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Sechstes Kapitel

In dem Augenblick, als Karl am Ende der Coulaincourtbrücke, um abzuspringen, die Wendeltreppe des fahrenden Autobusses hinabkletterte, bannte ihn ein Anblick, der ihn traf wie etwas höchst Kühnes.

Hoch in der Luft baumelte an einem Trapez, das frei zu schweben schien, eine Figur in Menschengröße. Vom Wind bewegt, schien sie mühevolle Klimmzüge auszuführen; zuweilen überschlug sie sich wie ein Akrobat. Ein weißer Kastendrachen stand in der reinen Luft hoch darüber in fast unwahrscheinlicher Entfernung und mit der Unbeweglichkeit eines liegenden Gegenstandes. Der papierne Akrobat machte seine halsbrecherischen Kunststücke genau über dem Montmartrefriedhof, gerade über den eng gesäten, grauen Steinen, deren Menge sich zwischen den wie Kreideklippen aufgerichteten Häusern bandförmig unter der Straßenbrücke hinzieht, wie das mit Felsklumpen und Geröll bedeckte Bett eines ausgetrockneten Flusses. Etwas tiefer als der Mann am Trapez flatterte an demselben Draht, den man in der Luft nur ahnte, und den der schwebende Drachen in die Unendlichkeit emporzog, ein langes weißes Wimpel. Es war mit steifen schwarzen Lettern bedruckt, die so groß waren wie Reißschienen. Das Ganze war als eine Reklame des benachbarten Hippodroms zu erkennen, dessen aschblonde Riesenwände sich unweit an der Ecke des Boulevard Clichy mit ihrem goldüberladenen Eingang erhoben und dem alten Montmartrefriedhof den Rücken zuwendeten.

Karl fand sich ohne Mühe zur Rue Norvins. Der Plan, den ihm Pernod aufgezeichnet hatte, erleichterte ihm das Suchen. Es wäre ohne Skizze nicht so einfach gewesen, die unbedeutende Straße auf dem Gipfel des Hügels zu finden; auf diesem Stückchen weißen Papiers aber sah er seine Schritte schon mit Punkten in den engen Straßen vorgezeichnet, die sich wie die Stäbchen eines Vexierspiels aneinanderschoben. Ähnlich war es mit dem sehr verworren angelegten Komplex von alten und ziemlich baufälligen Häusern, die sämtlich zu Nummer sechsundzwanzig der Rue Norvins gehörten. Sie bildeten eine Art Sackgasse und lagen hinter einem rostigen Gittertor, wo sie zwei langgestreckte Höfe umgaben. Alle waren niedrig und hatten etwas Ländliches. Die zwei Höfe, oder besser gesagt, die große schräge, noch einmal durch einen besonderen Durchgang abgeteilte Sackgasse war in ihrer ersten Hälfte von Küchengärten umsäumt, während der andere Teil mit Büschen und Blumengärten den Berg hinabführte wie ein Fußweg an einem baumbestandenen Abhang. Hier standen zwei Reihen altmodischer Gartenhäuser in einer fast unbegreiflichen Abgeschiedenheit. Der Fußweg war mit brüchigen Steinplatten belegt und ziemlich steil. Man sah den Himmel und die Stadt mit dem stechenden, wässerigen Glanz der zahllosen Dächer. Wie schwarze Flämmchen schienen überall die Schornsteintöpfe aus dem metallisch glänzenden Schiefer emporzulodern und mit einem träumerischen Schwelen die Nebel zu nähren, welche die Dächer befeuchten. Der Horizont war silberklar, von einer fast brennenden Helligkeit.

Karl blieb vor dem letzten Zaun der Sackgasse stehen. Hier mußte es sein. Die Gartentür war geschlossen. Das kleine Haus war von herbstlichen Sträuchern und ein paar dürren Birnbäumen umgeben. An einem offenen Fenster im einzigen Stockwerk stand eine junge, hübsche Frau vor einer Staffelei. Ihr Gesicht war halb in das Zimmer gewendet, ihr Haar über dem freien Nacken zu einem schweren schwarzen Knoten aufgebunden.

Karl suchte vergebens nach der Klingel. Er rüttelte an der Gartentür. Die junge Frau trat ans Fenster. Sie trug eine Malschürze und hatte Pinsel und Palette in den Händen. Er zog den Hut.

»Wohnt hier Herr Professor Fraconnard?«

»Man wird Ihnen öffnen, mein Herr«, rief die junge Frau herunter und verschwand vom Fenster.

Kurz darauf trat ein Dienstmädchen aus dem Hause, führte Karl in den Vorraum und bat um seinen Namen. Er gab seine Karte ab und legte mit klopfendem Herzen Milloups albernen Zettel dazu.

Aus dem oberen Stockwerk klang das gleichmäßige laute Sprechen eines Mannes, fern genug, daß man kein Wort verstehen konnte. Das Mädchen trug die Karte hinauf.

Karl sah durch den Spalt der angelehnten Tür im Erdgeschoß auf einen mit Büchern und Papieren behäuften Schreibtisch. Es war wohl das Arbeitszimmer.

Er fuhr zusammen: Während er sich noch halb neugierig, halb verlegen umsah, war ein kleiner, schwarzhaariger Mann in Hausschuhen fast lautlos die Treppe herabgekommen und lud ihn nun mit einer Handbewegung ein, in das Zimmer zu treten. Er ließ Karl vorausgehen, lehnte hinter sich die Tür nur an und stellte sich mit dem Rücken gegen das Fenster.

