Johann Heinrich Pestalozzi
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt
Johann Heinrich Pestalozzi

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Ich will ein wenig ins Umständliche gehen.

Da ich mich genötigt sah, den Kindern allein und ohne alle Hilfe Unterricht zu geben, lernte ich die Kunst, viele miteinander zu lehren, – und da ich kein Mittel hatte als lautes Vorsprechen, ward der Gedanke, sie während dem Lernen zeichnen, schreiben und arbeiten zu machen, natürlich entwickelt. Die Verwirrung der nachsprechenden Menge führte mich auf das Bedürfnis des Taktes, und der Takt erhöhte den Eindruck der Lehre. Die gänzliche Unwissenheit von allem machte mich auf den Anfangspunkten lange stehen bleiben, und dieses führte mich zu Erfahrungen von der erhöhten innern Kraft, die durch die Vollendung der ersten Anfangspunkte erzielt wird, und von den Folgen des Gefühls der Vollendung und der Vollkommenheit auch auf der niedersten Stufe. Ich ahnete den Zusammenhang der Anfangspunkte eines jeden Erkenntnisfaches mit seinem vollendeten Umriß wie noch nie und fühlte die unermeßlichen Lücken, die aus der Verwirrung und der Nichtvollendung dieser Punkte in jeder Reihenfolge von Kenntnissen erzeugt werden müssen, ebenso wie noch nie. Die Folgen der Aufmerksamkeit auf diese Vollendung übertrafen meine Erwartungen weit. Es entwickelte sich in den Kindern schnell ein Bewußtsein von Kräften, die sie nicht kannten, und besonders ein allgemeines Schönheits- und Ordnungsgefühl. Sie fühlten sich selbst, und die Mühseligkeit der gewöhnlichen Schulstimmung verschwand wie ein Gespenst aus meinem Stuben; sie wollten, – konnten, – harrten aus, – vollendeten und lachten; – ihre Stimmung war nicht die Stimmung der Lernenden, es war die Stimmung aus dem Schlaf erweckter, unbekannter Kräfte, und ein geist- und herzerhebendes Gefühl, wohin diese Kräfte sie führen könnten und führen würden.

Kinder lehrten Kinder. Sie versuchten, ins Werk zu setzen, was ich sagte, das sie tun sollten, und kamen so den Mitteln der Ausführung vielseitig selber auf die Spur, und diese sich vielseitig entfaltende Selbsttätigkeit in den Anfängen des Lernens wirkte mit großer Kraft auf die Belebung und Stärkung der Überzeugung, daß aller wahre, aller bildende Unterricht aus den Kindern selbst hervorgelockt und in ihnen selbst erzeugt werden mußte. Auch hierzu führte mich vorzüglich die Not. Da ich keine Mitlehrer hatte, setzte ich das fähigere Kind zwischen zwei unfähigere; es umschlang sie mit beiden Händen, sagte ihnen vor, was es konnte, und sie lernten ihm nachsprechen, was sie nicht konnten. Sie saßen in inniger Liebe nebeneinander. Freude und Teilnahme belebte ihr Inneres, und ihr gegenseitig erwachtes inneres Leben führte sie beiderseits vorwärts, wie sie nur durch diese vereinigte Selbstbelebung vorwärts geführt werden konnten.

Teurer Freund! Du hast das Gewühl dieses Zusammenlernens gehört und seinen Mut und seine Freude gesehen. Sage selbst, wie war dir, als du es sahest? – Ich sah deine Tränen, und es wallte in meinem Busen die Wut über den Menschen, der es noch aussprechen könnte: Die Veredlung des Volks ist nur ein Traum.'

Nein, sie ist kein Traum; ich will ihre Kunst in die Hand der Mutter werfen, in die Hand des Kindes und in die Hand der Unschuld, und der Bösewicht wird schweigen und es nicht mehr aussprechen: »Sie ist ein Traum.«

Gott! Wie dank ich dir meine Not! Ohne sie spräche ich diese Worte nicht aus und brächte ihn nicht zum Schweigen.

