Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Durch Hunderttausende von Flugschriften drangen die Ideen Fraconnards in die Massen und weckten Furcht und Hoffnung. Sie stiegen in den Köpfen empor wie mit einem hydraulischen Druck, der an hunderttausend Punkten zugleich wirksam ist. Die Aufregungen der Ferrertage gaben der allgemeinen Unruhe neue Nahrung. Es war, als ob das spezifische Element dieser Ideen begonnen habe, das ganze Denken der Millionenbevölkerung zu beeinflussen. Die Menschenströme der Großstadt gerannen in Versammlungen und Kundgebungen und begannen zu gären. Der Kampfschrei des sozialen Krieges verbrüderte in seiner gellenden Schärfe alle Erregbaren; es war, als stünde das Heer der neuen Revolution vor dem großen Aufbruch. Die sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Vereine, die extremen Demokraten, die unabhängigen föderierten Gewerkschaften, die Freidenkervereine, einige utopistische Sekten, die Vegetarier, die antiklerikalen Vereine und die Sektionen der freien Schule begannen einen einheitlichen Körper zu bilden. Sie fühlten sich bereits als die Vorläufer einer neuen Gesellschaftsordnung. Ein gemeinsames Aktionskomitee wurde eingesetzt, das regelmäßige Sitzungen abhielt.

Fraconnard gehörte diesem Komitee an, aber man sah ihn selten. Er ließ sich durch Scappini vertreten, der sich täglich mit ihm in seinem kleinen Hause in der Rue Norvins beriet. Er verachtete die Versammlungen, die er leer laufende Maschinen nannte, trotzdem sie ihm immer neue Anhänger zuführten, und predigte seinen Anhängern die »Philosophie der Arme und nicht der Köpfe«. Die große Zahl der Mitläufer, die Vereine und Gewerkschaften, die seiner Bewegung beitraten, machten ihm wenig Freude, denn sie hemmten alles durch ihr Verlangen nach Garantien, daß der Kampf sich in friedlichen Formen vollziehe. Aber er brauchte sie; ohne ihre Teilnahme kamen Massenkundgebungen nicht zustande, seinen Worten fehlte ohne sie der Widerhall. Die bevorstehende Kundgebung am Sonntag mußte eine der gewaltigsten werden, die Paris je gesehen hatte; die großen Verbände hatten ihr Auftreten für den Fall zugesagt, daß Gewalttaten vermieden würden. Diese Massen taugten nicht für den Staatsstreich, für die Terrorisierung der Stadt, die in einem gegebenen Augenblick notwendig sein konnte.

Fraconnard hatte sich im stillen eine Garde besonders ergebener und fanatischer Anhänger geschaffen, die in jenem gegebenen Augenblick die friedlichen Elemente des Proletariats durch die Maßlosigkeit ihrer Ausschreitungen mit sich fortreißen sollten. Es waren dies kaum einige Dutzend Getreuer, die sich aus den Tausenden seiner »besonnenen« Anhänger hervorhoben, um frei von den Fesseln irgendeines Syndikates der Verwirklichung der revolutionären Idee zu leben. Sie bildeten die sogenannte Avantgarde und spielten vorläufig ihre Rolle bei Straßenumzügen, Streiks und Versammlungen. Fraconnard zählte aber vor allem auf das menschliche Dynamit der Weltstadt: das große Heer der Arbeitslosen, der Desperados und Verbrecher. Es mußte gelingen, in dieser zerlumpten und von der Polizei gehetzten Masse Zusammenhänge herzustellen, aus ihr eine Art Fremdenlegion, ein vielleicht regelloses, doch furchtbares Heer zu bilden, das in dem Haß, das Bestehende zu zerstören, keinen Augenblick zaudern würde, wenn es galt, die Staatsgewalt durch Straßenkämpfe wegzufegen, und dem auch kein Schlupfwinkel der Stadt unbekannt war, wenn es spurlos zu verschwinden galt.

Scappini hatte es übernommen, diese Fremdenlegion zu kristallisieren. Das war der Ausdruck, den er selbst mit Vorliebe für seine Tätigkeit gebrauchte. Er war ein Neapolitaner, war als Student der Chemie in ein Komplott verwickelt gewesen, nach Südamerika entflohen, dann nach Paris verschlagen worden, wo er sich sehr bald dem von ihm wie ein Halbgott verehrten Fraconnard zur Verfügung stellte. Pariser Apachen, Flüchtlinge aus allen Ländern, russische Revolutionäre, spanische und italienische Anarchisten, armenische Fanatiker, unruhige Köpfe mit grauen oder grünen Augen, die ihr Schicksal aus der deutschen oder der skandinavischen Heimat nach Paris verschlagen hatte, gehörten zu dieser Fremdenlegion, und ihr Feldgeschrei war kurz, drastisch und pariserisch: Tod den Flics.

