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Zweites Kapitel

In wenigen langsam vorbereiteten Entscheidungen, die ihn dann jedesmal mit der Kraft elektrischer Schläge vorwärts trieben, hatte sich Karl Flemings Jugendschicksal merkwürdig entfaltet. Er war früh verwaist, seine Eltern, noch in der eigenen Jugend, waren rasch hintereinander gestorben.

Mit sechzehn Jahren, nach dem Einjährigen-Examen, hatte ihn sein Onkel und Vormund, der Tierarzt war, von der Schule genommen und einem Geschäftshaus im Rheinland in die Lehre gegeben.

Drei Jahre hielt er es aus: bis zu dem Augenblick, wo man ihm sagte, daß er zum Militärdienst nicht genommen würde.

Mit vierhundert Mark, dem Taschengeld, das er sich vom Munde abgespart hatte, reiste er eines Nachts nach Belgien und schwamm zwei Tage danach auf dem Zwischendeck der »Finland« aus der Scheldemündung.

Er landete in Baltimore, ohne einen Bekannten, ohne die Stadt zu kennen; nur sein in der Schule gelerntes Englisch kam ihm zugute. Er stieß wie ein Raubfisch mitten ins Gewimmel des Arbeitsmarktes. Eine Färberei nahm ihn als Handlanger. Hier traf er mit ein paar verkommenen Landsleuten zusammen; der eine war bis vor kurzem Reporter an einer deutschen Zeitung in Philadelphia gewesen.

Es war ein Posten, zu dem sich niemand drängte, denn er war untergeordnet und schlecht bezahlt, verlangte aber eine gewisse Bildung. Karl erfuhr, daß die Stelle noch vakant sei, und stellte sich eines Sonntagmorgens in der benachbarten Stadt dem Verleger vor. Der ließ ihn noch am selben Tag die Arbeit beginnen und dann bleiben.

Zwei Monate später fand sich eine bessere Stelle bei der »Mississippi-Post« in Saint Louis. Karl bekam die Reise bezahlt, stand nicht angesehener da als seine Kollegen, doch mußte der Besitzer des Blattes, Colonel Ziegenhals, der als blutjunger Mensch im Jahre 1849 nach Missouri gekommen war, etwas Besonderes an dem Anfänger finden, denn er machte ihn eines Tages zu seinem Sekretär. Karl diente diesem Chef fast zwei Jahre, begleitete ihn auf seinen Reisen und wurde unzertrennlich von ihm, bis der siebzigjährige Mann sich eines Tages über seine jüngeren Kompagnons zu sehr ärgerte und sich vom Geschäft zurückzog. Karl war wieder in den Betrieb der Zeitung eingetreten. Eines Sommerabends, als er bei dem alten Chef zu Tisch gewesen war und mit ihm im Garten spazierenging, gab er sein Geheimnis preis: daß er jetzt vorhabe, nach Deutschland zurückzukehren und zu studieren.

Er trug diesen Entschluß und einige Gedanken, die dazu gehörten, dem alten Manne vor, nicht ohne zu erröten, denn plötzlich erschien ihm selber das, was er aussprach, so phantastisch, so unreif und so zart, daß er sich viel Mühe geben mußte, es in verständliche und bescheidene Worte und Beispiele einzukleiden.

Er fühlte das Geheimnis des Unerforschten in den Gesichtern und in den Beziehungen der Menschen. Die Maßlosigkeit des amerikanischen Lebens vertiefte diesen Eindruck, aber die Lautheit der Umgebung und des Berufes hinderte ihn am Studium und am eindringlichen Nachdenken. War nicht Friedrich Watzel zum Beispiel, ein deutscher Geograph, dessen Werke er sich aus der Public Library entlieh, einst ein unbekannter Journalist gewesen, ehe er einer der großen Universitätslehrer wurde. Colonel Ziegenhals hatte selbst seinem Sekretär zuweilen von den Besuchen dieses Mannes erzählt, der in früheren Jahren auf großen Reisen durch Amerika öfter in seinem Hause eingekehrt war. Der alte Deutschamerikaner war stolz auf seine Bekanntschaft mit dem späteren Gelehrten; er sprach mit Hochachtung von dem seltenen Entwicklungsgange dieses Mannes, der sich auch durch Ziegenhals' Vorschlag, in Amerika zu bleiben, nicht hatte beirren lassen. Fühlte nicht auch Karl die Kraft und den Beruf in sich, statt Werkzeug irgendeines geldverdienenden Großbetriebes ein Erforscher der Erde zu werden. Ein geduldiges, heißes Studium gehörte dazu, das nachzuholen war; doch er war noch jung. Der Plan war einfach: In Amerika gab es für ihn nur die Möglichkeit eines banalen, vielleicht glänzenden Vorwärtskommens. Das Studium, wie die amerikanischen Studenten es auffassen, bot nichts für ihn; es war hart und oberflächlich. Karls Ersparnisse betrugen eintausendfünfhundert Dollar. Das waren etwas über sechstausend Mark, und diese mußten für ein Studium von dreieinhalb Jahren reichen, wenn man sparsam lebte.

Der alte Mann hörte ruhig zu, ohne jeden Einwand. Dann bot er ihm an, ihn auf seine Kosten die Washington-Universität in Saint Louis besuchen zu lassen, wenn er später in das Geschäft wieder eintrete. Karl dankte dem Colonel für seine gute Absicht und erwiderte, daß er sich selber helfen wolle. Ziegenhals schüttelte den Kopf und verlangte nur das Versprechen, daß Karl wiederkomme und seine Tätigkeit da wieder aufnehme, wo er sie jetzt unterbreche, dann wolle er ihn in Deutschland während seines Studiums unterstützen.

Aber Karl Fleming war auch ein solches Versprechen zuviel. Sein Selbstvertrauen war groß genug. Und obwohl die rauhe Güte des alten bärbeißigen Geschäftsmannes ihn fast verwirrte, nahm Karl, von einer Zurückhaltung bestimmt, die stärker war als das Gefühl der Verehrung und der Dankbarkeit, Abschied von ihm auf Nimmerwiedersehen.

Einen Monat später war er in Neuwied, wo ihn der Onkel und die guten dicken Tanten, die drei Jahre lang jede Spur von ihm verloren hatten, mit Überraschung und Beunruhigung empfingen.