Meine Überzeugung ist jetzo vollendet; sie war es lange nicht; aber ich hatte in Stans auch Kinder, deren Kräfte noch ungelähmt von der Ermüdung einer unpsychologischen Haus- und Schulzucht sich schneller entfalteten. Es war ein anderes Geschlecht; selbst ihre Armen waren andere Menschen als die städtischen Armen und als die Schwächlinge unserer Korn- und Weingegenden. Ich sah die Kraft der Menschennatur und ihre Eigenheiten in dem vielseitigsten und offensten Spiel; ihr Verderben war das Verderben der gesunden Natur, ein unermeßlicher Unterschied gegen das Verderben der hoffnungslosen Erschlaffung und der vollendeten Verkrüppelung der Schulschlechtheit und der Kunstschlechtheit.

Ich sah in dieser Mischung der unverschuldeten Unwissenheit eine Kraft der Anschauung und ein festes Bewußtsein des Anerkannten und Gesehenen, von der unsere Abc-Puppen auch nur kein Vorgefühl haben.

Ich lernte bei ihnen – ich hätte blind sein müssen, wenn ich es nicht gelernt hätte, – das Naturverhältnis kennen, in welchem Realkenntnisse gegen Buchstabenkenntnisse stehen müssen; ich lernte bei ihnen, was die einseitige Buchstabenkenntnis und das ohne einen Hintergrund gelassene Vertrauen auf Worte, die nur Schall und Laut sind, der wirklichen Kraft der Anschauung und dem festen Bewußtsein der uns umschwebenden Gegenstände für einen Nachteil gewähren könne.

So weit war ich in Stans. Ich fühlte meine Erfahrungen über die Möglichkeit, den Volksunterricht auf psychologische Fundamente zu gründen, wirkliche Anschauungserkenntnisse zu seinem Fundamente zu legen und der Leerheit seines oberflächlichen Wortgepränges die Larve abzuziehen, entschieden. Ich fühlte, daß ich das Problem dem Manne von Tiefblick und unbefangener Kraft auflösen könne; aber der befangenen Menge, die wie Gänse, welche, seitdem sie aus der Schale geschloffen, im Stall und in der Küche gefüttert wurden, alle Flug- und Schwimmkraft verloren hat – dieser befangenen Menge konnte ich noch nicht weiß machen, was ich wohl wußte.

Es war Burgdorf vorbehalten, mich hierfür in die Schule zu nehmen.

Aber denke dir, du kennst mich, denke dir, mit welchen Gefühlen ich von Stans wegging. Wenn ein Schiffbrüchiger nach müden, rastlosen Nächten endlich Land sieht, Hoffnung des Lebens atmet und sich dann wieder von einem unglücklichen Winde in das unermeßliche Meer geschleudert sieht, in seiner zitternden Seele tausendmal sagt: warum kann ich nicht sterben? – und sich dann doch nicht in den Abgrund hinabstürzt, und dann doch noch die müden Augen aufzwingt und wieder umherblickt und wieder ein Ufer sucht, und wenn er es sieht, alle seine Glieder wieder bis zum Erstarren anstrengt, – also war ich. –

Geßner! Denke dir das alles, denke dir mein Herz und meinen Willen, meine Arbeit und mein Scheitern – mein Unglück und das Zittern meiner zerrütteten Nerven und mein Verstummen – So, Freund! so war ich in diesem Zeitpunkt des Scheidens von Stans und bei meiner Ankunft in Bern.

 

Fischer verschaffte mir daselbst die Bekanntschaft Zehenders vom Gurnigel, und ich fand an diesem Ort durch die wohltätige Güte des letztern Tage der Erholung. Ich hatte sie nötig. Es ist ein Wunder, daß ich noch lebe. Aber es war nicht mein Ufer, es war ein Stein im Meer, auf dem ich ruhete, um wieder zu schwimmen. – Ich vergesse diese Tage nicht, Zehender! so lang ich lebe; sie retteten mich, aber ich konnte nicht leben ohne mein Werk, selbst in dem Augenblicke, da ich auf des Gurnigels Höhe das schöne, unermeßliche Tal zu meinen Füßen sah, denn ich hatte noch nie eine so weite Aussicht gesehen, und dennoch dachte ich bei diesem Anblick mehr an das übel unterrichtete Volk als an die Schönheit der Aussicht. Ich konnte und wollte nicht leben ohne meinen Zweck.

