Johann Heinrich Pestalozzi
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt
Johann Heinrich Pestalozzi

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XII.

Lieber Freund! Mein Gefühl ließ mich in meinem letzten Briefe nicht weiter reden; ich legte daher meine Feder weg, und ich tat wohl daran. Was sind Worte, wenn das Herz sich zu dunkler Verzweiflung neigt oder im höchsten Wonnegefühl sich in die Wolken erhebt?

Freund! Was sind Worte auch außer diesen Höhen und Tiefen?

Ich sehe im ewigen Nichts der erhabensten Eigenheit unseres Geschlechts und dann hinwieder in der erhabenen Kraft dieses ewigen Nichts – im Wort des Mannes – das Brandmal der äußersten Beschränkung der Hülle, in der mein gebundener Geist schmachtet; ich sehe in ihr das Bild der verlornen Unschuld meines Geschlechtes, aber dann auch das Bild der Schamröte, die den Schatten dieses verlornen Heiligtums in mir immer wieder rege macht, solange ich seiner nicht vollends unwert bin, und die, solange ich nicht in diese Tiefe versunken, immer wieder in mir eine Kraft erzeugt, das Verlorne wieder zu suchen und mich selbst wiederherzustellen in meinem Verderben. Freund! Solange der Mensch der erhabenen Eigenheit seines Geschlechtes, der Sprache, wert ist, solange er sie als ein kraftvolles Mittel der Äußerung und der Erhaltung seiner Menschlichkeitsvorzüge mit reinem Willen, sich selber durch sie zu veredeln, zu vermenschlichen, in sich selbst trägt, ist sie ein hohes Heiligtum seiner Natur; aber sowie er ihrer nicht mehr wert ist, sowie er sie nicht mehr als ein kraftvolles Mittel der Äußerung seiner Menschlichkeitsvorzüge in sich selbst trägt und ohne einen reinen Willen, sich selber durch sie zu vermenschlichen, von ihr Gebrauch macht, so wird sie ihm und für ihn nichts anders als ein sinnlich belebtes Trugmittel seines tierischen Sinns, dessen Gebrauch ihn allmählich zum Verlust seiner Menschlichkeit, zur Entmenschlichung, zur Unmenschlichkeit hinführt. Sie wird in ihm das erste und kraftvollste Mittel des Verkünstlungsverderbens seiner sittlichen und geistigen Natur selber und dadurch die erste und stärkste Quelle seines häuslichen Elends und seines bürgerlichen Unrechttuns und Unrechtleidens und der daraus herfließenden öffentlichen Verbrechen, mitten indem er sie zugleich zum gewandtesten Deckmantel alles dieses Verderbens und aller dieser Verbrechen erhebt. Es ist indessen unabsehbar, wie tief das Verderben der Sprache, das Maulbrauchen, in alle Welterscheinungen unsrer Zeit eingegriffen, wie es im guten Ton, im Hofton, im Kanzleistil, im Bücherstil, im Komödiantenton, in Journalen, in Tagblättern, kurz allenthalben in unsrer Mitte in der ganzen Kraft seines Verderbens dasteht. Es ist notorisch, daß es in unsern Tagen mehr als je von der Wiege aus angereizt, durch die Schulen belebt, durch das Leben bestärkt, ich möchte sagen, sich von den Kanzeln und Ratstuben bis auf die Schenkhäuser und Bierstuben hinab unter uns allenthalben gleich ausspricht und wie alle Quellen des menschlichen Verderbens und der Sinnlichkeit unsrer Natur in ihm einen Mittelpunkt finden, in welchem sie sich sämtlich als in ihrem gemeinsamen Interesse vereinigen und dadurch untereinander gegenseitig ansteckend werden. Hierdurch und hierdurch allein ist auch die schreckliche Wahrheit zu erklären: beim verdorbenen Menschen wächst durch die Sprache sein eigenes Verderben. Durch sie werden die Elendigkeiten der Elenden noch größer, durch sie werden die Nächte der Irrtümer noch dunkler, durch sie wenden die Verbrechen der Boshaften noch weitgreifender. Freund! Noch ist Europas Verderben durch sein Maulbrauchen im Wachstum. Es hängt mit dem in alle Teile unsers Fühlens, Denkens und Handelns eingreifenden Zustand unsrer Verkünstlung und dem ganzen Umfang seiner Folgen; es hängt mit der ins Unendliche gehenden Anhäufung unseres Dienststands; es hängt mit der ebenso ins Unermeßliche gehenden Selbständigkeitslosigkeit nicht bloß des gemeinen, niedern Volks im Land, sondern selber unsrer so geheißenen Ehrenleute, Notabeln und Leuten von Stand und nicht weniger mit dem ebenso ins Unermeßliche anwachsenden Versinken unsers Mittelstandes, dieser anerkannten ersten und wesentlichen Stütze aller wahren Staatskraft und alles wahren Bürgersegens innigst zusammen. Auch ist die täglich wachsende Dickbäuchigkeit unsrer Meßkataloge nur eine unbedeutende Nebenerscheinung der diesfälligen großen Übel der Zeit. Auch nur die täglich mehr und größer werdenden öffentlichen und Privat-Anschlagezettel an den Ecken unsrer Mauern sind oft bedeutendere Anzeigen der diesfälligen Übel als selber die Erscheinung der dickbäuchigsten Meßkataloge. Aber unabsehbar ist in jedem Falle, wohin unser diesfälliges Maulbraucherverderben ein Zeitalter noch führen wird, welches die Folgen seiner Schwächen, seiner Verirrungen, seiner Gewalttätigkeiten und seiner Inkonsequenzen schon auf den Punkt gebracht haben, auf dem diesfalls schon so viele Länder unseres Weltteils stehn.