 

Karl war für die Staatswissenschaften entschlossen. Er glaubte an den Satz Napoleons: daß die Politik das Schicksal sei. Und aus der Zusammenstellung dieses Satzes mit seiner Überzeugung, daß eines Tages, wenn es gelänge, die Macht des Geldes durch den Geist zu brechen, selbst Dinge wie das Elend des Straßenpöbels oder der unsinnige Geldüberdruß stumpfer Millionäre sich aus der Welt hinausorganisieren ließen, hatte er die Folgerung gezogen, daß es im Gebiet der Staatswissenschaften, auf denen ja alles einsichtige politische Handeln beruht, noch Entdeckungen zu machen und Grundzüge einer höheren Ordnung zu entwerfen gebe. Um sich auf seinem Wege immer aufs neue zu prüfen und sich vor Abwegen zu sichern, gab es einen Regulator, ein äußerlich so praktisches wie prosaisches Ziel: das Doktorexamen. In diesem Ziel, das ihn in seiner Fremde, mitten in der harten Sonnigkeit seines Amerikanertums fast unerreichbar gedünkt hatte, lag ihm nichts Lächerliches. Es war eines der wenigen erstrebenswerten Dinge, die sich durch nichts, was in Amerika erreichbar war, ersetzen ließen; zugleich gab es keine bessere Ausrüstung für den weiten Marsch, den er in seinen wachen Träumen vor sich sah. Das Examen war ihm das Arkanum, das den Zutritt zu jener Macht des Wissens und des Menschenwertes öffnete, von der er träumte, einerlei, ob man das heftige Gefühl, das ihn antrieb, Sehnsucht, Ehrgeiz oder innere Stimme nannte.

So begab er sich zunächst nach Bonn. Dort erfuhr er von dem ersten Hindernis, das seinem Lebensplan entgegenstand: es waren von der Regierung neue Bestimmungen erlassen worden, die es unmöglich machten, ohne Abiturium zum Doktorexamen zugelassen zu werden.

Er verlor den Mut durchaus nicht. Ein wohlmeinender Professor riet zu einem Versuch an der Universität eines kleinen Bundesstaates, die sich das Recht gewahrt hatte, in außergewöhnlichen Fällen einen Dispens zu erteilen. Natürlich gab es Bedingungen, diesen zu erlangen: vor allem eine bemerkenswerte wissenschaftliche Leistung. Außerdem mußte der Vorschlag zum Dispens von der Fakultät einstimmig beim Ministerium gestellt werden.

Ohne Zaudern ging er nach jener kleinen Universitätsstadt und verbrachte dort zunächst ein Semester, in dem er seine Aufmerksamkeit auf ein paar allgemeine Vorlesungen verwandte. Daneben suchte er sich über die Persönlichkeiten, auf die es später einmal für ihn ankam, ein Urteil zu bilden. Im Anfang des zweiten Semesters machte er dem Professor und Geheimen Rat, der die Tür zum Examen in der Hand hatte, seinen Besuch und bat um Aufnahme in das staatswissenschaftliche Seminar. Der Geheimrat, ein im Verkehr mit den ihn ständig umlagernden Studenten und Kandidaten vorsichtig gewordener, durch Vorlesungen und Bücherschreiben stark beschäftigter Gelehrter vom alten Schlage, nahm ihn auf, nicht ohne den Vorbehalt, daß er von dem unbekannten Studenten gelegentlich den mündlichen Ausweis über einige Kenntnisse erwarte.

In dem stillen Betriebe des Seminars diskutierte man über Steuerfragen, Teilbau, Bodenreformbewegung und ähnliches. Karl stand als einer der letzten auf der Liste von etwa zwanzig Seminarstudenten, von denen der Geheimrat ein Referat über besondere Studien verlangte. Die Herbstferien kamen heran, ohne daß der Geheimrat weiter von ihm Notiz genommen hätte. Karl hatte es sorglich vermieden, die Aufmerksamkeit des mächtigen Mannes auf sich zu ziehen. Doch da öffnete sich unversehens ein Weg.

Die Beziehungen des Deutschen Reiches zur Türkei standen in jenen Sommermonaten im Vordergrund der politischen Interessen. Karl bot sich den Zeitungen an, die Anatolische Eisenbahn und die Trasse der Bagdadbahn zu bereisen. Ein paar Provinzblätter gaben dem unbekannten Journalisten den Auftrag. Das Honorar von allen zusammen reichte gerade, um die Kosten der Reise zu decken.

In den letzten Julitagen brach Karl auf und war Anfang November zurück, nachdem er auf einem Donaudampfer bis Galatz, an Bord eines Rumänen nach Konstantinopel, mit der Eisenbahn bis Konia gereist war und dann, von einem französisch radebrechenden Griechen begleitet, dem er zu essen gab, und der ihm dafür als Dolmetscher diente, nach Landesart auf der von den Römern angelegten alten Karawanenstraße den Taurus überstiegen hatte. Sie folgten den alten Handelswegen durch Kilikien und Syrien. Eine kalte Nacht ließ in dem Körper des jungen Deutschen ein Fieber zurück, das drei Wochen lang auf dieser langsamen und beschwerlichen Wüstenreise nicht von ihm wich. In Beirut endlich überwältigte es ihn, am Tische eines kleinen griechischen Hotels. Er war allein; sein Gefährte hatte ihn schon in Damaskus verlassen. Ein mitleidiger Aufwärter brachte Karl ins Hospital der Johanniter.

Ein paar Tage und Nächte lag Karl in Fieberphantasien. Dann folgte die große Ermattung. Durch das vergitterte Fenster seines Zimmers sah er über die flachen erdbraunen Dächer auf das prahlend blaue Meer. Am zehnten Tage – er durfte jetzt täglich eine halbe Stunde aufstehen – erschien ein französischer Dampfer im Hafen auf der Fahrt nach Konstantinopel. Kraftlos wie ein Schatten, ließ Karl sich an Bord tragen. Die Seefahrt erfrischte ihn ganz. Rechtzeitig zum Anfang des Semesters war er in der Universitätsstadt zurück, ging wenig aus, schrieb die Zeitungsaufsätze und begann an einem Referat zu arbeiten.

Im Dezember ereignete es sich, daß ein älterer Student in letzter Stunde verhindert war, einen Vortrag im Seminar zu halten. Karl Fleming meldete sich zu einem Vortrag über Kleinasien. Der Geheimrat, der sich von dieser Aushilfe nicht viel mehr als eine Art Reisebeschreibung erwartet hatte, hörte mit Verwunderung eine handels- und finanzpolitische Darstellung der Eisenbahnfrage. Er erkundigte sich nach dem jungen Menschen, ließ ihn zu sich kommen und machte ihn für das folgende Semester zu seinem Assistenten. Wenige Wochen später konnte Karl mit ihm das Thema einer Doktorarbeit besprechen.