Für diese Freischar, unter der kaum ein einziger war, der noch nicht mit dem Gefängnis Bekanntschaft gemacht hatte, gab es nur eine einzige Macht, die Respekt einflößte und es fertigbrachte, sie in ihren Schlupfwinkeln zurückzuhalten: die Polizei. Ein jeder wußte, daß das geringste Verbrechen den erbarmungslosen Kampf mit dieser furchtbaren Macht bedeutete, deren Hilfsmittel unerschöpflich waren. Die Polizei war der einzige Feind, den sie alle gleichmäßig haßten und fürchteten, von dem sie lernten, und dem sie durch ihren Scharfsinn und ihre Kühnheit immer neue Rätsel aufzugeben wußten. Diese Meute von Menschenjägern, deren Netzen selten ein Verbrecher für immer entwischt, diese Truppe von Schergen, die das ruhelose Heer der Lumpen und Zerlumpten vor sich hertreibt, schien unangreifbar in ihrem durch Disziplin und Kameradschaft gefestigten Zusammenhalt, in ihrem handfesten Korpsgeist, in ihrer Objektivität, die kein Parlamentieren kennt außer in Dingen, wo Verrat im Spiele ist. Diese gutgenährten militärischen Leute in ihren mit zwei Reihen blanker Knöpfe besetzten Uniformen aus starkem blauen Tuch, ihrem guten Schuhwerk, ihren praktischen, warmen Capes, mit ihren Gummiknüppeln, ihren Brownings, ihren auf den Mann dressierten Hunden, ihren infamen, nach englischen und japanischen Vorbildern eingeübten Handgriffen, die einem Riesen die Knochen aus dem Gelenk zu drehen wußten, verbreiteten Angst. Vor ihren Agenten war man auch in den eigenen Reihen niemals sicher.

 

Karl stand an der Ecke der Rue Richelieu und wartete auf Scappini. Es war ein schöner Morgen. Der blaue Himmel warf seinen kühlen Glanz in die alte Straße. Karl studierte die rosaroten Plakate an einem Bauzaun, die die Einzelversammlungen der großen Arbeitssyndikate, ein Meeting am Sonntagmorgen in Tivoli Vauxhall und den Massenumzug am Sonntagnachmittag ankündigten. Eine Viertelstunde verging, bis der Italiener sich einfand. Karl erkannte ihn kaum wieder. Er war schäbig gekleidet, unrasiert und sah proletariermäßig aus. Er war außerdem in Eile: er habe um zwölf Uhr eine Zusammenkunft mit den Arbeitern einer Gasfabrik in Neuilly, wolle Karl jetzt nur noch durch die Rue des Petits Champs führen, wo sich einige Lokale befänden, die für die Propaganda wichtig seien, und müsse ihn dann bis zum Nachmittag sich selber überlassen.

Sie gingen die Rue des Petits Champs hinab. Bald machte ihn Scappini auf zwei einander benachbarte Restaurants aufmerksam, die sich wie Zwillinge ähnlich sahen. Über dem einen stand in silbernen Lettern auf einer blauen Glastafel: »Mexico Bar«, und über dem andern glänzte auf einer ähnlichen Glastafel die Aufschrift: »Metropolitan Bar.« Eines wie das andere dieser Lokale lag zwischen Schaufenstern und Hauseingängen eingeklemmt, beide derselben langgestreckten Mauer gegenüber, die einen der festungsähnlichen altersgrauen Paläste in dieser schmalen und belebten Straße der Altstadt klösterlich umschloß.

Durch die offen stehende Tür der Mexico Bar sah man den schmalen, mit Steinplatten ausgelegten Raum mit dem hufeisenförmig hineingebauten Schenktisch in der Mitte, eine Brüstung aus rot poliertem Holz mit den Pyramiden seltsam geformter, mit ihrem bunt funkelnden Inhalt gefüllter Likörflaschen, dem nickelglänzenden Kassenapparate, den Becken und Schwanenhälsen des Bierausschanks. Innerhalb dieser blinkenden Verschanzung stand der Wirt und putzte Gläser. Er war in Hemdsärmeln und hatte eine schmutzig-weiße Schürze vorgebunden. Vor ihm standen ein paar Kunden, die Arme auf die Messingstange des Schanktisches gestützt, mit geduckten Rücken, die Köpfe zusammengesteckt. Ein Mädchen thronte auf einem hohen Schemel und drehte allen den Rücken zu. Der große glockenförmige Hut, an dem ein paar Glasagraffen wie große Wassertropfen glitzerten, hing über dieser kleinen, schmächtigen Person wie die Krone einer Palme und beschattete die Zeitung, die sie las.