Der runde, schwarzhaarige und kurzgeschorene Kopf des untersetzten, breitschultrigen Mannes hob sich an dem kleinen Fenster fast ungeheuer gegen den Hintergrund des Gartens ab. Die Hände auf dem Rücken, in einem etwas abgetragenen Gehrock, der der Gestalt etwas Militärisches gab, musterte der Professor den Besucher mit einem Blick. Die harte, breite Stirn, die gelbliche Haut, die aus etwas schräg verlaufenden Schlitzen hervorstechenden Augen, besonders aber die Spitzen des über die Mundwinkel herabhängenden Schnurrbartes gaben dem Kopfe ein fremdartiges Aussehen. Das war der Kopf eines jener hölzernen Chinesen, wie man sie in den Seestädten vor den Tabakläden sieht.

An der Wand über dem Kamin hing ein lebensgroßes Bildnis desselben Mannes, desselben Fraconnard, in demselben Gehrock, so daß sich Karl fast einer Verdoppelung gegenüber sah. Das Bild, mit dem gelbgrünlichen Hintergrund wie von einer Gasflamme, wirkte wie ein Plakat. Ein Strauß von Astern und braunem Laub, der auf dem Kamin stand, reichte bis an den Rahmen, der das Bild wie ein breiter Trauerrand umgab. Ein paar Gestelle mit Büchern standen da, sonst waren die Wände leer. Nur in der Höhe des Gesimses lief mit Unterbrechungen ein schmaler, weißer Fries mit den schwarzen Silhouetten antiker Tänzerinnen an der Wand entlang. Das Zimmer enthielt außer dem Schreibtisch und dem Stuhl davor nur noch ein Tischchen, das mit Zeitungen und Broschüren bedeckt war, und einen ledernen Diwan.

Karl bemerkte erst jetzt, daß er mit Fraconnard nicht allein war. Auf dem Diwan lag ein kleiner, vielleicht fünfjähriger Junge auf dem Bauch. Er trug einen Matrosenanzug und streckte seine halbnackten Beine weit von sich. Er schien in einem großen, illustrierten Buch zu lesen. Der Knabe wandte nicht einmal den Kopf nach dem Besucher; er schlug langsam Seite für Seite um.

Karl, der seinen Mantel nicht abgelegt hatte und seinen Hut in der Hand behielt, wurde angeredet:

»Die Empfehlung des alten Milloups ist originell. Er war heute morgen bei mir in der Redaktion, um zu erzählen, daß er nahe daran war, von einem Hunde aufgefressen zu werden. Nun schön, daß jemand die Bestie rechtzeitig erschossen hat. Er schneidet manchmal ein wenig auf, der gute Milloups. Und was wünschen Sie, mein Herr, wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Karl sah sich vergebens nach einer Sitzgelegenheit um. Der kleine Kerl auf dem Diwan streckte seine Beine aus wie eine Schere und schrie laut heraus: »Eh! nicht hierher! Setze dich auf deinen Daumen!«

Karl blieb stehen und sagte betreten: »Der Grund, warum ich mir erlaubte, Sie zu stören, ist zunächst meine Besorgnis um sechs Personen, die nach den Angaben Ihres Blattes gestern abend verhaftet worden sind. Ich bin schuld daran, und ich habe vor, alles zu tun, um ihre sofortige Freilassung zu bewirken. Ich bin vollkommen fremd in Paris und bitte um Ihren Rat.«

»Sie sind Sozialist, Anarchist, Fraconnardist, mein Herr?« fragte Fraconnard.

Karl errötete wie ein Mädchen.

»Ich bin Student der Nationalökonomie«, gab er zur Antwort. »Ich habe in Deutschland Ihr Buch gelesen und bin auf die Nachricht von den Unruhen nach Paris gekommen. Die erste Nummer Ihres Blattes, die ich gestern auf der Straße las, brachte mich zu den Kundgebungen.«

»Und Sie haben nicht vergessen, Ihren Revolver mitzunehmen ...«

In diesem Augenblick schrie der Knabe mit einer schneidenden Stimme, die den Ohren weh tat: »Papa, das ist wieder mal ein ganz drolliger Kerl!«

»Willst du schweigen, Schlingel!«

»Oh, du wirst mir nicht gleich die Ohren abreißen. Papa, soll ich dir etwas vorlesen?«

»Verhalte dich ruhig, Jeanjean, sonst fliegst du hinaus!«

»Oh, Papa, wenn ich beiße, läßt du mich immer wieder los. Du bist so komisch. Wenn du kommst, werde ich dich einfach auf den Bauch schlagen.«

Fraconnard lachte. Und ganz sanft sagte er: »Du wirst jetzt bitte artig sein, Jeanjean, sonst störst du diesen Herrn und mich wirklich zu sehr, und ich müßte dich zur Mutter hinaufschicken. Dort oben kriegst du keinen Don Quichote zu lesen wie hier.« Und zu Karl gewendet, fuhr er scherzend fort: »Mein Sohn hat eine sehr wenig kordiale Art, mit seinem Vater zu verkehren. Vielleicht wird er mit der Zeit liebenswürdiger. Er ist noch jung.«

Der Knabe war schon wieder beschäftigt, aber er sah noch einmal von dem Buche auf: »O bitte, ich bin älter als Mimi Cordulier! Die ist sehr jung. Sie ist vier Jahre, ich bin sechs.«

Als nun Fraconnard eine drohende Geste machte, drehte er sich um und blätterte in dem Buch weiter.