Karl Fleming gab sich drei Semester Zeit für die Arbeit; er war jetzt im dritten Semester. In der Mitte des sechsten war er fertig und reichte die Arbeit ein. Karl wartete mit zitternder Geduld auf das Gutachten. Alles gelang. Der Geheimrat setzte die Fakultät für den Dispens in Bewegung.

 

In dieser strengen Planmäßigkeit seiner Studien hatte Karl wenig Zeit gehabt, sich den Menschen anzuschließen. Er warf auf die anderen gleichsam nur einen flüchtigen Blick, der nichts an ihnen suchte und gerade tief genug drang, um den Grad von Achtung und Aufmerksamkeit zu bestimmen, den er den einzelnen im täglichen Umgang bezeigte. Amerika lag weit hinter ihm. Der freie, gutmütig-harte Ton von Kameradschaft, der dort drüben wie eine Atmosphäre von Mut und Optimismus die Menschen umweht, paßte nicht in die akademische deutsche Luft. Karl fühlte sich anfangs in der undurchsichtigen und von Formeln beherrschten Art des studentischen Verkehrs höchst unbehaglich. Aber merkwürdig bald brachte er es fertig, sich dieses Tones zu einer eigenen Isolierung zu bedienen. Er wurde mit einer Menge junger Leute bekannt; es schien ihm, als ob allen ohne Ausnahme etwas Beengtes und Geschraubtes anhafte. Es stand fest, daß ihn sein Weg aus diesem Bekanntenkreise ebenso rasch hinausführen würde, wie er ihn hineingeführt hatte. Um niemand nachzustehen, nahm er Fechtunterricht, wurde Verkehrsgast einer Turnerschaft, focht ein paar Bestimmungsmensuren, die ihre Schrammen auf seiner Kopfhaut zurückließen. Man lud ihn zur Kneipe und zu Ausflügen ein, und hier erfaßte ihn zuweilen die herzliche, sorglose Fröhlichkeit des deutschen Studentenlebens. Über das, was später aus ihm werden sollte, hatte er seine Träume, und niemand fragte nach ihnen.

Nur mit einem einzigen Menschen wußte sich Karl seit seiner Rückkehr befreundet. Es war Berta Küppers. Er war mit ihr in den ersten Tagen seines Aufenthaltes in Bonn bekannt geworden, als er gewissermaßen noch seine amerikanische Atmosphäre um sich trug.

Karl hatte an einem Septemberabend am Rheinufer ihre Bekanntschaft gemacht. Er hatte sie schon vorher eine Woche lang täglich gesehen, denn sie wohnte in derselben Pension. Hübsch war sie nicht, sie war von einer eckigen Korpulenz, und das Gesicht war ältlich und ernst. Er glaubte eine Studentin vor sich zu haben, die ihm allerlei nützliche Auskunft geben könne, und sprach sie an. Sie erwiderte, daß sie Bildhauerin sei und in München lebe, und er berichtete von seiner Ankunft aus Amerika und von seiner Absicht, Nationalökonomie zu studieren. Das Gespräch auf der Promenade am Rheinufer dauerte nur wenige Minuten. Aber als Fräulein Küppers am nächsten Nachmittag Karl auf der Straße begegnete, ging sie auf ihn zu und sagte in einem Freimut, den sie offenbar von ihm angenommen hatte, und der doch mit einem schüchternen Lächeln die widerspruchsvolle Weiblichkeit ihres Wesens ausdrückte: Jetzt habe sie sich bei ihm zu bedanken. Er habe nicht ahnen können, was die wenigen Worte über sein Leben, die er gestern obenhin gesprochen, für sie bedeuteten. Und sie erzählte, als ob sie längst Bekannte wären, das Folgende: Daß sie gestern und heute hier in Bonn ein Zusammentreffen mit ihrer jüngeren Schwester gehabt habe und das Band mit ihrer Familie jetzt wohl für immer zerschnitten sei. Sie stamme aus einer katholischen Fabrikantenfamilie. Das sei es, was sie ihrer Abkehr vom Glauben und ihrem Willen, den Beruf der Künstlerin einzuschlagen, habe opfern müssen. In einer Stunde des größten Zweifels, da sie nahe daran war, die Flinte ins Korn zu werfen und in das Elternhaus zurückzukehren, habe sie an dem Beispiel »eines unbekannten jungen Menschen« Mut geschöpft.

Sie begegnete dem etwas betroffenen Aufschauen des jungen Menschen mit einem guten Lächeln. Und mit der demütigen Überlegenheit ihrer Erfahrungen antwortete sie seinem Verstummen: »Sie brauchen nicht zu erschrecken. Die Verantwortung liegt ja bei mir allein. Ich fahre morgen früh nach München zurück, und Sie werden kaum wieder von mir hören. Bleiben Sie immer so tapfer. Was aus Ihnen geworden ist, wird nicht verborgen bleiben. Wenn Sie nur nicht früher, als Sie denken, nach Amerika zurückgehen.«

Karl horchte auf. Er empfand etwas in diesen Worten, das ihn betraf wie eine Weissagung, eine Güte, die ihn fast innig streichelte. Da er sich nicht verabschiedete, sondern ohne zu antworten neben ihr ging, so sagte sie schließlich stockend: »Mein Leben war so bedeutungslos bisher. Das Ihrige ist so reich und frei, und Sie scheinen es gar nicht zu wissen. Wie glücklich Sie sind! Ich habe nichts als einen Willen.« Und dann, in wenigen, fast verlegenen Worten, ohne viel zu schildern, sprach sie. Von ihren ersten Versuchen, vom Los der »höheren Tochter«. Von viel Fleiß und nur wenig Können, von der Bildhauerei, und welche Kämpfe es gekostet hatte, bis sie die Kunst in einer Düsseldorfer Werkstatt lernen durfte.

Dann reichte sie Karl die Hand zum Abschied.