Aber ich lenke wieder in meine Bahn. Ich ging in den empirischen Nachforschungen über meinen Gegenstand von keinem positiven Lehrbegriff aus; ich kannte keinen und fragte mich ganz einfach: Was würdest du tun, wenn du einem einzelnen Kinde den ganzen Umfang derjenigen Kenntnisse und Fertigkeiten beibringen wolltest, die es notwendig bedarf, um durch eine gute Besorgung seiner wesentlichsten Angelegenheiten zur innern Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen?

Aber nun sehe ich, daß ich in der ganzen Reihe meiner Briefe an dich nur den ersten Gesichtspunkt des Gegenstandes, die Führung des Kindes zu Einsichten und Kenntnissen, keineswegs aber seine Führung zu Fertigkeiten, insofern diese nicht eigentlich Fertigkeiten der Unterrichtsfächer von Kenntnissen und Wissenschaften selbst sind, ins Auge gefaßt habe, und doch sind die Fertigkeiten, deren der Mensch bedarf, um durch ihren Besitz zur innern Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen, ganz und gar nicht auf die wenigen Fächer eingeschränkt, die mich die Natur des Unterrichtswesens zu berühren nötigte.

Ich darf diese Lücke nicht unberührt lassen; es ist vielleicht das schrecklichste Geschenk, das ein feindlicher Genius dem Zeitalter machte: Kenntnisse ohne die Fertigkeiten und Einsichten ohne die Anstrengungs- und Überwindungskräfte, welche die Übereinstimmung unsers wirklichen Seins und Lebens erleichtern und möglich machen.

Sinnenmensch! Du vielbedürfendes und allbegehrendes Wesen, du mußt um deines Begehrens und deines Bedürfens willen wissen und denken, aber um eben dieses Bedürfens und Begehrens willen mußt du auch können und handeln, und das erste steht mit dem letzten wie das letzte mit dem ersten in einem so innigen Zusammenhange, daß durch das Aufhören des einen das andere auch aufhören muß und umgekehrt; das aber kann nie geschehen, wenn die Fertigkeiten, ohne welche die Befriedigung deiner Bedürfnisse und deiner Begierden unmöglich ist, nicht mit eben der Kunst in dir gebildet und nicht zu eben der Kraft erhoben werden, welche deine Einsichten über die Gegenstände deiner Bedürfnisse und deiner Begierden auszeichnen. Die Bildung zu solchen Fertigkeiten ruhet aber dann auf den nämlichen organischen Gesetzen, die bei der Bildung unsrer Kenntnisse zugrunde gelegt werden.