Mein Verreisen von Stans, das, ungeachtet ich dem Tode nahe war, nicht eine Folge meines freien Entschlusses, sondern eine Folge militärischer Maßregeln und einer einstweiligen, gänzlichen Unmöglichkeit der Fortsetzung meines Plans war, erneuerte das alte Gewäsch über meine Unbrauchbarkeit und gänzliche Unfähigkeit, bei irgendeinem Geschäfte auszuharren. »Ja, so fünf Monate lang«, sprachen selbst meine Freunde, »ist es ihm möglich, sich so zu stellen, als wenn er arbeiten könnte, aber in den sechsten hinein geht's gewiß nicht. Man hätte es voraus wissen sollen. Er kann nichts ganz und war im Grunde nie zu etwas Wirklichem tüchtig als einmal zu einem Romanen; allein er hat sich auch hierin überlebt.« Man sagte mir ins Gesicht, es sei eine Torheit, um deswillen, daß ein Mensch in seinen dreißiger Jahren etwas Vernünftiges geschrieben, ihm darum auch zuzutrauen, daß er in seinen fünfziger Jahren etwas Vernünftiges tun könne. Man sagte es laut, das Höchste, das man zu meinem Vorteil eingestehen könne, sei dieses: ich brüte über einem schönen Traum und habe wie alle Narren, die über etwas brüten, hie und da über meinen Traum und über mein Steckenpferd einen lichtvollen Gedanken. Es versteht sich, daß mich niemand verhörte; indessen war man im Urteil einstimmig, es sei nichts anderes, als die Sachen seien mir in Stans wieder verleidet, und es werde mir wirklich alles verleidet.

F.... hat mir in dieser Hinsicht ein sonderbares Freundesgespräch zu Ohren gebracht. Es geschah in einer offenen Gesellschaft; aber ich beschreibe das Nähere davon nicht. Der Erste sagte:

Hast du gesehen, wie entsetzlich er aussieht?

Der andere. Ja, der arme Narr dauert mich.

Der Erste. Mich auch, aber es ist ihm nicht zu helfen. Allemal, wenn er einen Augenblick einen Schein von sich wirft, daß man glaubt, er könne wirklich etwas, so ist's den Augenblick darauf wieder dunkel um ihn her, und wenn man näher hinzukommt, so hat er nur sich selber verbrennt.

Der andere. Hätte er es nur einmal ganz getan! Es ist ihm doch nicht zu helfen, bis er Asche ist!

Der Erste. Man muß, weiß Gott, das bald für ihn wünschen!

Das war der Lohn meiner Arbeit in Stans; einer Arbeit, die vielleicht noch kein Sterblicher in diesem Umfang und unter solchen Umständen versuchte und deren innerer Erfolg mich wesentlich auf den Punkt brachte, auf dem ich jetzt stehe.

Man erstaunte, als ich vom Gurnigel mit meinem alten Willen und mit meinem vorigen Zweck wieder herabkam und nichts anderes wollte und nichts anderes suchte, als den Faden in irgendeinem Winkel und ohne irgendeine Nebenrücksicht wieder anzuknüpfen, wo ich ihn gelassen.

Rengger und Stapfer freuten sich; der Oberrichter Schnell riet mir, nach Burgdorf zu gehen, und in ein paar Tagen war ich dort und fand am Statthalter Schnell und am Doktor Grimm Männer, die den lockern Sand, auf dem unsere alten, morschen Schulstuben jetzt stehen, kannten und es nicht unmöglich fanden, daß unter diesem Riessand dennoch fester Boden zu finden sei. Ich bin ihnen Dank schuldig. Sie schenkten meinen Zwecken Aufmerksamkeit und halfen mir mit Tätigkeit und Wohlwollen die Laufbahn gründen, die ich suchte.

Sie war aber auch hier nicht ohne Schwierigkeiten. Zum Glück achtete man mich gleich im Anfange so ungefähr wie jeden andern Schulmeister, der mit Herumlaufen sein Brot sucht. Einige reiche Leute grüßten mich freundlich; einige Geistliche wünschten mir sehr höflich, aber ich muß sagen, sehr sichtbar ohne Zutrauen Gottes Segen zu meinem Vorhaben; einige kluge Menschen glaubten, es könnte für ihre Kinder doch etwas Nützliches dabei herauskommen; – alles schien sich gar ordentlich dahin zu bescheiden, warten zu wollen, bis es sich zeige, was etwa herausgucken werde.