»Geben Sie mir doch ihre Adresse«, sagte Karl munter. »Wenn ich einmal nach München komme, werde ich Sie besuchen.«

Karls erstes Semester in Bonn begann. Ein paar Wochen später sandte sie ihm eine Karte. Er antwortete mit einer Karte, und bald darauf kam ein Brief, der mit »Geehrter Herr« anfing. Sie berichtete, daß ihre ersten beiden Plastiken ausgestellt seien und Anerkennung fänden. Er antwortete: »Sehr geehrtes Fräulein«, berichtete von dem Mißerfolg in Bonn und von seiner Absicht, seinen Wohnort zu ändern. Auch hier erhielt er Nachrichten von ihr; sie sandte ihm Photographien ihrer Arbeiten. Er fand einen starken Ausdruck von Harm und Hoffnung an den Köpfen und der kantigen Haltung der Arbeiterfrauen, die sie schuf.

Dann kam seine Fahrt nach Kleinasien. Er reiste über München und suchte sie nach der Adresse, die ihre Briefe trugen. Aber er fand sie nicht gleich. Sie wohnte seit Wochen in einem Arbeiterinnenheim. Dorthin sandte er ihr einen Zettel; – eine Stunde später traf er dann in einem Kaffeehaus mit ihr zusammen. Sie sah verändert aus. In Bonn war sie eine Dame gewesen, jetzt glich sie einer Frau aus dem Volk. Ihr Gesicht aber war lebendiger geworden, strahlend von Eifer und Begeisterung. Am nächsten Morgen machten sie einen Ausflug an der Isar. Mittags waren sie zurück und aßen in dem bescheidenen Restaurant, wo sie regelmäßig zu Tisch war, dann führte sie ihn in eine Kindervorstellung im Marionettentheater. Es war für beide ein helles Vergnügen. Sie spazierten noch ein Stündchen durch die hochsommerlichen Straßen der Stadt, dann begleitete sie ihn zum Zuge. Vor der Abfahrt bot sie ihm das Du an und küßte ihn auf den Mund. Er winkte ihr aus dem Wagenfenster, solange er sie zu sehen vermochte.

Von der Reise schickte er ihr keine Nachricht. Erst drei Monate später erhielt sie sein erstes Lebenszeichen – ein Telegramm aus Wien, daß er über München heimfahre. Er fuhr die Nacht hindurch auf den harten Bänken dritter Klasse. Frühmorgens lief der Zug in München ein. Da stand sie auf dem Bahnsteig, ihre kurze, frauenhafte Gestalt; und ihr gutes, etwas breites Gesicht lächelte. Er beugte sich weit aus dem Fenster und winkte. Kaum erkannte sie ihn wieder, so mager, so gelb war er geworden. Tränen standen ihr in den Augen; nichts wissen wollte sie von der schrecklichen Reise, die ihn fast das Leben gekostet; wie eine Mutter wollte sie ihn hüten. Zutraulich legte er seinen Arm in den ihren, und sie führte ihn im Triumph aus dem Bahnhof. Um ihn zu pflegen, wollte sie ihn in ihrer eigenen gemieteten Stube unterbringen und selber in einem Gasthaus vorliebnehmen. Aber schon am nächsten Tage reiste er weiter.

Im Dezember berichtete er über seinen Erfolg im Seminar. Sie war außer sich vor Freude und sandte ihm tausend Glückwünsche. Sie hatte inzwischen einen neuen Streit mit ihrer Familie gehabt, zu gleicher Zeit aber ihren ersten wahren Erfolg. Sie hatte in Berlin eine »Lastträgerin« ausgestellt. Diese herbe und technisch keineswegs vollkommene Arbeit war von der Kritik als Auslassung eines überlebten Naturalismus gekennzeichnet worden, aber auch zum erstenmal als Probe eines ungewöhnlichen Talentes.

Sie schrieb dem Freund: »Nächstens gehe ich nach Paris, gerade so ins Blaue wie Du nach Baltimore. Weißt Du, ich mache Dir einfach alles nach. Du bist ein Glücksmensch, und ich war ein Pechvogel, bis Du kamst. Ich werde mich genau an Dein Beispiel halten.«

Ehe sie ihren Entschluß ausführte, kamen die Wochen, die er mit ihr in München verbrachte. Es waren seine Frühjahrsferien. Er arbeitete morgens auf der Bibliothek, nachmittags machten sie Ausflüge. Sie hatte ihm geschrieben, daß sie ihm ein Zimmer besorgen werde. Wirklich wohnte er in einer der großen Dachkammern neben der ihren, im vierten Stock eines riesigen Hauses. Abends tranken sie den Tee auf ihrem Zimmer. Er erwiderte ihre Zuneigung, die längst an den Grenzen des Fürsorglichen und Kameradschaftlichen zerrte, mit einem sich immer gleichbleibenden Vertrauen, wich gutmütig belustigt einem Kusse aus, wenn er sich des Morgens von ihr verabschiedete, und hielt sich täglich eine genügende Zeit allein. Er liebte und bewunderte ihr treues und leidenschaftliches Herz und hatte zugleich eine Abneigung gegen ihre körperliche Berührung. Zuweilen schien es ihm, als ob sie litte. Es kam ein Augenblick, da zog sie seinen Kopf an ihre Brust und küßte ihn auf die Stirn. Sanft machte er sich frei und begegnete ihrem fast zornig-heißen Blick mit einer heiteren Unbefangenheit. Er wollte sie nicht verlieren. Schmerzlich und liebkosend nannte sie ihn zuweilen ein Kind, im nächsten Augenblick fühlte sie Haß aufsteigen. Spielte er mit ihr? Er wurde ihr zum Rätsel. Schlummerte Spott oder Dummheit in diesem korrekten Wesen? Er verriet sich mit keiner Miene. Daß es nicht natürliche Kälte war, wenn er sie verschmähte, wußte sie; wenn sie miteinander auf der Straße oder durch die Museen gingen, spürte sie aus allem, was er sagte, seine jugendliche Frische. Heimlich weinte sie über die Grobheit ihrer Züge, über ihre ungeschlachte Gestalt, über ihr allzu schweres Blut.

Troß dem stillen Kampfe erhärtete sich ihre Kameradschaft zu einer Festigkeit ohnegleichen.