»Du wirst Platz machen, Jeanjean, damit sich der Herr setzen kann«, sagte Fraconnard. Der Knabe wälzte seinen kleinen Körper nahe an die Wand. Karl setzte sich auf den Rand des Diwans.

»Sie sind ein Deutscher? Student, sagen Sie?«

Karl bejahte beklommen.

»Ich bin erst seit wenigen Tagen in Paris. – Sie haben vielleicht die Güte mir zu sagen, was in der Hundeaffäre geschehen kann.«

»Gar nichts. Es ist nichts zu machen«, sagte Fraconnard kurz. »Überlassen Sie diese Sache getrost sich selbst. Es ist liebenswürdig, daß Sie sich uns vorstellen. Wir werden an diesen Fall in unserem Blatte die nötigen Erörterungen knüpfen, das versteht sich. Wollen Sie Ihre Person nützlich machen, so beteiligen Sie sich weiter an den Kundgebungen in dieser hübschen Art. Sie suchen Abenteuer in Paris. Nun, so werden Sie doch nicht gleich der Polizei freiwillig in die Hände laufen? Kleine Beispiele wirken auf die Menge, und ein mutiger Mann verschafft sich bald ein gewisses Prestige.«

Karl merkte den ironischen Ton in diesen Worten. Er erhob sich.

»Ich danke Ihnen, Herr Professor, aber ich glaube nicht, daß es sich für einen Fremden in Paris lohnt, eine solche Rolle zu versuchen.«

»Pardon, Sie müssen wissen, was Sie sind«, sagte Fraconnard ungeduldig. »Wenn Sie sich als Fremden betrachten, warum gehen Sie in die Menge? Sie sind aber Revolutionär, nun, so sind Sie kein Fremder. Sie brauchen ja nicht gleich ein Märtyrer zu werden. Ferrer ist es heute. Noch vor zwei Monaten hat er an der Stelle gesessen, von der Sie eben aufstehen. Wir befinden uns nun einmal im Angriff.«

In diesem Augenblick fühlte Karl seinen Körper von den wie eine Zange ausgestreckten Beinchen des Knaben umfaßt, der versuchte, ihn an sich zu ziehen und auf den Diwan zu reißen. Der Kleine begleitete diesen Überfall mit einem wahren Triumphgeheul, das so grell und schneidend war, daß Karl in Versuchung kam, das Kind durch eine Ohrfeige zur Ruhe zu bringen.

Fraconnard setzte sich auf die Fensterbank und trommelte mit den Stiefelabsätzen gegen die Lamperie.

»Ruhe da! Was soll das! Jeanjean! Willst du loslassen! Monsieur Fleming, geben Sie ihm eine Ohrfeige!«

Der Kleine ließ schleunigst los und verkroch sich an das Kopfende des Diwans, wo er seinen Kopf abwehrend durch ein Kissen schützte. Aber neben dem Kissen lachte er hervor. Er war ein zarter Knabe mit einem schmalen, sehr blassen, mit Sommersprossen bedeckten Gesicht. Seine Augen, fast wimpernlos und ohne Brauen, waren weit geöffnet und glänzten braun wie Kognak. Diese seltsamen Augen überstrahlten das Gesicht des Kindes mit einer fast übernatürlichen Lebendigkeit.

Karl streckte dem kleinen Burschen gutmütig die Hand entgegen. Sofort hieb er mit dem Kissen darauf und schlug eine helle Lache an. »Oh, du bist solch ein Esel«, schrie der Knabe herausfordernd. Er schien zu wissen, daß ihm nichts geschah. Karl wendete sich ab.

Diese kleine Szene, der scharf umrissene Kopf des Professors, der da vor ihm im Fenster saß und durch die familiäre Ungeniertheit, mit der er ihn empfing, seinen wenigen Worten einen Beigeschmack zu geben wußte, daß man daraus den Mut zur Gründlichkeit gewinnen konnte, brachte Karl dazu, geradeheraus zu antworten:

»Allerdings, ich bin nach Paris gekommen, weil hier etwas los ist. Ich stehe im Begriff, meine Universitätsstudien zu beenden. Früher war ich in Amerika, und ich hatte vor, einmal dorthin zurückzukehren. Als ich von Ihnen hörte, sagte ich mir, daß es sich vielleicht lohnte, in Europa zu bleiben und das Kommende zu erleben. Unsere Politik in Deutschland vermeidet es, die Grundfragen zu berühren. Ich habe von Paris gelesen und möchte wissen, was unter der internationalen Partei zu verstehen ist, die hier im Entstehen ist und sich weiter ausdehnen soll mit einem Minimum von Organisation und Disziplin, wie das Programm lautet.«

Der Knabe war von dem Diwan herabgeklettert und hatte sich vor seinen Vater hingestellt. Fraconnard hob ihn neben sich auf die Fensterbank. Sofort versuchte er ihm nun auch auf die Schultern zu klettern und schrie:

»Halte mich doch fest, Georges, ich will mal hier in die Höhe.«

»Hier bleibst du sitzen, bis du heiratest«, sagte der Vater gutmütig. »Produziere dich nicht, Jeanjean, wir sind nicht auf dem Jahrmarkt.«

»Doch, wir sind auf einem Jahrmarkt!« schrie der Kleine mit seiner schneidenden Stimme.

