Johann Heinrich Pestalozzi
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt
Johann Heinrich Pestalozzi

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V.

Ich habe dir sie hingeworfen, diese einzelnen Sätze, aus denen, wie ich glaube, der Faden einer allgemeinen und psychologischen Unterrichtsmethode sich herausspinnen läßt.

Sie befriedigen mich nicht; ich fühle es, ich bin nicht imstande, das Wesen der Naturgesetze, auf denen diese Sätze ruhen, mir in ihrer ganzen Einfachheit und in ihrer ganzen Umfassung aufzustellen. Soviel sehe ich, sie haben sämtlich eine dreifache Quelle.

Die erste dieser Quellen ist die Natur selber, vermöge welcher sich unser Geist von dunkeln Anschauungen zu deutlichen Begriffen emporschwingt.

Aus dieser Quelle fließen folgende Grundsätze, die als Fundamente der Gesetze, deren Natur ich nachspüre, anerkannt werden müssen.

  1. Alle Dinge, die meine Sinne berühren, sind für mich nur insoweit Mittel, zu richtigen Einsichten zu gelangen, als ihre Erscheinungen mir ihr unwandelbares, unveränderliches Wesen vorzüglich vor ihrem wandelbaren Wechselzustand oder ihrer Beschaffenheit in die Sinne fallen machen – sie sind umgekehrt für mich insoweit Quellen des Irrtums und der Täuschung, als ihre Erscheinungen mir ihre zufälligen Beschaffenheiten vorzüglich vor ihrem Wesen in die Sinne fallen machen.
  2. An eine jede dem menschlichen Geist zur Vollendung ihres Eindrucks eingeprägte und unauslöschlich gemachte Anschauung reihen sich mit großer Leichtigkeit und soviel als unwillkürlich ein ganzes Gefolge dieser Anschauung mehr oder weniger verwandten Nebenbegriffen.
  3. So wie nun das Wesen einer Sache mit unverhältnismäßig stärkerer Kraft in deinem Geiste eingeprägt ist als ihre Beschaffenheit, so führt dich der Organismus deiner Natur durch sich selber in Rücksicht auf diesen Gegenstand täglich von Wahrheit zu Wahrheit; so wie hingegen die wandelbare Beschaffenheit einer Sache unverhältnismäßig stärker als ihr Wesen in deinem Geiste eingeprägt ist, führt dich der Organismus deiner Natur über diesen Gegenstand täglich von Irrtum zu Irrtum.
  4. Durch das Zusammenstellen von Gegenständen, deren Wesen das nämliche ist, wird deine Einsicht über die innere Wahrheit derselben wesentlich und allgemein erweitert, geschärft und gesichert, der einseitige, überwiegende Eindruck von Beschaffenheiten einzelner Gegenstände zum Vorteil des Eindrucks, den ihr Wesen auf dich machen soll, geschwächt, das Verschlingen deines Geistes durch die isolierte Kraft einzelner Beschaffenheitseindrücke verhütet und du vor der Gefahr bewahret, in eine gedankenlose Vermischung der Außenseite der Gegenstände mit ihrem Wesen und dadurch in eine übertriebene Anhänglichkeit und Vorliebe für irgendeine Sache, die dir eine bessere Einsicht als Nebensache unterordnet, und in die phantastische Kopffüllung mit solchen Nebensachen zu fallen.
    Es kann nicht anders sein, je mehr sich der Mensch wesentliche, umfassende und allgemeine Ansichten der Dinge eigen gemacht hat, je weniger können beschränkte, einseitige Ansichten ihn über das Wesen seines Gegenstandes irrführen; je weniger er hingegen in einer umfassenden Anschauung der Natur geübt ist, je leichter können einzelne Ansichten von einem wandelbaren Zustand einer Sache die wesentliche Ansicht eines Gegenstandes in ihm verwirren und sogar auslöschen.
  5. Auch die verwickelteste Anschauung besteht aus einfachen Grundteilen. Wenn du dich über diese zu einer bestimmten Klarheit gebracht hast, so wird dir das Verwickelteste einfach.
  6. Durch je mehrere Sinne du das Wesen oder die Erscheinungen einer Sache erforschest, je richtiger wird deine Erkenntnis über dieselbe.

Das scheinen mir die Grundsätze des physischen Mechanismus, die sich aus der Natur unsers Geistes selber herleiten. An sich schließen sich die allgemeinen Gesetze dieses Mechanismus selber, davon ich jetzt nur noch dieses berühre: Vollendung ist das größte Gesetz der Natur; alles Unvollendete ist nicht wahr.

 

Die zweite Quelle dieser physisch-mechanischen Gesetze ist die mit diesem Anschauungsvermögen allgemein verwobene Sinnlichkeit meiner Natur.

Diese schwankt in allem ihrem Tun zwischen der Neigung, alles zu kennen und alles zu wissen, und derjenigen, alles zu genießen, die den Drang des Wissens und der Erkenntnis stille stellt, einher. Als bloße physische Kraft wird die Trägheit meines Geschlechts durch seine Nasenweisheit belebt und seine Nasenweisheit hinwieder durch seine Trägheit stille gestellt. Aber weder das Beleben des einen noch das Stillstehen des andern hat an sich selbst mehr als physischen Wert; hingegen als sinnliches Fundament meiner Forschungskraft hat das erste, und als sinnliches Fundament der Kaltblütigkeit im Urteilen hat das zweite einen höhern Wert. Wir gelangen durch den unermeßlichen Reiz, den der Baum der Erkenntnis für unsere sinnliche Natur hat, zu allem unserm Wissen, und durch das Trägheitsprinzipium, das unserm leichten, oberflächlichen Herumfliegen von Anschauung zu Anschauung ein Ziel setzt, reifet der Mensch vielseitig zur Wahrheit, ehe er sie ausspricht.

Aber unsere Wahrheitsamphibien wissen nichts von diesem Reifen; sie quaken die Wahrheit, ehe sie sie ahnen, geschweige ehe sie sie kennen; sie können nichts anderes; es fehlt ihnen sowohl an der Kraft der Vierfüßigen, auf festem Boden zu stehen, als an den Flossen der Fische, über Abgründe zu schwimmen, und an den Flügeln der Vögel, sich gegen die Wolken zu erheben. Sie kennen das willenlose Anschauen der Gegenstände so wenig als Eva und haben daher bei ihrem unreifen Wahrheitsverschlingen mit ihr das nämliche Schicksal.

Die dritte Quelle dieser physisch-mechanischen Gesetze liegt in dem Verhältnis meiner äußern Lage mit meinem Erkenntnisvermögen.

Der Mensch ist an sein Nest gebunden, und wenn er es an hundert Fäden hängt und mit hundert Kreisen umschreibt, was tut er mehr als die Spinne, die ihr Nest auch an hundert Fäden hängt und mit hundert Kreisen umschreibt? Und was ist der Unterschied von einer etwas größeren und einer etwas kleineren Spinne? Das Wesen von ihrem Tun ist: sie sitzen alle im Mittelpunkte des Kreises, den sie umschreiben; aber der Mensch wählt den Mittelpunkt, in dem er wallet und webet, nicht einmal selbst, und er erkennt als bloßes physisches Wesen alle Wahrheit der Welt gänzlich nur nach dem Maße, als die Gegenstände der Welt, die ihm zur Anschauung kommen, sich dem Mittelpunkte nähern, in dem er wallet und webet, und meistens ohne sein Zutun wallen und weben muß.


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