Ihre Lebenssorge, ihr ganzes Ringen lag vor ihm ... Und sie sah ihn arbeiten, sich verweigern, ein unbekanntes Ziel verfolgen. Er erzählte von seiner ersten Zeit in Philadelphia, wo er die Gewohnheit angenommen hatte, auf dem Rasen neben den Straßen zu gehen, um seine Stiefelsohlen zu schonen. Von den Abenden bei arabischen Bauern in der Wüste, die wie die Sonne glühte. Sie verstanden sich in ihrem Gefühl für alle Kreatur, sie beide glaubten an die mystische Kraft, deren der Mensch im Überwinden fähig ist. Sie führten Gespräche über Religion. Und fühlte sie dann, zum erstenmal seit ihrer Kindheit, heiß träumend, mit aufsteigenden Tränen heimlichen Dankes die Sehnsucht, des Freundes Hand zu fassen, ihn mit Küssen zu bedecken, so wollte er es nicht merken, ging fort, um noch ein wenig zu arbeiten, zu bummeln. Gott allein kannte sein Herz.

Und plötzlich, ohne Abschied zu nehmen, reiste er ab.

Berta war einige Wochen später in Paris. Von dort schrieb sie ihm. Sie arbeitete viel, hatte mit Krankheit zu kämpfen; ihre Briefe waren knapp, fast formelhaft. Das Bedürfnis, ihr Herz auszuschütten, war bezwungen von den Eindrücken der Stadt, in der sie lebte, und von der Macht eines großen Bildhauers, der sie unter seine Schüler aufgenommen hatte. Dennoch klopfte der Pulsschlag der alten Leidenschaftlichkeit aus ihren Briefen, die mit einer immer gleichbleibenden Wendung schlossen: Liebe, Treue, Dank. Er antwortete nicht, doch kam es vor, daß er auf Spaziergängen sich an einen Waldrand niedersetzte und ihr schrieb. Solche Briefe brachten ihr Festtage. Sie beantworteten nichts, es waren heitere und herzliche Erzählungen.

Karl geriet unterdessen in eine besondere Gedankenwelt. Es waren die sozialpolitischen Schriften des Physikers Ernst Abbe, dessen Verhältnis zu den Arbeitern seiner berühmten optischen Werkstätten ihn geradeswegs auf die Grundfragen des staatlichen Wesens führte. Er hatte in dieser Zeit aus einer Anzahl Seminarstudenten einen kleinen Kreis gebildet, in dem biedere Examenskandidaten mit fanatischen russischen Juden über alle die Pechfackeln stritten, die wegen bevorstehender Reichstagswahlen in den Köpfen neu in Brand geraten waren. In dieser Zeit des Geschreies, das in Deutschland tobte und an den Dienstagabenden auch über dem runden Hinterstubentisch seines »Zirkels« zusammenschlug, während ihn selbst die starke geistige Beschäftigung diesem Zank entrückte, besann er sich darauf, daß es gut sei, fremden Meinungen mißtrauisch bis aufs äußerste gegenüberzustehen, und daß es nur ein unverrückbares Ziel für ihn gäbe: selber etwas zu werden.

In der Zeit schrieb er an Berta und bat sie, einige alte Bände in der Pariser Nationalbibliothek hervorzusuchen und Exzerpte anfertigen zu lassen. Sie opferte dieser Aufgabe vier Tage und sandte ihm dann ein grünes Schreibheft voll von sauberen Abschriften aus verstaubten Handelskammerprotokollen und aus den fast vergessenen Büchern von Saint-Simon, Louis Blanc und Proudhon.

Im Januar, mitten in der Zeit der Reichstagswahlen, sandte sie ihm die neu erschienene Schrift eines modernen französischen Soziologen, des Professors Fraconnard, und einen langen Brief dazu: Sie habe, durch die Beschäftigung in der Nationalbibliothek, begonnen, sich mit sozialen Theorien zu beschäftigen. Kein Name werde jetzt in Frankreich mehr genannt und mit größerer Leidenschaft umstritten als der Name Fraconnard und die Gedankengänge dieses kühnen, leidenschaftslosen, macchiavellistischen Mannes. Fraconnard, ein ehemaliger Gymnasialprofessor, der, von der Regierung abgesetzt, an die Pariser Universität berufen, aufs neue verjagt und darauf zum Abgeordneten gewählt worden sei, stehe gegenwärtig wegen Anstiftung antimilitaristischer Kundgebungen, von denen eine Meuterei im Hafen von Toulon die schlimmste sei, vor Gericht und werde aller Wahrscheinlichkeit nach verurteilt werden.

Schon die nächste Post brachte einen zweiten Brief von ihr. Sie teilte ihm kurz mit, daß sie auf einige Tage zum Besuch ihrer Eltern nach Deutschland zurückkehre und dann vorhabe, nach Brüssel zu gehen. Ob es Karl nicht möglich sei, in diesen Tagen mit ihr zusammenzutreffen.

 

Sie trafen sich auf dem Bahnhof in Koblenz an einem sonnigen Morgen in den ersten Tagen des April. Berta erschien Karl lebhafter, jugendlicher als je. Verschämt freute sie sich über ein Kompliment, das ihrem Pariser Hut galt. Sie wanderten zwei Stunden an der Mosel hinauf, stiegen in einen Bummelzug, der sie ein paar Stationen weiter brachte, und kamen zu Fuß am Nachmittag nach Kochem. Sie erzählte von ihrem Leben in Paris, von Künstlern und neuen Freunden.

»Aber du bist der liebste von allen, hörst du? Immer, immer der liebste«, setzte sie hinzu, sah ihm voller Zärtlichkeit ins Gesicht und nahm ihn bei der Hand.

Arm in Arm gingen sie auf der Landstraße, an dem grau-grünen, glänzenden Flusse hin, der sich zwischen grauen Felsabhängen und Weinbergen windet. Karl schwieg und lächelte. Da sagte sie wie obenhin, daß in Paris ein angesehener, deutscher Kaufmann um ihre Hand angehalten habe.

»Du bist also verlobt?«

»Nein, Karl«, sagte sie. Doch dann malte sie ein fremdes Bild in die Luft: »Er ist alles mögliche, wohlhabend, Vizekonsul, hat etwas von der Welt gesehen; ein guter, offener Charakter.«

»Warum sagst du so: ein offener Charakter«, antwortete er nach einer Weile.

