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Zwölftes Kapitel

Karl erwachte von selbst. Es war noch nicht ganz Tag. Wenige Minuten später, punkt sieben Uhr, klopfte der Hausbursche an die Tür. Karl schickte nach einem Fiaker und kleidete sich rasch an.

Man pflegte im Hause spät aufzustehen. Alles lag noch in vollkommener Ruhe, und es gab noch kein Frühstück. Der Zug ging um acht Uhr zehn Minuten. Als Karl das Haus verließ, war es halb acht. Man brauchte im Fahren höchstens zwanzig Minuten bis zum Ostbahnhof.

Wie ruhevoll er nun im offenen Wagen auf den leichten Gummirädern schwebte, am Seinekai entlang, den Fuß auf der Handtasche. In diesem glatten Davonjagen empfand er nichts mehr von Flucht. Fahrt hin, unbedauert, Pläne von gestern morgen! Er war fertig mit Paris. Es war ihm, als habe er acht Monate, nicht acht Tage, hier verbracht. Tröstlicher, hoffnungsvoller Gedanke, daß da ein Zug bereitstand, um ihn in vierundzwanzig Stunden in sein altes Selbst zurückzufahren. Aus kleineren Provinzblättern daheim würde er die weiteren Ereignisse in dieser Stadt verfolgen; vielleicht eines Tages überhaupt vergessen, sich um sie zu kümmern.

Der Himmel war bewölkt, es regnete ein wenig. Der Anblick des kalt hinschmelzenden Flusses machte das Herz erschauern. Die Straßen zeigten noch die kühle Nüchternheit der Frühe. Karl fühlte erfrischt die Wärme seiner Haut in den vom Luftzug des Fahrens durchwehten Kleidern.

Ein öder Hunger schien mit den gedehnten hageren Wolken über der Stadt hinauszuschleichen. Jener letzte Tiefstand der Lebensäußerung schien erreicht, der eine große Stadt am Morgen so unbeweglich still erscheinen läßt, der Augenblick des Gleichgewichts, dem unmittelbar wie eine rasch hereinbrechende Flut die unsichtbare Feuersbrunst von Wärme, Tätigkeit und Lebensfreude folgt, die mit der Gleichzeitigkeit der Uhren plötzlich aus tausenden schlummernder Keime die ganze Welt am Morgen erfaßt.

Der Kutscher schlug, statt über die Insel, den Weg über die Louvrebrücke und über den Karussellplatz ein; und so kam Karl unvermutet noch einmal durch die Rue des Petits Champs an der Mexiko Bar vorüber. Die Tür stand weit offen, auf dem Trottoir davor lag ein Kehrichthaufen. Vor den Hausgängen der engen Altstadtstraßen stocherten Lumpensammler mit ihren Haken in den Abfällen.

Dann mischte sich der Fiaker in den frühen Wagenverkehr des Boulevard de Straßbourg.

Gleich darauf hielt man am Ostbahnhof.

 

In dem weitläufigen Bahnhofsgelände suchte Karl den Billettschalter. Gruppen von Polizisten patrouillierten in den Wandelgängen. Der Beamte, der ihm das Billett verkaufte, machte darauf aufmerksam, daß der Zug mit Verspätung abgehen werde. Als Karl zu den Bahnsteigen hinaustrat, sah er aufgeregte Menschen. Eine Serie von Zügen stand da wie zur Abfahrt; auf einem Täfelchen am hinteren Ende jedes Zuges war die Abfahrtzeit angegeben. Auch der Acht-Uhr-Schnellzug stand geöffnet da, aber noch niemand hatte ihn bestiegen. Da standen die Züge, mit dem Rücken zur Stadt, wie Rennpferde am Startplatz, bereit, loszubrechen. Aber Prometheus hatte ihnen an diesem Morgen ihr feuriges Futter nicht gegeben: lahm und ohne Leben standen sie da, und die wenigen Beamten, die man fragen konnte, zuckten die Achseln. Es war ein Streik ausgebrochen.