»Jetzt ist's genug, kleiner Kakadu«, sagte der Vater geduldig, packte den Kleinen am Kragen und setzte ihn in die Stube. »Geh zu Mama, sofort.«

Der Kleine schlich zur Tür, machte die im Nu auf und war mit einem schrillen Gelächter draußen. Man hörte ihn die Treppe hinaufspringen.

Fraconnard sah auf die Uhr. Er trat an seinen Schreibtisch.

»Sie sind hierhergekommen, sagen wir aus Wißbegierde. Sie kommen gerade recht, um zu sehen, wie wir die Massen auf die Straße bringen und sie gewissermaßen sich selber zeigen. Wir reden nicht mehr vom sozialen Krieg, wir führen ihn. Was wir tun können, ist, zu demonstrieren und das Volk anzulernen, seine natürlichen Feinde mit den Augen der Wissenschaft zu betrachten; ihm seine Fähigkeiten klarzumachen, um ihn die Umrisse einer neuen Ordnung zu zeigen, in der es nicht mehr möglich ist, daß Menschen verhungern oder Kinder verwahrlosen und die Frauen sich hergeben wie einen Spucknapf. Ich weiß eine Beschäftigung für Sie. Heute ist Donnerstag. Wir sind bei den Vorbereitungen für die Kundgebung, die am nächsten Sonntag stattfinden wird. Diesmal müssen wir ganz Paris auf die Beine bringen. Wenn Sie es unternehmen wollen: ein Mann wie Sie kann mit Leichtigkeit die Zahl der Demonstranten um fünfzig oder hundert vermehren.«

»Wie denken Sie sich das?« fragte Karl ganz verwundert.

»Sehr einfach. Es gibt zahllose Deutsche hier in Paris. Ich weiß nicht, sind es dreißigtausend oder fünfzigtausend. Eine Menge davon sind arme Teufel, die sich in gewissen Kneipen herumdrücken. Suchen Sie doch mit diesen Leuten in Berührung zu kommen und bringen Sie sie mit zur Demonstration. Damit fangen Sie an; dann werden wir bald weiter sehen. Wir haben schon so etwas wie eine Fremdenlegion hier in Paris. Hier können Sie sich ohne Vorbereitungen nützlich machen und manches profitieren. – Nun?«

Der Vorschlag ließ nur ein glattes Ja oder Nein zu. Karl besann sich nicht lange. Was konnte ein Experiment bedeuten?

»Ich bin bereit, den Versuch zu machen«, antwortete er. »Sagen Sie mir, wie ich die Sache anzufangen habe.«

»Einen Augenblick,« sagte Fraconnard, »ich werde Sie mit einem Kameraden bekannt machen, der Sie einführt.«

Fraconnard ging zur Tür und rief in das Haus: »Scappini! Eh, Scappini!«

Niemand antwortete. Aus dem gegenüberliegenden Zimmer des Erdgeschosses kam das Klappern einer Schreibmaschine. Fraconnard schritt hinüber und ließ den Besucher einen Augenblick allein.

Karl trat an das Fenster und sah auf den kleinen Garten hinaus. Er spreizte die Hände in den Taschen seines Mantels und zog die Schultern hoch. Fraconnard hatte ihn requiriert, wie er da war. Wie man Pferde requiriert zu Kriegszeiten. Die Sache lag ganz einfach: Fraconnard sah in ihm eine Kraft, die sich anbietet, und die sofort nutzbar gemacht werden muß.

Die Spannung, die seelische Reaktion gegen diesen Überfall, die ihn einen Augenblick stark ergriffen hatte, verflog, als Fraconnard das Zimmer wieder betrat. Ein Mann von etwa dreißig Jahren folgte ihm. Sein schwarzes, glänzendes Haar, die olivenfarbene Blässe seines etwas gedunsenen, doch edel geschnittenen Gesichtes verrieten den Italiener. Er hatte schwarze rasierte Backen, die aussahen wie mit Kohlepapier abgerieben, und braune Zigeuneraugen, die ein wenig schielten. Der ganze Körper machte den Eindruck einer geschmeidigen und gewissenlosen Vitalität, aber die Augen besonders gaben ihm einen giftig-süßen Ausdruck von Falschheit.

Karl war von dem Menschen entsetzt. Doch er zeigte beiden ein waches, aufgehelltes Gesicht.

»Hier, mein lieber Scappini,« Fraconnard zog den anderen am Ärmel herbei, »ist Monsieur Fleming, ein junger Deutscher, der gestern abend auf dem Boulevard de Courcelles eine Probe seines Mutes abgegeben hat. Er erklärte sich soeben bereit, unter seinen Landsleuten in Paris Propaganda zu machen. Sie werden ihm zeigen, wie man das anfängt.«

Unglaublich, diese Franzosen! dachte Karl. Der Stil dieser Einführung verriet an Fraconnard dieselbe Lust an der Übertreibung, die den alten Milloups so albern erscheinen ließ.

Er streckte dem Italiener etwas steif die Hand entgegen. Der unbekümmerte und harmlose Ausdruck, den Karl, rasch gefaßt, bei dem Eintritt der beiden Männer angenommen hatte, blieb auf seiner Miene wie eine Maske, die mit einem Male durchaus nötig schien.

Der Italiener drückte Karl übertrieben fest die Hand.