Wieder sah sie ihm mit ihren großen und etwas trüben, grauen Augen ins Gesicht. Dann sagte sie mit einem Lächeln, das sie schön machte, beschwichtigend: »Ich liebe doch dich.«

Er schüttelte den Kopf. Im Weitergehen, nach einer Pause, fragte er: »Hast du nein gesagt?«

»Für immer. Er ist jetzt in Algier.«

Er wurde rot und sagte bestimmt: »Das durftest du nicht meinetwegen tun. Das durftest du nicht. Das war verkehrt. O Berta!«

»Ich darf, was ich will«, antwortete sie verletzt. Doch dann setzte sie hinzu, bittend und begütigend zugleich: »Ich will doch in deiner Nähe bleiben. Er hätte mich nach Algier fortgenommen. Ich habe manchmal Angst um dich, und du mußt mir erlauben, daß ich später einmal ganz in deiner Nähe wohne. Würdest du mir das verbieten? Mein Junge, mein guter Junge. Wenn du wieder nach Amerika gehst, – du schriebst kürzlich so ... so ungeduldig und unruhig ... ich hätte auch Lust, nach Amerika zu gehen.«

»Töricht«, sagte er. »Ich kann dir nichts verbieten, Berta; tu, was du willst. Übrigens: du solltest wirklich einmal nach Amerika gehen, auch ohne mich. Ich kann dir Empfehlungen mitgeben. Du würdest drüben glänzend vorwärtskommen.«

»Ich komme auch in Europa vorwärts, wie du das nennst«, entgegnete sie beleidigt. »Ich habe auf ein Jahr hinaus keine Sorgen. Ich arbeite jetzt an einem Grabmal für einen Elberfelder Fabrikanten und muß nach Belgien, um es auszuführen. Ich beteilige mich an der Konkurrenz um ein Denkmal für Peter den Großen, das von der Stadt Reval ausgeschrieben ist. Sage – ich wollte dir das längst schreiben und habe bloß nie gewagt, es dir zu schreiben: Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, wie du die drei Jahre mit sechstausend Mark auskommst. Die drei Jahre sind fast um. Viel kannst du nicht übrig haben. Es dauert leicht ein halbes Jahr oder auch ein Jahr länger, als du anfangs dachtest. Mein Bruder zum Beispiel hat unglaublich lange bis zum Examen gebraucht, ich glaube zwanzig Semester. Ich habe mich erkundigt: alle sagen, es kommt fast niemals vor, daß ein Student schon nach sechs Semestern ins Examen geht. So gut ich dich manchmal in München anpumpte, weißt du noch? kannst du auch einmal von mir Geld bekommen, wenn du's brauchst. Vielleicht kann ich es bald sogar reichlich. Mein Vater kränkelt und ist nicht mehr so abweisend wie früher. Er sieht ja auch, daß ich anfange bekannt zu werden. Du brauchst nur ein Wort zu sagen. Hast du Schulden?«

»Ich habe noch fünfzehnhundert Mark«, antwortete Karl trocken.

»Du sollst nicht so furchtbar sparsam leben. Ich weiß zu gut, wie das ist.«

»Gut«, versetzte er. »Wenn Ebbe ist, werde ich dir schreiben, dir zuerst. Aber ich glaube nicht, daß ich Hilfe brauchen werde. Vielleicht muß ich später ja doch wieder ins Ausland.«

»Sie fängt an, mich zu berechnen«, sagte er gleichzeitig zu sich selber. »Eher werde ich von Reis und Wasser leben, als sie um Geld angehen. Das fehlte noch. Sie scheint alle Sachlichkeit verloren zu haben.«

Sie merkte, daß das Gespräch ihn verstimmte, und es tat ihr leid. Wieder ging er schweigend neben ihr und nickte zerstreut, als sie ihn auf die alte Burg von Kochem aufmerksam machte, von deren Turm das goldene Marienbild weit über das graue Tal hinleuchtet.

»Was ist auf einmal mit dir?«

»Gut, ich will's dir sagen. Ich glaube, du weißt es doch etwas besser, warum du nicht eine Frau Konsul Soundso hast werden wollen. Ich hoffe wirklich, du hast es nicht um meinetwillen getan, sondern deiner Kunst zu Liebe, sonst begreife ich dich einfach nicht mehr, hörst du? Was willst du denn mit mir anfangen? Was soll aus mir werden, wenn du mich nicht mir selber überläßt? Du liebst mich, ich will dir die Hand küssen, Berta. Aber vergiß nicht, welch ein Zufall das alles ist. Ich kann deshalb doch nicht gleich mit dir und von dir leben und du von mir. Wir sind Kameraden, ist das nicht genug? Ein guter Kerl bist du, ich bin dir dankbarer, als ich hier alles auf einmal sagen kann: aber laß mich mit weiblichen Hintergedanken in Ruhe.«

Sie löste ihren Arm aus dem seinen. Aber er ergriff ihn wieder: »Nein, Berta, sei gut. Wir müssen viel voneinander verlangen, jeder hat von sich selbst etwas zu fordern. Wir ... wir lieben uns auf so verschiedene Art. – Nun genug. Wo sind wir denn hier?«

Sie gingen an den Häusern von Kochem vorbei, am Moselufer hin. Es war noch eine Stunde Zeit, bis ein Schnellzug eintraf, mit dem sie nach Koblenz zurückfahren konnten. Sie kehrten in einer der altmodischen Wirtschaften ein und tranken aus einer Art Wasserflasche den kühlen, wärmenden, bernsteingelben Wein und aßen Brezeln dazu, die im Körbchen auf dem groben, braunen Tische standen.

Auf den Bänken der Gaststube saßen ein paar Kleinbürger beim Dämmerschoppen und rauchten ihre Pfeife. Karl streckte die Beine unter den Tisch, zündete eine Zigarre an, lobte den Wein, sie plauderten wie in der alten Münchener Zeit. Beide fanden im Grunde dieses Augenblickes etwas Heiteres, das sie an ihre ein wenig gewagte Häuslichkeit in der Herzog-Max-Straße erinnerte. Gerührt von diesem Wiedersehen nach der damaligen abschiedlosen Trennung, ließen sie ihre Gläser anklingen.

Sie gingen dann zum Bahnhof, der etwas höher als das kleine Uferstädtchen liegt. Berta hatte Karls Arm genommen. So gingen sie auf dem Bahnsteig auf und ab und erwarteten den Zug.

»Der Mann da mit der roten Mütze wird uns für ein Liebespaar halten«, scherzte sie.

»Meinetwegen«, lachte Karl vergnügt.

Der Zug kam an. Karl wollte in das nächstbeste Kupee einsteigen, aber sie suchte ein anderes. Schließlich fand sich ein leeres Kupee, das letzte im Zuge. Die Tür wurde zugeschlagen, der Zug setzte sich in Bewegung. Bis Koblenz waren sie allein.