Ein höherer Eisenbahnbeamter betrat den Perron und verkündete den Passagieren, daß der Zug zur Grenze auf alle Fälle abgehen werde; man bitte, eine Stunde zu warten. Die Lokomotive solle von Ingenieuren gefahren werden.

Karl ging mit der Mehrzahl der Passagiere nach den Wartezimmern. Er fragte nach der Restauration; nun war ja Zeit genug, um zu einem Glas Kaffee zu kommen. Als er hörte, daß es eine Bahnhofswirtschaft nicht gab, verließ er, mit seinem Handkoffer beladen, das Gebäude, um ein Restaurant in der Nachbarschaft aufzusuchen. Er ging quer über den von Eisengittern eingefaßten Platz.

Da waren gleich rechts in der Rue d'Alsace die typischen blauen Glasscheiben und die Aufschrift »Au Grand Chope« auf dem schmutzigen Rand eines Fenstersegels.

Er betrat das schmale, altmodische Lokal. Eine Frau und ein kleines Mädchen standen hinter dem Schanktisch und putzten Geschirr. Der Boden dunstete naß und kalt vom Aufwaschen. Eine alte Frau saß an einem der Tische und schlürfte ihren Milchkaffee. Auf dem Büfett fehlte nicht der übliche Korb mit den Hörnchen.

Karl setzte seine Tasche neben sich auf den Boden und nahm von dem Kinde ein Glas des dampfenden, braunschwarzen Getränks, das er mit wärmebegierigen Händen umfaßte.

Da fiel ein Schatten von der Straße in die offene Tür. Ein Mann stand da, in Lumpen, mit einem bleichen, platten Gesicht und toten Augen. Mit einem Blick, der erstarren machte, maß er Karl von oben bis unten. Es war der Unbekannte.

Ohne ein Wort zu sagen, hob er den Arm und streckte ihn wie zeigend aus gegen Karls Gesicht. Aus der Faust trat der schwarze Lauf einer Waffe hervor, kaum länger als ein Daumennagel. Abwehrend warf Karl den Arm vors Gesicht.

Es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß ihn in diesem Augenblick die Erde Europas, die ihn erzeugt und ihn den Geistern ihres Alters preisgegeben hatte, vernichtete; daß Amerika, das ihn in seiner großen rauhen Jugend einst zu sich gezogen, verjüngt, gesteigert hatte, von fern noch mithalf, ihn in jene Tiefe hinabzustürzen, die im Verlöschen endet; daß es in diesem Augenblick für immer zu spät war, daß noch eine Seele auf Erden in ihm den erkannte, der er war: in dem kühnen, zarten Phantasten voll Liebe und sehnender unentwickelter Fruchtbarkeit eine der zehntausend Fleischwerdungen Gottes, die in dieser grauen, heulenden Welt des Teufels strahlenäugige, helle Häupter erheben, um zu siegen und zu herrschen oder ausgerottet und besiegt zu werden, um sterbend noch der großen Fülle des Heiligen Geistes zuzufließen, die wie ein Elmsfeuer zuweilen auf den Spitzen irdischer Schiffe lodert. Es war ihm nur, als ob mit einem scharfen, langgespannten Krach der ganze Kubus des Raumes, in dem er stand, auseinanderbreche, als ob ein Blitz von stahlgrauem Licht aus ihm emporschlage. Es hob ihn hoch wie in einem ungeheuren Sprung und schmetterte ihn mit durchschlagender Schwere in eine weitgeöffnete Nacht hinunter. Finsternis umfing ihn, undurchdringlich wie Stein, und breitete sich aus wie ein ungeheurer Berg, aus dem ein kleiner Quell von Wärme sich hingoß, der in einer plötzlichen Kälte furchtbar erschauerte. Dann war es Nacht.

 

Bratengeier hatte Karl am Sonntagabend verlassen, rot im Gesicht vor Glück über die dreißig Franken, die er in der Tasche trug, doch mit zögerndem, belastetem Schritt, denn sein Gewissen klopfte.