»Eine sehr willkommene Verstärkung«, sagte er schmeichelnd, mit einem etwas fremdartigen Französisch. »Der Professor beabsichtigte, Ihnen eine Karte an Freunde mitzugeben, aber das ist nicht nötig; ich werde morgen vormittag mit Ihnen zusammentreffen, um Ihnen ein paar Lokale zu zeigen, wo Sie Leute treffen. Wir haben viel Arbeit und große Eile. Jetzt sind noch die angenehmen braunen Herbsttage, die Massen gehen gern auf die Straße. Bald kommen die Nebel, es kommt Regen, es wird Winter, und ganz Paris fällt in eine Art Ohnmacht. Wir haben noch zwei Tage vor uns bis zum Sonntag. Sie wissen, daß am nächsten Sonntag eine sehr große Kundgebung stattfinden soll. Sie treffen mich morgen früh Ecke Rue Richelieu und Petits Champs, punkt neun Uhr.«

»Bis nächsten Sonntag also, Kamerad«, sagte Fraconnard, für den damit alles erledigt war. Karl verneigte sich lächelnd.

Fraconnard reichte ihm die Hand, schloß das Fenster und setzte sich an den Schreibtisch. Scappini begleitete Karl bis an die Gartenpforte. »Ecke Rue Richelieu und Petits Champs, neun Uhr, vergessen Sie das nicht«, sagte er noch, mit einem verbindlichen Lächeln und sanfter Stimme. »Auf Wiedersehen.«

 

Karl stieg langsam wieder zwischen den Gartenzäunen hinauf und ging durch den Hof bis an das eiserne Gittertor. Es war geschlossen und wurde ihm erst auf sein Rufen durch einen im Pförtnerhäuschen verborgenen Mann geöffnet. Dann schritt er die Rue Norvins hinab. Ihm war etwas unbehaglich zumute. Es war ihm, als ginge er nicht mehr mit seinen eigenen Schritten; als zwänge ihn ein fremder Wille, der ihn zu einem Instrument machte. Er hatte eine Aufgabe: den Befehl, eine Handvoll Vagabunden, Statisten, Mitläufer zusammenzuraffen. Aber warum sollte er sich weigern? Übrigens, man hatte ihn nicht einmal nach seiner Adresse gefragt. Niemand konnte ihn holen, wenn es ihm einfiel, den Auftrag abzuschütteln, wenn er morgen früh nicht da war. Er war noch vollkommen frei, zu handeln, wie er wollte. Doch, er wußte wohl, daß er morgen früh ganz gewiß um 9 Uhr an der Ecke Rue Richelieu und Petits Champs sein würde.

Schneller ging er nun die steil abfallenden Straßen des Montmartre hinunter; er kam ins Laufen, das fast zu einem Hüpfen wurde und ihn lustig machte. Schließlich stand er wieder auf der Brücke über dem Montmartrefriedhof und sprang auf einen vorüberratternden Omnibus.

 

Mit vollem Ungestüm trug ihn der Autobus zu der von Verkehr und Menschen wogenden Place de Clichy hinab. Die Dämmerung brach ein. Die Straßen begannen von Licht zu glänzen, und er flog dahin durch den Lichterglanz der Straßen, durch die tiefen, schnurgeraden Engpässe der Stadt, deren Wände durchsichtig waren wie die Scheiben eines Aquariums. Vor dieser gläsernen Helligkeit bewegten sich die Menschen wie starke Schatten.

Es war Karl, als müsse er da oben auf dem Verdeck des Autobusses den summenden Baß des vorwärts polternden hochgetürmten Wagens mit einem aufgeregten, lauten Gesange begleiten: als wisse er plötzlich, was die Kinder auf der Straße drängt, Gassenhauer zu pfeifen. Denn das Lied der Stadt will aus den Menschen hervorbrechen, sie nehmen irgendeine Melodie dazu. Sein eigenes Leben klang mit dem abendlichen Leben der Stadt wie in einem rauhen Gesange zusammen. Unten, vor dem drohend vorwärts schießenden Wagen, dessen rotbrauner Glanz sich in den Scheiben der Straße spiegelte, prallten und spritzten die Menschen zurück. Dann machte der Autobus vor den dichten Menschenströmen der großen Boulevards halt. Die Straße mit ihren Menschen bewegte sich wie das Gleitband eines Silos mit schwarzen Körnern. Karl stieg in das wildbewegte Element hinab wie von einer sicheren Planke.

Es war Nacht geworden.