Der Organismus der Natur ist in der lebenden Pflanze, im bloß sinnlichen Tier und im ebenso sinnlichen, aber willensfähigen Menschen einer und eben derselbe; er ist in den dreifachen Resultaten, die er in mir hervorzubringen imstande ist, immer sich selbst gleich. Seine Gesetze wirken entweder bloß physisch und insoweit auf die nämliche Weise wie auf die allgemeine tierische Natur, auf mein physisches Wesen. Sie wirken zweitens auf mich, insofern sie die sinnlichen Ursachen meines Urteils und meines Willens bestimmen; in dieser Rücksicht sind sie die sinnlichen Fundamente meiner Einsichten, meiner Neigungen und meiner Entschlüsse. Sie wirken endlich drittens auf mich, insofern sie mich zu den physischen Fertigkeiten tüchtig machen, deren Bedürfnis ich durch meinen Instinkt fühle, durch meine Einsichten erkenne und deren Erlernung ich mir durch meinen Willen gebiete; aber auch in dieser Rücksicht muß die Kunst der sinnlichen Natur oder vielmehr ihrer zufälligen Stellung gegen jedes Individuum die Bildung unseres Geschlechts aus der Hand reißen, um sie in die Hand von Einsichten, Kräften und Maßnahmen zu legen, die sie uns seit Jahrtausenden zum Vorteil unseres Geschlechtes kennen lehrte.