Er hatte sich ihr gegenüber gesetzt. Sie legte ihren Hut neben seinen Platz auf die Bank hinüber, dann setzte sie sich selbst zu ihm. Ihr Kopf war heiß.

»Bringst du mich nachher an meinen Zug?« fragte sie.

Er tat erstaunt. »Du willst heute abend nach Hause fahren?«

»Wie du meinst ... ich werde nicht gerade erwartet. Ich habe gesagt, daß ich auf zwei Tage verreise. Man fragt mich jetzt nicht mehr.« Sie lächelte vor sich hin.

Karl maß sie mit einem langen Blick. Dann zog er einen Fahrplan aus der Tasche und blätterte, um seine Verwirrung zu verbergen.

Sie war aufgestanden und sah aus dem Fenster. Die stark wehende Luft kühlte ihr Gesicht. Ihr Kleid berührte sein Knie.

In einer heißen Wallung stand er auf und legte den Arm um ihren Leib.

Sie fuhr herum, mit weit aufgerissenen Augen. Dann schlug sie ihren Arm um seinen Hals und flüsterte: »Du! das wußte ich! Küsse mich!«

Er küßte sie auf die brennende Wange. Als er sich aber ihren Lippen näherte, stieg jäh der alte Widerwille in ihm auf. Es war, als ob er Erde, grobe Erde küsse. Die jähe Blüte, die in ihm aufgeschossen war, verflog.

Eine plötzliche Bewegung des Zuges warf sie beide fast mitten in das Kupee. Sie taumelten, stürzten mit Gewalt auf die Bank. Er versuchte sich frei zu machen, aber sie klammerte sich an ihn und küßte ihn mitten ins Gesicht. Er wandte sich verzweifelt ab.

»Du spielst mit mir«, stammelte sie außer sich. »Du willst herrschen, du sollst ja herrschen, Geliebter! Aber sage, daß du mich liebst.«

Dieser Ausbruch ihrer Leidenschaft erfüllte ihn mit einem grimmigen Humor. Es war alles so unglaublich plump. Er war nahe, es ihr zu sagen, aber ein hervorbrechender Seelenschmerz hinderte ihn daran. »Laß mich«, sagte er noch immer abgewandt. »Was gehe ich dich an. Was erwartest du von mir. Du bist soviel älter.«

Damit machte er sich ganz los und setzte sich an das andere Fenster. Es war vielleicht die Aufregung oder das erbarmungslose Schütteln des Wagens: eine körperliche Übelkeit stieg in ihm auf, es war wie die Seekrankheit. Er fürchtete, ohnmächtig zu werden, und schloß die Augen.

Sie betrachtete ihn erschreckt. »Was ist dir? Du wirst ganz blaß!«

Sie ergriff seine Hand, die sich kalt anfühlte. Er richtete sich rasch auf und nahm sich zusammen. Wie erbärmlich, wie abstoßend war die Szene. Eine Lust stieg in ihm auf, ihr geradeheraus zu sagen, wie häßlich sie aussah, sie weit von sich zu stoßen, die Tür zu öffnen, sie aus dem fahrenden Zuge in das Weltall hinauszuwerfen!

Sie verstummte vor seinem Blick.

Weit voneinander saßen beide in den Ecken des Kupees und sprachen kein Wort mehr, bis der Zug in die Halle einlief. Er half ihr das Jäckchen anziehen und sagte ruhig: »Ich hole meinen Handkoffer aus dem Gepäckraum und fahre gleich weiter.«

Sie wartete auf dem Bahnsteig, bis er wiederkam. Der andere Zug stand bereit, er stieg ein, schloß die Tür hinter sich und zeigte sich nicht mehr, obwohl sie nicht fortging. Sie sagte noch etwas, aber die Worte gingen im Getöse verloren. Als der Zug aus der Halle fuhr, erhob sich seine Hand von selbst, um ihr noch einmal zu winken. Aber sie sah diese Hand nicht mehr.

 

Nach zwei Tagen erhielt Karl Fleming von Berta einen Brief. Sie verstand ihn nicht. Wenn er sie liebe, warum leugnete er es dann? Habe sie Verachtung verdient? Ob er nicht fühle, wie sie ihm vertraue, wie sie glaube? Er antwortete nur mit einer Zeile: »Bitte nicht mehr zu schreiben.«

Drei Monate lang hörte er nichts von ihr. Dann, im Juli, kam ein eingeschriebener Brief von ihrer Hand aus Brüssel. Es war, als sei nichts vorgefallen. Es sei bisher gut gegangen mit ihrer Arbeit, nur ihre Gesundheit sei nicht die beste. Nun habe sie sich mit der Familie ausgesöhnt und werde nächstens auf längere Zeit nach Hause gehen, um sich zu pflegen.

Er wußte, daß ihre Gesundheit nicht stark war, obwohl er sie nie krank gesehen hatte. Mit welcher Ausdauer hatte sie in der Münchener Zeit Entbehrungen und Anstrengungen ertragen. Sie hatte ihm einmal aus ihren Kindheitstagen erzählt, wie sie aus Trotz acht Tage lang die Nahrung verweigert hatte; sie war dadurch dem Tode nahe gewesen. Der Körper hatte die Folgen dieses Starrsinnes nie ganz verwunden. Magenschmerzen machten sie oft wochenlang zur Arbeit unfähig. Alles das fiel ihm ein, als er aus ihrem Brief die leise Klage las, und er unterdrückte nicht das Gefühl, daß er sie gern wiedersähe, um wieder gut mit ihr zu sein.

All sein Wissen von ihr rief er sich ohne Bitterkeit zurück. Sie hoffte – so schrieb sie in ihrem Briefe –, daß er jetzt ruhiger über sie und über jenes Zusammentreffen denke, das ihr manche schlaflose Nacht bereitet habe. Auch bat sie um seinen Rat. Sie habe vor, mit der Arbeit im Atelier während des nächsten Winters auszusetzen und an einer Universität Kunstgeschichte zu hören; er möge ihr sagen, wohin sie gehen solle. Dem Briefe hatte sie ihre Photographie beigelegt. Ihre unregelmäßigen Züge erschienen ihm wie der Ausdruck einer leidvollen seelischen Heiterkeit, ernst und herzlich. Ja, er liebte dieses Antlitz, und aller Groll mußte verfliegen. Er antwortete mit Ausführlichkeit, empfahl Bücher und riet ihr, nach Heidelberg zu gehen. Was ihn selbst anbetraf, so meldete er, daß der Dispens endlich sicher sei. Noch einen Monat, dann die Ferien, und er gehe ins Examen.