In dem monumentalen, glasumbrochenen Feuerwerk der Straße, dessen Schein in den bräunlich glühenden Wipfeln der Bäume rieselte und die ununterbrochene Reihe der Hauswände, die schweren Umrisse des Tores von Saint-Denis aus der Düsterheit der Nacht hervortreten ließ, ging Karl gelassen mit dem Strom der Menschen wie eine Welle. Auf den Verdecken der Autobusse und der Trambahnen lehnten die Leute, wie aus schwarzem Papier geschnitten, und in unaufhörlicher Prozession schoben sich Gesichter vorüber, unter helmartigen Hüten, mit wallenden Federn. Über den immer wieder aufs neue sich stauenden und lösenden Fluten der Menschen standen die Häuser da, fest und hoch, wie die unverrückbaren, dunklen und von innen leuchtenden Worte eines mystischen Satzes. Es war der unendliche Satz der Boulevards, mit Interpunktionen überschüttet, mit den bläulich-weißen Sonnen der Bogenlampen, den rot aufglühenden und von einer schwarzen Hand plötzlich weggewischten, doch immer wieder erscheinenden Ausrufungszeichen, Doppelpunkten und Strichen, den wahnsinnigen Schlangenlinien der Lichtreklamen, mit Kiosken, die in regelmäßigen Abständen wie große, blaue Warnungen leuchteten, mit dem intensiv gelben Licht der Schaufenster, den gleitenden Droschkenlaternen. Das Gebäude des »Mentor« war mit einer Reihe von Bogenlampen behängt, die ein schneeweißes Licht ergossen: es glich einem Birnbaum in weißen Blüten. Vor den Spiegelscheiben des Gebäudes drängten sich die Menschen in einer massiven Stauung. Mit schräg aufgerichteten Köpfen sahen sie hinauf zu den übermäßig bestrahlten Tafeln aus blauem Glase, auf denen in deutlicher weißer Schrift die letzten Telegramme erschienen. Zu Füßen der Menschen leuchteten mit durchsichtigen Glaswänden die Keller empor, glänzten die strammen Stahlglieder der Schnellpressen, die wie auf einem Streckbett strampelten und doch nur einer einzigen, monotonen Bewegung fähig waren. Die Menge durchstöberte mit ihren Augen wahllos den Haufen von Nachrichten von Flugversuchen, Verträgen, Streiks, Gefechten in Afrika, von Automobilrennen und Reden. Es schien, als hätten alle Telegraphenlinien der Welt nichts anderes zu tun, als den Vorgängen des Lebens so rasch wie möglich solche Nachrichten zu entreißen, die dem Herzen nichts sagten; sie rasch auf einen Haufen zusammenwerfen, hinunter in diesen Keller, wo die sich abrollenden Papiermassen wie Mühlsteine die Ernte harter Neuigkeiten zu dem groben Schrot der Zeitungen mahlten, um sie dann über die Stadt auszuschütten, in hunderttausend Hirne, die unersättlich das Banale und das Ungeheuerliche verschlangen, wie ein Zauberkasten, der alles aufnimmt, um ebenso rasch alles zu vergessen. Dem Auge des Sehers in dieser Menge mußte es überlassen bleiben, aus dem Haufen von Ereignissen, die das große Gebäude allen sichtbar auf seinen blauen Glastafeln emporhielt, Ahnungen des Glücks oder des Kummers hervorzuholen.

Wie offene Öfen glühten die aneinandergedrängten Läden, wo rotierende Lampen ihr starkes Licht über ein Glitzern wie von lebenden Insekten ausgossen. Ansichtskartengeschäfte mit ihren Stapeln von zehntausendfach wiederholten eintönigen Abbildungen der Stadt glichen seltsamen Grotten, grasgrün beleuchtet. Passagen führten tief in die Berge der Häuser hinein; der Boden war mit bunten Reklamezetteln bedeckt wie vom Fall der Blätter im Herbst.

Karl trat in eine dieser Höhlen, die in einem Café Chantant endete. Er bekam Lust an dem Treiben, der Aufregung, dem Beifallklatschen da drinnen. Er hatte erfahren, wie unendlich schrecklich es ist, zwischen Hunderte von Menschen eingepfercht zu sein, die vor Haß wie Tiere schrien und pfiffen und vor einer Handvoll Reiter in Todesangst davonrannten. Es mußte unendlich lustig sein, hier zwischen einigen hundert Menschen vor Vergnügen in die Hände zu schlagen. Soeben beendete eine Chansonette ihr Lied. Einige Leute klatschten Beifall, andere pfiffen. Die Sängerin erschien noch einmal vor dem Vorhang und verschwand, als der Widerstand sich erhob. Da nahm er sich der Sache an: hartnäckig und in dem eigentümlichen Rhythmus, den er sofort erfaßt hatte, schlug er allein in die Hände; und sein Übermut riß plötzlich die ganze Masse der Zuschauer noch einmal zu einer Salve des Beifalls fort. Die Sängerin erschien zum zweitenmal; sie strahlte und warf nach allen Seiten Kußhändchen in das Publikum. Das war es, was er gewollt hatte. Zufrieden trat er wieder auf den Boulevard hinaus.

Vor seinen Füßen rauschte der rote Laubfall der Reklamezettel, die den Asphalt bedeckten. Eine Saat von Zumutungen rieselte auf diesen Zetteln zu Boden, die den Vorübergehenden von Dienstleuten gereicht und achtlos fortgeworfen wurden; die eilenden Sohlen der Nachdrängenden stempelten sie mit dem schmutzigen Siegel der Vergeblichkeit. Es waren Anzeigen von Restaurants, von Schuhgeschäften, Ärzten, Detektivbureaus. Doch fand sicherlich eine aus tausenden dieser Anzeigen ihren Weg zu dem Menschen, der der Anpreisung blindlings folgte. Eine Verschwendung von Begierden sprühte aus den Blicken der Männer und aus den unerschütterlichen Gesichtern elender Frauen; auch aus diesen Blicken flochten sich die Brücken unwahrscheinlicher und tragischer Liebschaften. Das Auge, das in diesem Augenblick unwillkürlich die mit Nullen aufgeblasene Kapitalziffer auf dem metallenen Firmenschild des Credit Lyonnais und die weiße Marmorpracht des Hauseinganges erfaßte, ruhte im nächsten Augenblick auf den übertriebenen Abbildungen furchtbarer Krankheiten, die mit geheimnisvollen Anpreisungen auf Plakatzetteln von eitergelber Farbe die von körnigem Rost überzogenen Innenwände der abscheulichen Urinoirs bedeckten, dieser dunklen, stinkenden Zellen, welche die glänzende Straße gleich Schilderhäusern des Teufels neben den schattenhaften Biwaks der Droschkenhaltestellen begleiten. Die verwirrende, einzigartige Mischung von hastenden und gemächlich bummelnden Menschen gab diesem unendlich bewegten Fluß der Boulevards eine Gebrochenheit der Linien, die sich in der Formel immer gleichblieb, wohin das Auge sah. Das Nachlaufen einer ganzen Versammlung von Leuten an einer Omnibushaltestelle hinter dem langsam vorfahrenden Omnibus, die stehend ausgestreckten Hände mit den Nummern, nach denen der Schaffner gleichmütig die Reihenfolge der Mitfahrenden feststellte, wirkten wie eine Verzerrung ... wie ein Spott auf die Sehnsucht der Seelen.