Die Menschheit verliert zwar das Gefühl des Bedürfnisses der Ausbildung zu den nötigen Fertigkeiten des Lebens im allgemeinen, auch selber beim höchsten Grad seines Verkünstlungsverderbens und seines Abrichtungsverderbens, niemals. Viel weniger aber verliert der einzelne Mensch dieses Gefühl. Der Instinkt der Natur treibt ihn in sittlicher, geistiger und Kunsthinsicht allgemein mit vereinigter Kraft auf Lebensbahnen, in denen sich das Gefühl dieses Bedürfnisses täglich in ihm entfaltet und belebt und ihn von allen Seiten dahin lenkt, seine diesfällige Ausbildung der Hand der blinden Natur und selber dem mit der diesfälligen Blindheit der Natur innig zusammenhängenden einseitigen Verkünstlungs- und Abrichtungsverderben ihrer Sinnlichkeit zu entreißen und sie in die Hand der Einsichten, Kräfte und Mittel der Kunst zu legen, zu der sich unser Geschlecht seit Jahrtausenden erhoben; die Massa der Menschheit aber unterliegt in jedem Fall der Einseitigkeit der Ansprüche unsrer sinnlichen Natur und ihrem Abrichtungs- und Verkünstlungsverderben weit mehr als der einzelne Mensch. Das ist in dieser Rücksicht selber von den Regierungen wahr. Sie unterliegen als Massa, als Corps den Ansprüchen unsrer sinnlichen Natur und ihrer Verhärtung weit mehr, als dieses vom einzelnen Menschen und sogar von einzelnen Personen ihres Corps selber der Fall ist. Es ist gewiß – worin in dieser Rücksicht nicht leicht ein Vater gegen seinen Sohn oder ein Meister gegen seinen Lehrling sich verirren würde, darin verirren sich Regierungen gar leicht gegen das Volk. Es kann nicht wohl anders sein. Die sinnliche Menschennatur wirkt auf jeden einzelnen Menschen mit weit größerer Zartheit und reinerer Kraft, als sie dieses auf Menschenhaufen, auf Corps, auf Massavereinigungen unsers Geschlechts, welche diese auch immer seien, jemals zu tun vermag. Der erste Impuls aller Naturgemäßheit im Menschenleben, der Instinkt, bleibt und erhält sich in jedem Fall im Individuum unendlich reiner und unendlich kraftvoller, als er dieses in irgendeiner Massa, in irgendeiner Vereinigung von Menschen zu tun imstande ist. Er treibt keine Art von Menschenhaufen, keine Art von Corps, keine Art von Menschenmassa in der Reinheit und Unschuld seines ursprünglich menschlichen Wesens, wie er dieses beim Individuum zu tun vermag und seiner Natur nach immer trachtet zu tun; aber bei jeder Menschenmassa verliert er die ursprüngliche Reinheit seines diesfälligen Einflusses; er verliert die Fundamente der Harmonie, von denen sein Einfluß auf den ganzen Umfang der menschlichen Kräfte beim Individuum auszugehen vermag und hinstrebt, und es ist unleugbar das Heilige, Göttliche, das im Instinkt selbst liegt und sich beim Individuum durch die Harmonie seines Einflusses auf den ganzen Umfang der menschlichen Kräfte äußert, dieses Heilige und Göttliche des Instinkts wird in jedem Fall, wo er, in welcher Form seiner Einseitigkeit es auch ist, mit seiner Verhärtungsabrichtungskraft verkünstelnd auf irgendeine Menschenmassa, auf irgendein kollektives Verhältnis unseres Geschlechts einwirkt und durch seine diesfällige Einwirkung einen esprit du corps in diese Massa hineinbringt, in seinem Wesen gelähmt und unwirksam. Der Instinkt wirkt auf jede Menschenmassa, von welcher Art diese auch immer sei, mit der verhärteten Gewaltskraft, die jede Art von Menschenvereinigung in ihn selbst hineinbringt, und wo immer dieses der Fall da ist sein Einfluß auf Wahrheit und Recht, folglich auch auf Nationalerlechtung und Nationalglück notwendig gelähmt. Diese Verschiedenheit der Einwirkung des Instinkts auf einzelne Menschen und auf ganze Corps ist von der höchsten Bedeutung und verdient in allen Rücksichten weit größere Beachtung, als er genießt. Er gibt über sehr viele Erscheinungen des menschlichen Lebens entscheidendes Licht, und besonders lassen sich sehr viele öffentliche Handlungen der Regierungen, wenn man ihn heiter ins Auge faßt, gar leicht erklären, die sonst unbegreiflich scheinen. Er gibt insonderheit darüber großen Aufschluß, daß die Menschheit in Rücksicht auf die Individualbesorgung unsers Geschlechts, in Rücksicht auf Volksbildung und Volksbesorgung und den ganzen Umfang der Fundamente des Volkswohls von den Regierungen nicht zuviel und nicht das erwarten darf, was diesfalls von den Individuen im Volk allein geleistet werden kann. Nein, es ist eine ewige, aus der Menschennatur leicht erklärbare und durch die ganze Weltgeschichte bestätigte Wahrheit, was diesfalls von der Belebung und Erhebung der Individuen im Staat, d. h. vom Volk geleistet werden kann, das kann die Regierung nie also leisten. Man darf es auch nicht von ihr erwarten noch viel weniger von ihr fordern. Was man von ihr allein fordern darf, ist, sie soll die Individuen im Volk nicht zur diesfälligen Kraft und Willenlosigkeit versinken lassen, im Gegenteil, sie soll die Kraft- und Willenlosigkeit der Individuen im Volk in dem, was diese in Rücksicht auf die Begründung des öffentlichen Wohls selbst leisten und dazu beitragen könnten, auf jede Weise zu verhüten suchen und nichts versäumen, was jeder einzelne Mensch, jedes Individuum zur Bildung der Einsichten, Neigungen und Fertigkeiten bedarf, um als Individuum das Seine zum öffentlichen Wohl beitragen zu können. Aber es ist mir leid, diesfalls aussprechen zu müssen, unsere Zeitregierungen sind vielseitig diesfalls in den Übungsfertigkeiten, die zu diesem Ziel erfordert werden, nicht stark und nicht lebendig genug. Es ist unwidersprechlich, das Volk unseres Weltteils genießt vielseitig in Rücksicht auf die Bildung der Einsichten, Neigungen und Fertigkeiten, die der einzelne Mensch bedarf, um einerseits durch eine gute Besorgung seiner wesentlichen eigenen Angelegenheiten zur innern Zufriedenheit seiner selbst zu gelangen, anderseits dem Staate alles das anzubahnen, zu begründen und zu sichern, was er bedarf, um als Staat bei den Millionen seiner Individuen kraftvolle Hilfe und Handbietung für das zu finden, was er nur durch den guten Zustand der sittlichen, geistigen und Kunstkräfte dieser Individuen zu erhalten vermag.