Er war ein unaufrichtiger Mensch. Im Grunde verdankte er das Geld einer Lüge. Nicht wegen einer Unterschlagung war er aus der Heimatstadt geflohen; er hatte an einem Mädchen, fast noch einem Kinde, ein gemeines Verbrechen begangen und vor dem drohenden Skandal die Flucht ergriffen. Er wußte wohl, daß er es nie wieder wagen durfte, seiner alten Mutter unter die Augen zu treten. Jammervolle Briefe hatte er ihr aus seinem Elend geschrieben; eine Antwort war nie gekommen. Sein Heimweh war echt; doch noch im Augenblick, da er dem Landsmann sein Schicksal erzählte, mischten sich unter die Wahrheit, die sein Herz rühren sollte, Lügen und Beschönigungen. Sein Auge war geschärft für die Menschen mit dem milden Herzen ... Nicht alle Tage laufen sie einem armen Lumpen über den Weg. Er wußte wirklich nicht, ob ein Steckbrief hinter ihm erlassen war, es war ja wohl möglich.

Seit seiner Flucht waren Monate vergangen; konnte nicht schon in dieser Zeit Gras über die Sache gewachsen sein? Vielleicht konnte er es ruhig wagen, sich in einem Winkel der alten Heimat zu verkriechen und etwas wie ein neues Leben zu beginnen. Nur Gewißheit mußte er haben, ob die Familie ihm dann noch einmal aufhelfen würde: er brauchte jemand, der ihm berichtete, wie seine Sache stand. Die Brüder antworteten auf seine Briefe ebensowenig wie die Mutter. Für die Seinen war er tot. Aber ob nicht doch die Mutter ihm eine Nachricht, ein gutes Wort zu senden hätte, heimlich vielleicht ... auf die Fürsprache eines andern, der ihr sein Elend schilderte? Warum, ja warum eigentlich hatte er dem Fremden, der ihm zu helfen bereit war, nicht alles das gesagt? Welch ein alberner Rest von Einbildung war noch in ihm? Nun hatte er die Folgen seines Verschweigens: das Reisegeld hielt er in der Hand, um nach Hause zu fahren. Warum schenkte ihm der Geber nicht auch den Mut, zurückzukehren!

Dem armen Teufel ging ein Zittern durch den ganzen Körper von den beiden Goldstücken in seiner Tasche. Und diese kleinen Goldstücke sollten ihn mit einem Male aus Paris hinausschleudern, das am Ende barmherziger war als die Heimat. Verstand er es nicht schon ein wenig, sich selbst in dieser harten Stadt das Glück gefügig zu machen? Das Geld in seiner Hand durchströmte ihn mit den Wonnen eines Spielers. Es schien, als ob es das Schicksal doch nicht so schlimm mit ihm meinte; daß es ihm einmal wieder festen Boden unter die Füße geben wollte. Aber es war auch möglich, daß das die letzte Chance war, und wenn er sie nicht benutzte, daß er eines Tages unter einer dieser Brücken an der Seine verhungerte, oder daß auch ihm eines Tages ein Autobus oder eine ratternde Lokomotive der Vorstadtbahn den Kopf vom Halse trennte. Der verkommene rheinische Weinhändlerssohn hatte vor einigen Tagen Ähnliches gesagt und war seitdem verschwunden ... Bratengeier schloß die beiden Münzen fest in seine Faust, bis sie sich feucht anfühlten. Sie brannten ihn förmlich. Wenn er einfach dem Willen des Gebers folgte, dann öffneten sie ihm doch vielleicht zuletzt die schmale Pforte in die Heimat und zur Verzeihung. Aber es war, als ob ein Gewicht von Trotz und Unglauben ihn lähmte. Hilflos und feige schlich er durch das glänzende, wimmelnde Leben des Boulevard de Sebastopol und bog dann in die winkligen Straßen der Altstadt. Alles war verloren; die Hinterstube der Mexiko Bar hatte ihn wieder.

Da standen die Männer, die aufgeregt vom Umzug sprachen.

Ein Plappern war in allen Ecken, lärmend und prahlerisch. Auch der Armseligste hatte sich heute berauscht an der Macht der Masse, in die er eingebaut war wie in den Körper eines Riesen. Ein solches Aufgebot von Polizei und Militär war noch nie gesehen worden; man behauptete, daß das Militär im Ernstfall nicht auf die Menge geschossen haben würde. Jemand stimmte die Internationale an, die ganze Gesellschaft sang mit. Man schlug den Takt mit den Fäusten auf die Tische, schlug klirrend mit Löffeln und Taschenmessern an die Gläser.