Aber der Hintersassen-Schulmeister in der untern Stadt, an dessen Stube ich eigentlich angewiesen war, packte die Sache etwas tiefer. Ich glaubte, er ahnete, der letzte Zweck meines eifrigen Abc-Krähens sei am Ende, seinen Posten mit Haut und Haar in meinen Sack zu kriegen. Einmal verbreiteten sich gar bald in den Gassen, die an ihn stoßen, die Gerüchte, der Heidelberger sei in Gefahr. Dieser aber ist in den reformierten Städten der Schweiz noch immer die Speise, an der man die Jugend der gemeinen Bürger und Hintersassen wohlbedächtlich so lange stehen läßt als immer die verwahrlosesten Bauerntölpel auf den Dörfern, und du weißt es, daß man diese bei uns daran stehen läßt, bis sie zum Heera ga bäta müend, d. i. bis zu ihrem Eheversprechen.

Doch der Heidelberger war nicht das einzige. Man raunte sich in diesen Gassen noch in die Ohren, ich könne selber nicht schreiben, nicht rechnen und nicht einmal recht lesen.

Nun, mein Freund, du siehst, es ist an den Gassengereden nicht immer alles unwahr; ich konnte wirklich weder recht schreiben noch lesen noch rechnen. Aber man schließt aus solchen wirklichen Gassenwahrheiten immer zu viel. Du hast es in Stans gesehen; ich konnte schreiben lehren, ohne selbst recht schreiben zu können, und gewiß war mein Nichtkönnen von allen diesen Dingen wesentlich notwendig, um mich zu der höchsten Einfachheit der Lehrmethode und dahin zu bringen, Mittel zu finden, durch die auch der Ungeübteste und Unwissendste hierin mit seinen Kindern zum Ziele kommen könne.

Inzwischen war es den Hintersassen in Burgdorf auch nicht zuzumuten, daß sie das alles zum Voraus annehmen, noch weniger daran glauben sollten. Sie taten es auch nicht. Sie erkannten bei einer Zusammenkunft, sie wollen mit der neuen Lehre die Probe nicht an ihren Kindern machen, die Bürger sollen es an ihren eigenen probieren.

Das geschah auch. Gönner und Freunde brachten es mit aller Kunst, die an einem solchen Orte und für einen solchen Zweck nötig ist, endlich dahin, daß ich den Zutritt in den untersten Lehrschulen der obern Stadt erhielt.

Ich schätzte mich glücklich. Doch ich war im Anfang wie verscheucht. Ich fürchtete alle Augenblicke, man schicke mich noch einmal aus meiner Schulstube. Das machte mich wahrlich noch ungeschickter, als ich sonst bin, und wenn ich mir das Feuer und das Leben denke, mit dem ich in Stans in den ersten Stunden mir gleichsam einen Zaubertempel bauete, und dann das Zagen, mit dem ich in Burgdorf handwerksmäßig in ein Schuljoch hineinkroch, so begreife ich fast nicht, wie der gleiche Mensch beides, das erste und das andere, tun konnte.

Es war hier Schulordnung, Schein von Verantwortlichkeit, etwas Pedanterie und Anmaßung. Das alles war mir fremd. Ich hatte so etwas in meinem Leben nicht getragen, aber ich wollte meinen Zweck und trug es jetzt; krähte wieder täglich mein Abc vom Morgen bis zum Abend und fuhr planlos in dem empirischen Gange fort, den ich in Stans abbrechen mußte. Ich setzte unermüdet Silbenreihen zusammen; ich beschrieb ganze Bücher mit ihren Reihenfolgen und mit Reihenfolgen von Zahlen und suchte auf alle Weise die Anfänge des Buchstabierens und Rechnens zu der höchsten Einfachheit und in Formen zu bringen, die das Kind mit der höchsten psychologischen Kunst vom ersten Schritt nur allmählich zum zweiten, aber dann ohne Lücken, und auf das Fundament des ganz begriffenen zweiten schnell und sicher zum dritten und vierten hinaufbringen müssen. Aber anstatt der Buchstaben, die ich die Kinder in Stans mit dem Grigel zeichnen machte, ließ ich sie jetzt Winkel, Vierecke, Linien und Bogen zeichnen.

Bei dieser Arbeit entwickelte sich allmählich die Idee von der Möglichkeit eines Abc der Anschauung, das mir jetzo wichtig ist und mit dessen Ausführung der ganze Umfang einer allgemeinen Unterrichtsmethode mir in seiner ganzen Umfassung, aber freilich jetzo noch dunkel, vor Augen stand. Es dauerte noch lange, bis er mir heiter ward, und es ist dir unbegreiflich, aber es ist gewiß wahr: ich hatte alle Anfangspunkte eines die Zurückführung der Mittel des Unterrichts auf seine Elemente anbahnenden Versuchs schon Monate lang bearbeitet und alles getan, sie zur höchsten Einfachheit zu bringen; dennoch kannte ich ihren Zusammenhang noch nicht oder war mir wenigstens desselben noch nicht deutlich bewußt; doch fühlte ich mit jeder Stunde mehr, daß ich vorwärts rückte, und stark vorwärts rückte.