Karl nahm Platz auf der Terrasse eines Restaurants, das mit seinem Hintergrund von Zigeunermusik und hell beleuchteten Menschen, seinen überhängenden Markisen und den zur Straße gerichteten Stuhlreihen einer Zuschauertribüne unter hochgeschlagenem Zeltdach glich. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite glänzte weiß wie Kreide die bestrahlte Fassade eines kleinen Theaters. Ein Spalier von Neugierigen stand geduldig an beiden Seiten der Freitreppe. Damen im Theatermantel und in Brillanten, deren farbiges Glitzern über die Straße flog, Herren im Frack entstiegen den heranklappernden Droschken und flammenden, stillstehenden Automobilen. Die Menge blieb andächtig und regungslos. In der kühlen Nachtluft sah man über den Köpfen die grauen Rauchfäden der Zigaretten sich emporringeln und zart zerflattern. Leute verließen diese Menge, andere kamen und nahmen Teil an diesem breiten Stillstand; die Menge war wie ein einziger Mensch, den die Spiegel eines Irrgartens mit hundertfach denselben Armen und Beinen zeigen.

Eine Dame nahm neben Karl an dem Tischchen Platz. Es dauerte nicht lange, so begann sie ein Gespräch. Sie war eine Deutsche, eine Abenteurerin, die von Leichtsinn und Gesundheit strahlte, mit sonnverbranntem Gesicht und Nacken, einem Ehering am Finger und Krähenfüßen um die Augen. Weiß Gott, welche Streiche ihr im Gesicht standen, wem sie davongelaufen sein mochte, um hier auf dem Pariser Pflaster zu landen, frisch und unternehmungslustig und mit dem Körper einer Riesin! Sie schwatzte munter drauflos und prüfte dabei Karl mit ihren schönen Blicken und einem verheißungsvollen Lächeln. Sie erzählte von einem Sommer am Strand von Ostende und von künftigen Tagen in Monte Carlo. Sie bildete sich etwas darauf ein, Karl sofort als einen Deutschen erkannt zu haben. Mit verstecktem Staunen hörte er dann zu, wie sie anfing, von Pariser Frauen allerhand Unglaublichkeiten zu erzählen und dazwischen Bemerkungen über einen Schauspieler, einen russischen Kaufmann und einen Offizier in Zivil einflocht, die da in der Menge des Boulevards vorübergingen, und deren Grüße sie konstatierte.

Eine Blumenverkäuferin setzte einen Korb mit Veilchensträußen auf den Tisch und nahm bescheiden einen Augenblick auf einem leerstehenden Stuhl Platz. Eine aufgedonnerte Kokotte rauschte vorüber und grüßte sie freundlich. Arbeiterinnen gingen vorüber. Mitten in der lachenden, schwatzenden Menge erschien ein Weib mit einem Gesicht wie eine geschälte Birne, mit Augenhöhlen wie Fäulnis. Die Blumenverkäuferin war aufgestanden, nachdem sie sich eine Minute ausgeruht hatte, und bot ihre Veilchen an. Karl kaufte einen Strauß für seine Nachbarin, überreichte ihn ihr und beobachtete zerstreut einen Zwerg, der quer über die Straße ging. Er trug eine Last Schuhriemen über seinem Nacken wie ein Kummet und wich mit komischen Sprüngen den Droschken aus. Und diese Frau neben ihm, mit seinen Veilchen auf dem vollen Busen, schwatzte immerfort, strahlend und bereit, noch stundenlang zu schwatzen, bereit, unerschöpflich weiterzulügen und ihn oder irgendeinen andern Menschen für ein kleines Geschenk zu beglücken.

Karl rief den Kellner. Er bezahlte die kleine Zeche seiner Nachbarin und verabschiedete sich. Sie war enttäuscht und wurde ungnädig.

»Eine Verabredung, schöne Frau ...«

Sie nickte steif und hoheitsvoll. Mochte er gehen, der Esel. Er hatte wohl nicht genug Geld? Auch sie stand auf und begann unermüdet ihren Streifzug von neuem.

Karl bummelte weiter. Jetzt, da die Theater spielten, hatte der Verkehr nachgelassen. Weniger Menschen waren da, die das Licht wegnahmen; die Boulevards schienen etwas heller geworden. Das Licht der Bogenlampen, unter denen das Pflaster wie im Vollmondschein glänzte, beleuchtete die Häuserwände, die mächtigen Fassaden mit ihren Riesen bis oben hinauf, wo sich die Dächer mächtig wie schwarze Wogen mit der trüben Nacht vermischten. Durch das Trübe leuchteten spitz und grünlich ein paar Sterne.