 

Eine Woche später kam eine Anzeige mit breitem Trauerrand. Die Adresse von einer unbekannten Hand geschrieben, der Poststempel aus Bertas Vaterstadt. Berta war tot. Ein kurzer Brief folgte: die Schwester sei auf der Heimreise von Brüssel im Kloster der Ursulinerinnen zu Aachen gestorben. Die liebe Verstorbene habe den Wunsch gehabt, ihm einen letzten Gruß zu senden.

Die Nachricht traf Karl beim Durchlesen seiner Arbeit, die ihm von einem Schreibmaschinenbureau ins reine geschrieben wurde. Er steckte den Brief, unfähig, ihn ganz aufzunehmen, in die Tasche und versuchte das andere weiterzulesen, als sei nichts geschehen. Er beugte dabei den Kopf so tief, als wäre ein Gespenst, schwarz und schweigend, in sein Zimmer getreten. Wo war er hier? Die Wände wichen in die Unendlichkeit zurück. Die Blätter verschoben sich vor seinen Augen; es war, als stürzten die Buchstaben wie lauter winzige Totengerippe durcheinander. Er starrte auf das Papier und legte den Kopf darauf, minutenlang. Keine Träne kam in seine Augen. Mit einem tiefen Seufzer richtete er sich auf und stand aufrecht an seinem Tisch. Die Wände schlossen sich wieder, er sah sich um nach allen vier. Dann ging er durch das Zimmer an die Kommode und holte das Bild heraus. Er legte es auf den Tisch und warf sich darüber. Ein Schluchzen schüttelte ihn, ein grelles Staunen machte ihn fast leblos, aber es kamen keine Tränen in seine Augen.

Er hatte für diesen Abend eine Verabredung mit Bekannten. Er ging hin und verbrachte eine Zeit mit ihnen; keine Miene verriet seine Gemütsbewegung. Am nächsten Morgen besorgte er einen Lorbeerkranz und sandte ihn an Bertas Vater. Darauf kam nach einigen Tagen ein Brief mit dem Dank der Familie für den »passenden Kranz«. Das Grab befinde sich auf dem neuen Friedhof in D.

Mit dieser Nachricht war nun für Karl alles abgetan. Ein dunkler Glanz, wie von grünem Lorbeer und von einem schwarzen Sarge, war jetzt in ihm, ein seltsam melancholischer Schatten. Das Leben ließ ihm jetzt nicht Zeit zur Trauer. So sehr war er jetzt mitten in dem gespannten, furchtsamen Bangen um seine Arbeit, von der sein Leben abhing. Als das Semester zu Ende ging, erfuhr er, daß die Arbeit angenommen sei, und daß nichts dem mündlichen Examen bald nach den Ferien entgegenstehe. Karl ging vor Freude den ganzen Nachmittag spazieren und besuchte dann am Abend die Kneipe der Normannen. Sie saßen bei offenen Fenstern und sangen in die dunkle Sommernacht hinaus: »Nach Süden nun sich lenken.« Karl sang mit und verstummte plötzlich mitten im Singen. Es war ihm, als ob eine Hand sein Haar gestreichelt habe. Es mochte ein Luftzug gewesen sein, aber das Entsetzen ließ ihn nicht los.

Am nächsten Tag reiste er nach Neuwied. Der Onkel und die Tanten nahmen ihn auf mit der alten intimen Gleichgültigkeit guter Verwandten. Er arbeitete, hörte sich selber ab und merkte kaum, wie August und September vorübergingen. Als es Oktober wurde, spürte er, daß er das Examen bestehen würde. Er hörte auf, sich zu bemühen, und begleitete von jetzt ab täglich seinen Onkel, den Tierarzt, in seinem kleinen Wagen über Land.

In einem Dorfwirtshaus wartend, während der Onkel eine Kuh kurierte, nahm er seit langer Zeit wieder einmal das Kreisblatt zur Hand. Man las da von Unruhen, die in Paris ausgebrochen waren. Überall fand man jetzt Berichte von einer starken antimilitaristischen und antiklerikalen Propaganda, die Frankreich durchwühlte. In Spanien machte man Ferrer den Prozeß. Große Volkskundgebungen in den Straßen von Paris knüpften sich an die Vorgänge dieses Prozesses. Was ist das, Straßenkundgebung? In seiner Dumpfheit von Bücherwissen und ungetrauertem Schmerz wehte plötzlich dieses Wort ihn an wie der Klang einer großen fernen Harfe. Was sollte er hier zwischen Büchern und Bauern?

Mit nicht mehr Gepäck, als in seinem Handkoffer Platz hatte, und zweihundert Mark in barem Gelde fuhr er am selben Mittag nach Paris. Die Tanten hielten ihn für übergeschnappt.

Unterwegs holte er ein Bündel alter Briefe aus dem Koffer. Er erinnerte sich, daß ihm Berta für den Fall, daß er einmal nach Paris käme, ein kleines Hotel empfohlen, in dem sie monatelang gewohnt hatte. Hotel D'Anvers, Rue des Saint Pères. Nun auf demselben Wege, woher so mancher dieser Briefe gekommen war, las er die vertrauten Zeilen wieder. Keiner von ihnen war älter als zwei Jahre. Sie waren heute nichts mehr als alte Blätter, Worte aus einem Geistermunde. Es war, als seien sie es, die ihn nach Paris zogen, damit er endlich dem Geist der Freundin die Trauer abbezahle wie eine geheime Schuld. In der unbekannten Weltstadt, in dem fremden Hause, wo sie aus und ein gegangen, mitten in dieser Fremde des Lebens wollte er ihren Manen huldigen.

 

Bertas Andenken begleitete ihn nun seit zwei Tagen. Bei seinem Umherstreifen in den großen, offenen Straßenzügen, doch zumal wenn er in die enge alte Rue des Saints Pères heimkehrte: immer ging es mit ihm, wie eine ewige Melodie, die wohl vor dem vielstimmigen Liede der Stadt verstummte, doch nur, um immer wieder aufzuklingen, ihn einzuhüllen in reinere Töne. Und jetzt, da er mitten aus dem Brausen der Stadt in die dunkle Kirche eingekehrt war, erhob sie sich aufs neue wie mit Orgelklängen.


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