Hier eine große LückeAnmerkung zur neuen Ausgabe. So sehr ich gewünscht und mir vorgesetzt habe, die alte Ausgabe dieses Buchs unverändert zu lassen und dem Strom meiner damaligen Ansichten und Gefühle freien Lauf zu lassen, so habe ich hier doch eine große Stelle, die meine damaligen Gefühle über den Volkszustand unsers Weltteils bezeichnet, obgleich der Greuel der Begegnisse in der zwanzigjährigen Zwischenzeit zwischen der ersten und der gegenwärtigen Ausgabe dieses Buchs die Wahrheit meiner diesfälligen Ansichten vielseitig bestätigt, dennoch unterdrückt. Ich mußte sie unterdrücken. Ich fasse in der Stimmung meiner jetzigen Jahre den Zustand des Volks weit mehr mit Wehmut als mit Eifer ins Auge, und die Ansichten, den Übeln der Zeit zu helfen, lenken sich auch weit mehr zu dieser Wehmut als zu der Kraftsprache des jugendlichen Eifers, dessen grelle Äußerungen, wenn sie auch noch so sehr Liebe zur Wahrheit und zum Recht zum Hintergrund haben, dennoch oft das heilige und ewige, innere Wesen der Liebe eher auslöscht als anfacht.

Die Fertigkeiten, von deren Besitz das Können und Tun alles dessen, was der gebildete Geist und das veredelte Herz von einem jeden Menschen fordert, abhängt, geben sich indessen so wenig von sich selbst als die Einsichten und Kenntnisse, deren der Mensch hierzu bedarf; und wie die Ausbildung der Kräfte des Geistes und der Kunst einen der Menschennatur angemessenen, psychologisch geordneten Stufengang der Mittel zu dieser Ausbildung voraussetzt, also ruht auch die Bildung der Kräfte, die diese Fertigkeiten voraussetzen, auf dem tiefgreifenden Mechanismus eines ABCs der Kunst, d. i. auf allgemeinen Kunstregeln, durch deren Befolgung die Kinder in einer Reihenfolge von Übungen gebildet werden könnten, die von den höchst einfachen zu den höchst verwickelten Fertigkeiten allmählich fortschreitend mit physischer Sicherheit dahin wirken müßten, ihnen eine täglich steigende Leichtigkeit in allen Fertigkeiten zu gewähren, deren Ausbildung sie notwendig bedürfen. Aber auch dieses ABC ist nichts weniger als erfunden. Es ist aber auch ganz natürlich, daß selten etwas erfunden wird, das niemand sucht; aber wenn man es suchen würde und etwa gar mit einem Ernst, mit welchem man auch nur ganz kleine Vorteile in der Plusmacherkunst zu suchen gewohnt ist, so wäre es ganz leicht zu finden, und wenn es gefunden wäre, so wäre es ganz gewiß ein großes Geschenk für die Menschheit. Es mußte von den einfachsten Äußerungen der physischen Kräfte, welche die Grundlagen auch der kompliziertesten menschlichen Fertigkeiten enthalten, ausgehen. Schlagen, Tragen, Werfen, Stoßen, Ziehen, Drehen, Ringen, Schwingen usw. sind die vorzüglichsten einfachen Äußerungen unserer physischen Kräfte. Unter sich selbst wesentlich verschieden, enthalten sie alle gemeinsam und jedes für sich die Grundlage aller möglichen, auch der kompliziertesten Fertigkeiten, auf denen die menschlichen Berufe beruhen. Daher ist es offenbar, daß das ABC der Fertigkeiten von frühen, aber psychologisch gereiheten Übungen in diesen Fertigkeiten überhaupt und in jeder einzelnen besonders ausgehen muß. Dieses ABC der Gliederübungen müßte denn natürlich mit dem ABC der Sinnenübungen und allen mechanischen Vorübungen des Denkens mit den Übungen der Zahl- und der Formlehre vereinigt und mit ihr in Übereinstimmung gebracht werden.

Aber wie wir im ABC der Anschauung weit hinter dem Appenzeller Weibe und der Kunst seines papiernen Vogels zurückstehen, so bleiben wir auch im ABC der Fertigkeiten weit hinter den elendesten Wilden und ihrer Kunst im Schlagen, Werfen, Stoßen, Ziehen usw. zurück.

Es ist gewiß, die Stufenfolge von den Anfängen in diesen Übungen bis zu ihrer vollendeten Kunst, das ist bis zum höchsten Grade des Nerventaktes, der uns Schlag und Stoß, Schwung und Wurf in hundertfachen Abwechslungen sichert und Hand und Fuß in entgegenstehenden Bewegungen wie in gleichlaufenden gewiß macht, das alles sind für uns, volksbildungshalber, böhmische Dörfer. Der Grund ist heiter; wir haben nur Buchstabierschulen, Schreibschulen, Heidelbergerschulen, und hierzu braucht es – Menschenschulen. Aber diese können dem Wie-es-ist-Zustand und dem Nepotismus und der Rechtslosigkeit, der sich so gerne an die Elendigkeit dieses Zustandes anschmiegt, in keinem Fall dienen, so wenig als dem Nervenzustand der Notablen, die von der Erbärmlichkeit eines solchen Wie-es-ist-Zustandes befangen sind. Doch ich vergesse beinahe den Gesichtspunkt, von dem ich ausging.