»Tod den Spitzeln!« schrie eine heisere Stimme.

Auch die Deutschen waren da und saßen zankend in ihrer Ecke. Der alte Hunold erzählte zum zehnten Male die Geschichte von seinem Bajonett und schimpfte zornig auf den »feinen Affen«. Bratengeier verstand recht wohl, daß er niemand anderes meinte als Fleming. Schinkiewitz, sonst der lebhafteste von allen, saß blaß für sich da und sagte kein Wort.

Später erschien Scappini mit dem Menschen, den man beim Umzug immer neben ihm gesehen hatte. Ein vielstimmiges »Huhu« brach los, als die beiden eintraten. Es war, als hätten sie eine Atmosphäre von Mißtrauen mitgebracht. Man redete von Spitzeln, warf feindselige Blicke zu den Deutschen hinüber. Man sprach von Fleming, nannte seinen Namen. Bratengeier nahm sich vor, ihn morgen zu warnen, ihm zu raten, sich nie wieder unter diesen Menschen sehen zu lassen. Mit Tränen wollte er ihn bitten, nach Deutschland zurückzukehren, ihn nicht zu vergessen und den Brief für ihn zu schreiben. Er wollte ihm das Geld wiedergeben, ihm reumütig alles sagen. Scham überwältigte ihn. Er begann zu trinken, lud die anderen ein ... und erwachte in der grauen Kälte des Morgens auf einer Bank in der Nähe der Markthallen, ausgeplündert, ohne ein letztes schmutziges Nickelstück in der Tasche.

 

Einer jener Apachen, die Paris durch ihre nächtlichen Taten erschrecken, ein Unglücklicher, im Armenhaus geboren, im Gefängnis und zwischen Dirnen großgezogen, ein Vergifteter und Verzweifelter, dem Erpressungen und Einbrüche, Mord und Selbstmord feierliche Lüste waren, war der Unbekannte, der mit Karl Fleming in dem großen Zuge ging. Dieser Unglückliche, Danjou mit Namen, der Scappini folgte, war ein Mann der »Avantgarde«. Der Italiener hatte ihm den jungen Deutschen gezeigt und ihm kurz und geheimnisvoll befohlen, aufzupassen.

Er sah die unwillkürliche Bewegung des Abscheus, mit der sich Karl aus der Masse losriß, sah, wie er sich weigerte, mit seinen Leuten auf der Place de la Concorde vorzurücken, sah, wie er schwieg und seines Weges ging. Er betrachtete mit steigendem Haß dieses glatte, heitere Gesicht, diese weibischen Unschuldsaugen. Er folgte ihm und beobachtete den Vorfall am Seinekai und war nun außer Zweifel, mit wem man es zu tun hatte. Von jetzt an heftete sich der Verfolger wie ein Schatten an die beiden Männer, die da zur Stadt gingen. Er sah, wie der Fremde seinen Begleiter vor ein Hotel führte, ihn warten ließ, ihm Geld aushändigte. Vorsichtig folgte er ihm weiter, trat ihm dann plötzlich im grellen Schein des Bäckerladens entgegen. Wie er erschrak! Kein Wunder. Der Deutsche war ein Verräter, ein Spion, einerlei welcher Art ...

Er sagte alles am selben Abend Scappini, der ihm weitere Wachsamkeit anbefahl.

 

Bratengeier trieb sich verzweifelt den ganzen Montag an der Seine, in der Nähe der Rue des Saint-Pères umher. Ein paarmal faßte er ein Herz, den Hausburschen des Hotels nach Karl zu fragen. Jedesmal sagte man ihm, Monsieur sei ausgegangen. Er lief in die Rue des Petits Champs und wartete, doch vergeblich. Noch einmal, um neun Uhr abends, wollte dann Bratengeier an der Tür fragen, ehe das Haus geschlossen wurde. Im Augenblick, als er sich dem hell beleuchteten Eingang näherte, bemerkte er die Gestalt eines Mannes, der regungslos im Dunklen des Nachbarhauses stand. Bratengeier erkannte ihn und erschrak. Und ohne sein Vorhaben auszuführen, machte er sich um die nächste Straßenecke aus dem Staube.

