tagebuch, daß nur, wenn der Hof angesagt ist, die Hauseingänge mit Lampen bestellt sind, sonst stehen, wird Gesellschaft erwartet, nur zwei brennende Kienkörbe vor der Tür. Die Vornehmen, die in Wagen fuhren, ließen, wie in Paris, Trabanten mit Fackeln vorauslaufen. Und an dem zierlichen friderizianischen Palais, Kupfergraben 7, das sich Max Reinhardt mit stilsicherer Regie als Wohnsitz eingerichtet, sieht man an der Vorderwand noch jetzt die kleinen Nischenbuchten, in denen die Fackeln nach getanem Dienst ausgestoßen wurden.

Die Fußgänger trippelten vorsichtig fürbaß, mit dem Laternchen eingehakt im Knopfloch. So schritt auch Schleiermacher, Prediger an der Charité, seinen Abendpfad von der Oranienburger Chaussee nach der Neuen Friedrichstraße zur Plauderstunde mit seiner Seelen-Freundin Henriette Herz. Und der Schattenriß des milden christianischen Weisen, der durch die mittelalterliche Finsternis der Stadt zu der klugen Jüdin mit dem reinen, menschlichen Herzen geht, seinen Schein voranwerfend, ein wandelndes Licht – das gibt wohl ein sinnvolles Schlußstück zu dieser wechselvollen Bilderreihe von Lebensstraßen und Straßenleben.


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