Der Mechanismus der Fertigkeiten geht vollends mit dem der Erkenntnis den nämlichen Gang, und seine Fundamente sind in Rücksicht auf deine Selbstbildung vielleicht noch weitführender als die Fundamente, von denen deine Erkenntnis ausgeht. Um zu können, mußt du in jedem Fall tun, um zu wissen, darfst du dich in vielen Fällen nur leidend verhalten, du darfst in vielen Fällen nur sehen und hören. Hingegen bist du in bezug auf deine Fertigkeiten nicht bloß der Mittelpunkt ihrer Ausbildung, du bestimmst in vielen Fällen zugleich noch das Äußere ihrer Anwendung, aber doch immer inner den Schranken, die die Gesetze des physischen Mechanismus für dich festgesetzt haben. Wie im unermeßlichen Meere der toten Natur Lage, Bedürfnis und Verhältnisse das Spezifische jeder Individualansicht bestimmen, also bestimmt im unermeßlichen Meere der lebendigen Natur, die deine Kraftentwicklung erzeugt, Lage, Bedürfnis und Verhältnisse das Spezifische dieser Fertigkeiten, welche du vorzüglich und einzeln bedarfst.

So wie diese Gesichtspunkte denn auch über die Art und Weise der Ausbildung unsrer Fertigkeiten Licht geben, also geben sie dieses auch über die Art und Weise der Anwendung der gebildeten Fertigkeiten. So wie jede Führung, die uns in der Entfaltung unserer Kräfte und Fertigkeiten von dem Mittelpunkt ablenkt, auf welchem die Individualitätsbesorgung alles dessen ruht, was der Mensch durch die ganze Reihe seiner Lebenstage zu leisten, zu tragen, zu besorgen und zu versorgen verpflichtet ist, als eine der guten menschlichen Kraftbildung entgegenstehende Führung angesehen werden muß, so muß auch jede Führung zur Anwendung unsrer Kräfte und Fertigkeiten, die uns von diesem Mittelpunkt ablenkt und uns also das spezifisch Eigene der nötigen Fertigkeiten schwächt oder raubt, das der eigentliche Lokalitäts- und Personaldienst unsrer selbst von uns fordert oder uns darin mißstimmt und auf irgendeine Art zu demselben unfähig macht. Jede solche Führung muß als eine der guten menschlichen Kunstbildung entgegenlaufende Abweichung von den Gesetzen der Natur, von der Harmonie meiner selbst mit mir selbst und mit meinen Umgebungen, folglich als ein Hindernis meiner Selbstbildung, meiner Berufsbildung, meiner Pflichtentwicklung und als eine täuschende, das Wesen meiner selbst gefährdende Ablenkung von der reinen und liebevollen Anhänglichkeit an die wirkliche Wahrheit meiner Individualität, meiner positiven Verhältnisse angesehen werden; und jede Unterrichts- und Bildungsweise sowie jede Lebensweise, jede Anwendungsart unsrer gebildeten Kräfte und Anlagen im Leben, welche den Samen einer solchen Disharmonie unsrer Bildung und unsers Tuns mit der wirklichen Wahrheit unsers Seins, unsrer Verhältnisse und unsrer Pflichten in sich selbst trägt, muß jedem Vater und jeder Mutter, denen die Beruhigung der Lebenstage ihrer Kinder am Herzen liegt, um so mehr Besorgnisse erregen, da die unermeßlichen Übel unsrer fundamentlosen Scheinaufklärung und selbst der Jammer unsrer elenden Maskeraden-Revolution ihre Quellen vorzüglich in Irrtümern von dieser Art zu suchen haben, die beides, im Unterricht und im Leben, und zwar im Leben unsers unterrichteten und nicht unterrichteten Volks gleich stattfanden. Die Notwendigkeit einer größern Sorgfalt für die psychologische Entfaltungs- und Bildungsweise unsrer Fertigkeiten ist also so wie die psychologische Führung zur Entwicklung unsers Erkenntnisvermögens offenbar. So wie diese psychologische Führung zur Entwicklung unsers Erkenntnisvermögens auf ein ABC der Anschauung gegründet werden und dahin lenken muß, das Kind am Faden dieses Fundaments zur höchsten Reinheit deutlicher Begriffe emporzuheben, also muß auch für die Bildung der Fertigkeiten, auf denen die sinnliche Begründung unserer Tugend beruht, ein ABC dieser Kraftentwicklung ausgeforscht und am Faden desselben eine sinnliche Ausbildung, eine physische Gewandtheit der Kräfte und Fertigkeiten erzielt werden, welche die Lebenspflichten unsere Geschlechts fordern und die wir soweit als das Gängelband unsrer Tugendlehrzeit anerkennen müssen, bis unsere in dieser Führung veredelte Sinnlichkeit dieses Gängelbandes nicht mehr bedarf. In diesen Gesichtspunkten entwickelt sich die allgemeine, dem Menschengeschlecht angemessene Bildungsform der äußern Fertigkeiten, deren Ausbildung die Erfüllung unsrer Lebenspflichten voraussetzt. Sie geht von vollendeten Fertigkeiten zur Anerkennung der Regeln, wie die Bildungsform der Einsichten von vollendeten Anschauungen zu deutlichen Begriffen, und von diesen zu ihrem wörtlichen Ausdruck, zu Definitionen. Daher kommt es auch, daß so wie das Vorherlaufen der Definitionen vor der Anschauung die Menschen allgemein zu anmaßlichen Maulbrauchern macht, ebenso das Vorherlaufen der wörtlichen Lehre von der Tugend und vom Glauben vor der Wirklichkeit der lebendigen Anschauungen der Tugend und des Glaubens selber den Menschen der Tugend und des Glaubens halber zu ähnlichen Verirrungen hinführt; und es ist unleugbar, die Anmaßungen auch dieser Verirrungen führen vermöge der innern Unheiligkeit und Unreinigkeit, die allen Anmaßungen zum Grunde liegt, auch den Tugendhaften und Gläubigen selber allmählich zu den gemeinen Lastern der Anmaßung. Ich glaube auch, die Erfahrung redet dieser Ansicht laut das Wort, und es kann nicht anders sein, die Lücken der sinnlichen Anfangsbildung zur Tugend können nicht wohl andere Folgen haben als die Lücken der sinnlichen Anfangsbildung zu Kenntnissen und Wissenschaften.