 

Früh am Dienstag trat der Beobachter seinen Posten wieder an. Und doch kam er schon fast zu spät: eben hob der Hausbursche Karls Gepäck in die Droschke. Einen Augenblick später setzte sie sich in Bewegung und verschwand um die Ecke. Der Deutsche machte sich davon!

Ohne sich zu besinnen, lief der Verfolger dem fahrenden Fiaker nach. Man mochte ihn für einen Bagotier halten, der hinter den Droschken herläuft, um bei der Ankunft seine Dienste anzubieten. Er rannte, so rasch er konnte, aber er holte den Vorsprung nicht ein. Der Wagen verschwand. Der Laufende vermutete aufs Geratewohl, daß es zum Ostbahnhof ginge, und schlug einen kürzeren Weg dahin ein.

Als er am Bahnhof ankam, fand er den Fiaker nirgend wieder. Wenn der Wagen den Deutschen überhaupt hierhergebracht hatte, so mußte er sehr rasch gefahren sein. Vor den Schaltern, in den Gängen war von dem Flüchtling keine Spur zu finden. Er war ihm entwischt, vielleicht für immer. Man hatte ihn gewarnt, das schien außer Frage. Der Deutsche saß womöglich schon im Zuge, unterwegs zur Grenze. Vor den Augen der Polizisten wagte sich der Strolch nicht bis zu den Bahnsteigen. Das ungewöhnliche Leben vor dem Bahnhof fiel ihm auf. Jetzt erst hörte er, daß an diesem Morgen die Eisenbahnbeamten in den Ausstand getreten waren, und daß heute noch kein einziger Zug abgefahren war.

Noch einmal begann er gründlich zu suchen, durchschritt die Gänge des Bahnhofes, lief zu den Gepäckräumen, zur Droschkenhaltestelle und fand den Gesuchten nirgend. Er gab es endlich auf. Doch jetzt, als er auf die Treppe vor dem Bahnhofsgebäude hinaustrat, hätte er fast einen Schrei ausgestoßen. Dort, kaum hundert Schritte entfernt, ging der Deutsche über den Platz, anscheinend im Begriff, in die Stadt zurückzukehren. Und nun sah er ihn zu seinem Staunen in ein Restaurant verschwinden.

»Gefangen!« triumphierte der Verfolger, und sein bleiches Gesicht rötete sich. Er stürzte förmlich hinter Karl her, in der jähen Gier, sein Opfer zu überraschen. Und dann vollstreckte er das Urteil, das keinen Aufschub duldete, vor dem Angesicht Gottes des Schrecklichen.

Er sah sein Opfer stürzen, hörte den Aufschrei der Frauen und rannte fort. Fast warf er einen Fleischergesellen um, der gerade auf der Straße vorbeiging; mit einem langgezogenen gellenden Schrei stürzte die alte Frau ihm nach auf die Straße. Der Mörder rannte, hinter ihm her der Fleischer, die alte Frau, Kutscher, Nachbarn, Polizisten, die sich zur Verfolgung einigten. Er schwang seinen Revolver drohend rückwärts, die Menschen wichen erschreckt zur Seite; er rannte um sein Leben. Schrille Polizeisignale stiegen in die Luft, ein Brausen, ein Schreien erhob sich um ihn, die grellen Signalpfeifen zerrissen ihm die Besinnung. Menschen schienen auf ihn zuzufliegen, schon spürte er die schnellsten auf seinen Fersen, Menschen liefen ihm entgegen, stießen auf ihn zu wie Raubvögel. Er erkannte sein verlorenes Spiel in der belebten, endlosen Straße, in der Stadt von Millionen, die plötzlich von allen Seiten Verfolger mit frischen Kräften auf ihn loszulassen schien, während ihm schon der Atem versagte, seine Schläfen hämmerten, seine Augen vor Angst aus dem Kopfe zu springen drohten. Mit dem Rücken warf er sich gegen eine Hauswand; im Nu war er umstellt. Eine Kugel pfiff an ihm vorbei und schlug in die Wand hinter ihm, daß ihn der Kalk bespritzte. Deutlich sah er einen stämmigen Polizisten mit dickem, rotem Gesicht in einem Hausgang stehen und auf ihn zielen. Er richtete den Revolver gegen ihn; im gleichen Augenblick durchriß ihm ein bitterer Schmerz die Seite. Er brach zusammen. Noch einmal schwang er seine Waffe wie eine eherne Faust. Durch einen Nebel sah er Männer auf sich zukommen, Männer mit grimmen Gesichtern; die ganze Menschheit schien sich auf ihn zu werfen, bereit, ihn in einem Nebel von Schmerz und Blut zu ertränken. Da tastete seine Faust nach dem Munde, der laut aufschreien wollte, stieß die Waffe hinein und drückte mit der letzten Kraft der Finger los.