Karl dachte an Fraconnard, an die jagende Unruhe in dieser Stadt, an die Predigt des Hasses, der Empörung, die in den steinernen Hohlräumen dieser Häuser umging und vielleicht bald mit einem Schlag das gewöhnliche Aussehen dieser Boulevards verändern konnte. Noch lebte alles unbekümmert. Die künstlichen Sonnen leuchteten, die Cafés und Theater glänzten, die Frauen wanderten, die Autobusse polterten ...

Einer von ihnen hatte ihn heute zu Fraconnard hinausgetragen, mit seiner brennenden Frage im Herzen. Er hatte eine Antwort erhalten: Krieg unter den Menschen, Haß gegen Haß. Wer war dieser Mann, der es wagte, an eine ganze Stadt das Messer zu setzen, die Scharen der Straße mobil zu machen, Regierungen in den Arm zu fallen. Mit einer Art von Befriedigung rief sich Karl den fremdartigen Mann in dem kleinen, versteckten Hause ins Gedächtnis zurück. So hatte er sich zuweilen sein Leben gedacht: abseits, doch im Leben einer großen Stadt, er selbst der Mönch einer Idee. Und er dachte an die junge, hübsche Frau am Fenster, an den kleinen Knaben, an die Art, wie dieses Kind neben dem Manne aufwuchs, frühreif, verblüffend ungezogen, mit seinem unvergeßlich feinen und wilden Gesicht.

Die Theater waren aus. Die Boulevards schwammen plötzlich wieder von einer Menschenflut, die wie aus Füllhörnern ausgegossen schien. Karl machte sich auf den Weg nach Hause.

Doch da war am Rande des Trottoirs ein Auflauf.

Eine ständig anwachsende Menge umgab eine Frau, die im Halbdunkel auf eine der Promenadenbänke hingesunken war. Sie lag mit dem Kopf auf der Bank; das Licht der Straßenlaterne beschien ihr gekräuseltes braunes Haar. Jemand, der es nicht für der Mühe wert hielt, die Zigarette aus dem Munde zu nehmen, sagte: Krank. Die Menschen drängten sich, wisperten, standen stumm und abwartend herum mit ihren grauen, unbewegten Gesichtern. Ein dicker Droschkenkutscher rüttelte die Frau an der Schulter. Sie rührte sich nicht, denn sie war tot.

Da stirbt ein Mensch mitten auf dem Boulevard, sagte sich Karl, der hinstarrte wie sie alle. Eine letzte Welle hat sie gerade hierhergeworfen. Sie flüchtete, als sie den Tod kommen fühlte, in das Gewühl des Boulevards: dort kann man doch nicht sterben! Niemand sah es, wie sie sich auf die Bank warf, wie ein unnötiges, altes Bündel; wie die Seele aufstand und allein die Boulevards verließ. Und da das alles so schwach geschehen war, daß es niemands Aufmerksamkeit erregte, sammelten sich erst nach einer Weile die Finder an, mechanisch, einer nach dem andern, und alle mit dem stumpfen Ausdruck der Barmherzigkeit, die zu spät kommt.

Mit vorgestreckten Hälsen stand man da, ohne anzufassen. Dann machte man den Polizisten Platz, die gemächlich hinzutraten, und der Kutscher öffnete den Schlag seiner Droschke. Die zergrabenen Gesichter, deren Augen wie dunkles Wasser aus Luken von Eis hervorstarrten, zerstreuten sich wieder.

 

Karl verließ die Boulevards und ging durch stillere Straßen in einem monotonen Selbstgespräch seines Herzens: Das Unreine macht uns sterben. Wir kämpfen gegen das Unreine, gegen das Tödliche. Einst wird der Mensch der Erde sein wie ein herkulischer Arbeiter, der sich am Feierabend auf einen Stein im Felde setzt, das Kinn auf die Faust gestützt, und wartet, bis die Sterne kommen. Sie werden immer klarer leuchten, die Scharen der Sterne samt den großen Sternbildern werden sich zu seinen Füßen legen, leuchtend rein ... Und er wird aufstehen, riesengroß, um auf den Sternen von der Erde fortzuwandern. Er wird die Erde verlassen, sie zurücklassen, klein und erloschen wie einen Stein.

Dieser große Augenblick wird kommen.

Nie.

Dieser große Augenblick muß kommen.

In dieser Fülle eines dunklen und widerspruchsvollen Sehnens lagen unaussprechlich Liebe und Schmerz, denen er sich in dieser Stadt einsam überlassen fühlte. Seine Trauer um Berta kehrte dunkel wieder. Die nächtliche Stadt loderte von ihrem heißen Fieber einen trüben Widerschein gen Himmel; Wolken zogen über sie hin wie ein Rauch der Selbstverbrennung. Er fühlte, daß diese Stadt ein Stück der Erdkugel bedeckte wie ein Aussatz. Und in der Dunkelheit der Gassen, in der Dunkelheit seines Sehnens stöhnte er aus tiefster Seele ein einziges Wort zu den Sternen empor, die schwach herniederleuchtend den bewegten Flug der Wolken durchbrachen; ein einziges Wort, in dem sich Klage und Heilverlangen zusammenpreßten, und das sich mit dem verworrenen Dröhnen der Stadt vermischte, den schneidenden Ruf der Aussätzigen: Unrein! Unrein!


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