Doch ich sehe mich bei den Anfangspunkten eines weit größern Problems, als dasjenige ist, welches ich aufgelöst zu haben glaube, ich sehe mich bei den Anfangspunkten des Problems:

»Wie kann das Kind, sowohl in Absicht auf das Wesen seiner Bestimmung als in Absicht des Wandelbaren seiner Lage und seiner Verhältnisse, also gebildet werden, daß ihm das, was im Laufe seines Lebens Not und Pflicht von ihm fodern werden, leicht und womöglich zur andern Natur wird?«

Ich sehe mich bei den Anfangspunkten der Aufgabe, das Kind im Flügelkleide zum befriedigenden Weib des Mannes und zur kraftvollen, ihrer Stellung genugtuenden Mutter zu machen; ich sehe mich bei den Anfangspunkten der Aufgabe, das Kind im Flügelkleide zum befriedigenden Manne des Weibes und zum kraftvollen, seiner Stellung genugtuenden Vater zu machen.

Welch eine Aufgabe, Freund, dem Sohn des Mannes den Geist seines künftigen Berufes zur andern Natur zu machen! Und welch eine noch höhere Aufgabe, die sinnlichen Erleichterungsmittel einer tugendhaften und weisen Gemütsstimmung ins Blut und in die Adern zu bringen, ehe ihnen die wallenden Lüste der freien Naturgenießungen Blut und Adern für Weisheit und Tugend tief verdorben haben!

Freund! Auch dieses Problem ist aufgelöst. Eben die Gesetze des physischen Mechanismus, die die sinnlichen Fundamente der Weisheit in mir entwickeln, entwickeln auch die sinnlichen Erleichterungsmittel meiner Tugend. Aber jetzt, lieber Freund, ist es mir nicht möglich, in das Detail dieser Auflösung hineinzugehen; ich spare es auf ein andermal.


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