 

Scappini schrieb eine seiner Notizen in La Bataille sociale:

Kurze Justiz an einem ausländischen Agenten

Gestern morgen acht Uhr wurde in der Nähe des Ostbahnhofes ein junger Mann, ein angeblicher Student, durch einen Revolverschuß getötet. Das Gepäck, das der Betreffende bei sich trug, läßt vermuten, daß er im Begriffe war, abzureisen. Der Ermordete stammt aus Preußen. Er soll in revolutionären Kreisen verkehrt haben. Als er sich auffällig machte, zog man sich von ihm zurück. Das Attentat wurde von einem Unbekannten ausgeführt, der zu entfliehen suchte und einen der verfolgenden Flics verwundete. Er erschoß sich in dem Moment, als er verhaftet werden sollte.

 

Die Schüsse in der Rue d'Alsace hallten noch lange durch die Stadt. Es war, als hätten sie endlich das Signal zum Kriegsausbruch gegeben. Die bürgerlichen Blätter stellten fest, daß die Unsicherheit in Paris sich erschreckend steigere. Die Revolutionäre verherrlichten offen den Straßenkampf, verkündeten den Glauben an die Energie kühner Minoritäten. Man sprach nicht mehr von unbewaffneten Demonstrationen.

Der Winter brach an; unaufhörlicher Regen ließ die Straßen in einem häßlichen Glanze schwimmen. Die ganze Stadt schien eingehüllt in graue Tücher der Hoffnungslosigkeit; und unter dem Wolkenhimmel schienen die Gedanken des Hasses und der Rachsucht noch besser zu gedeihen. Fraconnard, der Kriegsminister des sozialen Krieges, sprach das Wort von den Boten eines faulen sozialen Friedens. Er wurde verhaftet wegen der aufreizenden Sprache seines Blattes und wieder freigelassen; niemand wußte, was der nächste Tag bringen konnte.

Die große Schlacht, der Generalstreik, stand noch bevor.

Die Avantgarde fand Gelegenheit zu fortwährenden Scharmützeln. Am hellen Tage, in den Stunden des lebhaftesten Geschäftsverkehrs, drangen Demonstranten in die Warenhäuser und verursachten Panik. In den Kolonnaden der Rue de Rivoli zerstörten platzende Petarden die Spiegelscheiben samt den Auslagen der Geschäfte. Die Besitzer der Banken, der Theater, der Restaurants, der großen Geschäftshäuser erhielten Drohbriefe. Erpressungen waren an der Tagesordnung. Kurzschlüsse, Explosionen, Brandunfälle in öffentlichen Gebäuden mehrten sich derart, daß man sie nur auf eine Absicht der die Leitungen bewachenden Männer zurückführen konnte. Die Gasarbeiter legten die Arbeit nieder, so daß die Straßenbeleuchtung wochenlang nur ungenügend unter dem Schutze der Gendarmerie aufrechterhalten werden konnte. Eisengerüste brachen zusammen, weil die Nieter die Schrauben zu schwach befestigt hatten. Abwechselnd versagten die Autobusse, die Kanalisation, die Zeitungen. Die Bäcker buken schlecht, neue Möbel fielen auseinander, weil der Leim nicht hielt, den die Tischlergesellen verwendeten. Die Angestellten der Post und Telegraphie traten in kurze Ausstände, die wie Wetterleuchten wirkten. Der ganze Apparat der Großstadt funktionierte nicht mehr; es war, als sei alle Ordnung aufgehoben; ein feindlicher Wille durchkreuzte alles wie ein verirrter elektrischer Strom. Dabei gelang es niemals, die Führer der Bewegung zu isolieren. Allen sichtbar in ihrer Furchtlosigkeit war nur die gedrungene schwarze Gestalt Fraconnards, die begonnen hatte, sich ungeheuer über Paris zu erheben. Aus seinem kleinen Gartenhäuschen in der Rue Norvins schickte er durch den Mund der Zeitungsausrufer drohende Botschaften in die Stadt hinunter.