Man hat mir in meinen Knabenschuhen schon gepredigt, es sei eine heilige Sache um das Von-unten-auf-Dienen. Aber ich habe jetzt erfahren, um Wunder zu leisten, muß man mit grauen Haaren von unten auf dienen. Ich will keine leisten und bin auch dafür auf keine Weise weder geschaffen noch eingerichtet. Ich werde weder in der Wahrheit solche Höhen erreichen noch auf irgendeine Weise den Schein ihrer Scharlatanerie in meine Hände bringen. Wenn ich auch wollte, ich könnte nicht. Ich kenne den Grad der jetzigen Abschwächung meiner Kräfte; aber wenn Männer, die in meinem Alter noch ihren ganzen Kopf und unzerrüttete Nerven hätten, in einer Sache, wie die meinige, also von unten auf dienen wollten oder müßten, sie würden auf beiden Wegen dahin kommen. Doch nein, solche Männer suchen in meinem Alter, wie billig und recht ist, ihre Armsessel. Mit mir hat es nicht diese Bewandtnis. Ich muß jetzt in meinen alten Tagen noch froh sein, daß man mich nur von unten auf dienen läßt. Ich tue es gerne, aber nach meiner eigenen Weise. Ich suche mit allem meinem Tun und mit allem meinem Streben nur die Heerstraße, deren Vorteile darin bestehen, daß ihre gerade Richtung und ihr offener Lauf den Zauber aller Winkelwege, auf denen die Menschen sonst gewöhnlich zur Ehre und auch zu Wundern gelangen, verschwinden macht. Wenn ich das Äußerste leiste, was ich suche, so brauch' ich es nur auszusprechen, und der Einfältigste macht es nach. Aber trotz meinem deutlichen Voraussehen, daß ich es weder zur Ehre noch zu Wundern bringen werde, achte ich es doch für die Krone meines Lebens, jetzo noch so in meinen alten Tagen in diesem Geschäfte jahrelang von unten auf gedient zu haben. Die Vorteile davon fallen mir mit jedem Tage mehr auf. Indem ich also alle Teile der staubigen Schulpflichten nicht bloß oberflächlich in die Hand nahm, sondern vom Morgen acht Uhr bis abends sieben Uhr, wenige Stunden unterbrochen, immer forttrieb, stieß ich natürlich alle Augenblicke auf Tatsachen, die das Dasein der physisch-mechanischen Gesetze, nach welchen unser Geist alle äußeren Eindrücke leichter oder schwerer aufnimmt und behält, bescheinen. Ich organisierte auch meinen Unterricht täglich mehr auf das Gefühl solcher Regeln, aber ich war mir ihres Grundsatzes wahrlich so lang nicht bewußt, bis der Vollziehungsrat Glayre, dem ich das Wesen meines Tuns vorigen Sommer einmal verständlich zu machen suchte, zu mir sagte: Vous voulez mécaniser l'éducation. – Ich verstand noch sehr wenig Französisch. Ich dachte mir unter diesem Wort, er wolle sagen, ich suche die Mittel der Erziehung und des Unterrichts in psychologisch geordnete Reihenfolgen zu bringen, und das Wort in diesem Sinn genommen, traf er wirklich den Nagel auf den Kopf und legte mir nach meiner Ansicht das Wort in den Mund, welches das Wesen meines Zweckes und aller seiner Mittel bezeichnete. Ich wäre vielleicht noch lange nicht darauf gefallen, weil ich mir bei meinem Gange über nichts selber Rechenschaft gab, sondern mich ganz dunklen, aber lebendigen Gefühlen überließ, die meinen Gang zwar sicherten, aber mich ihn nicht selbst kennen lehrten; ich konnte nicht anders. Ich habe seit dreißig Jahren kein Buch mehr gelesen und konnte keines mehr lesen; ich hatte für abstrakte Begriffe keine Sprache mehr und lebte nur in Überzeugungen, welche Resultate unermeßlicher, aber meistens vergessener Intuitionen waren.


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