Aus Frankreich, aus der ganzen Welt strömten die Unruhigen nach Paris. Sie kamen mit heißen unaussprechlichen Dingen im Herzen, wie Schinkiewitz, mit dumpfen Nachklängen an das »Kommunistische Manifest«. Sie kamen, um an dem großen Feuerherd den Funken zu holen, der auch in anderen Ländern den Aufstand der Unterdrückten entzünden sollte. Planlose kamen, müßige Herumstreicher, deren es in Europa die Menge gibt, um unterzugehen oder ihre schwachen Seelen an der Mutterkraft des neuen Evangeliums zu erwärmen.

Es schien, als ob in aller Stille auch die Polizei, die letzte Stütze der Ordnung, der Bewegung nicht mehr fern sei. Eines Tages schien die innere Organisation vollendet: Abordnungen mit den Forderungen des Heeres der Pariser Schutzleute traten vor den Minister. Und die Regierung kapitulierte sofort. Privatleute, Banken und Botschaften begannen der Polizei regelmäßig Gratifikationen zu überweisen, die mit der allgemeinen Unsicherheit der Verhältnisse stiegen.

Massive Gewerkschaftssekretäre traten in den Vordergrund der Tagespolitik. Frankreich drohte ein Krieg mit den Nachbarmächten, die seine hilflose Lage erkannten, und das war es, was Fraconnard wollte: die Revolte im Augenblick der Mobilmachung. Nur den verbissenen Bemühungen der Diplomatie, die Regierungen der Nachbarländer vor den Folgen zu schrecken, die ein zweiter Kommuneaufstand für ganz Europa haben mußte, gelang es, die Truppen zur Verwendung im Innern in Bereitschaft zu halten. Noch mal regte sich die Kirche und erhob ihre machtvolle Stimme durch den Mund des Erzbischofs von Paris, der in feierlichem Zuge aus der Notre-Dame-Kirche auszog, um eine unter seinem Protektorat gegründete genossenschaftliche Bäckerei im vornehmen Viertel der Stadt einzusegnen. Die Rede, die er bei dieser Gelegenheit hielt, ging über die Welt mit Worten, deren sich einst der Mönch Bernhard beim Aufruf zum Kreuzzug bediente; sie war ein Aufruf an die Gläubigen, einen mächtigen Orden zu bilden im Namen der Jungfrau Johanna d'Arc, einen Orden zur Rettung Frankreichs. Dieser Aufruf sammelte viele, die noch unentschieden waren, um die Fahnen und die klagenden Glocken der Kirchen; im anderen Lager erhob sich ein Sturm von Gelächter. Ein leidenschaftlicher Kampf umspann sich um die Seele des Mannes auf der Straße.

Trübe Sterne standen über den schwarzen Dächern der Stadt. In den Straßen wogten die Massen, bleich, verkommen und haßerfüllt, krähten die Stimmen der Zeitungsverkäufer, dröhnte die Posaunenmusik der Automobile, drunten schlüpften lautlos sausend die Untergrundbahnzüge. Die Führer spannten ihre Netze aus und verteilten die Rollen für die künftige Schlacht.

Frost und Schneegestöber hielten neue Kundgebungen der Massen zurück. Man wartete auf das Frühjahr.

*


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