Scappini machte dem Wirt von draußen ein Zeichen. Der Wirt nickte und winkte.

»Der Salon ist voll«, rief ein kleiner, eifriger Bursche, der beschäftigt war, das schmutzige Sägemehl auf den Fliesen zusammenzukehren.

Scappini zog Karl mit hinein. Sie hielten sich im vorderen Raum der Kneipe nicht auf. Durch eine Glastür betrat man einen Gang, der zum »Salon« führte. Es war nichts anderes als ein halbdunkles Hinterzimmer, dessen Fenster zum Hof hinausgingen. Der Raum enthielt nur einige mit grauweißen Steinplatten belegte Tische und ein paar mit schwarzem Leder gepolsterte Bänke. Das Ganze erinnerte an ein Eisenbahnkupee dritter Klasse. Hier saßen und lagen in einer wahren Kloakenluft lauter zerlumpte Männer. Einige lagen, den Kopf auf die Arme, auf den Tisch oder an die Wand zurückgelehnt, und schliefen. Andere rauchten ihre Pfeife oder sprachen in abgerissenen Sätzen, mit gedämpften Stimmen. Ein gleichmäßiges, röchelndes Schnarchen kam aus einer Ecke. Es war Karl, als tauche er hier in einen stinkenden Sumpf von übermüdeten, verwahrlosten Körpern, alten Kleidern und trüben, mutlosen Gedanken. Eine breite, belegte Stimme sagte in sächsischem Dialekt:

»Schließlich bin ich in Dunkerque auch bei'n Konsul gewäsen. Eenen eenzigen Franken hat er mer jegäben, dafor mußt 'ch 'n noch 'ne Quittung schreiben, un ich soll mich nur baldigst über die belgische Grenze machen, sagt er. In die belgische Mausefalle, jawoll! das fehlte noch, daß sie mich von da per Schub wieder nach heeme brägten!«

Sie traten in die Tür. Scappini flüsterte Karl zu, er müsse jetzt das, was er sagen werde, für die Leute ins Deutsche übersetzen. Hier verstände man nur Deutsch.

Einige Leute hoben die Köpfe. Sie schienen den Italiener zu kennen. Und während sich nun da und dort ein paar erstaunte Augen auf die beiden richteten, sagte Scappini, laut genug, um die Unterhaltung zum Schweigen zu bringen – und Karl übersetzte es wortgetreu:

»Kameraden! Die internationale sozialistische und anarchistische Partei veranstaltet am nächsten Sonntag eine große Demonstration auf der Straße. Der Umzug beginnt Sonntag nachmittag um zwei Uhr auf dem Platz Clichy. Ihr gehört dazu. Es versteht sich, daß ihr ohne Ausnahme teilnehmen werdet. Hunderttausende werden kommen. Wir müssen in zwei Tagen ganz Paris auf die Beine bringen. Ihr bildet die deutsche Abteilung. Ich stelle euch den Kameraden vor, der am Sonntag an eurer Spitze sein wird. Bei der Propaganda könnt ihr durch Verteilen von Flugzetteln helfen. Neue Flugzettel, die über ganz Paris hingeschüttet werden müssen, liegen bereit in der Expedition Rue Ephraim Caen, zwei Minuten von hier. Man verteilt diese Zettel auf der Straße, in den öffentlichen Gärten, an Erwachsene und an Kinder, man steckt die Zettel in die Briefkästen der Häuser und schiebt sie unter die Türen, man wirft sie in alle offenen Fenster, man klebt sie an Wände und Bänke, wenn es niemand sieht. Sparet nicht damit und verteilt euch über Paris. Jeder von euch, der sich in der Expedition Nummer 18, Rue Ephraim Caen, meldet, erhält einen Pack Flugblätter und einen Gutschein im Wert von einem Franken, der in der Kantine des Volkshauses in Zahlung genommen wird, aber auch in den Lokalen, wo ihr gewöhnlich verkehrt, zum Beispiel hier bei Fritz.«

Karl sah, daß die Leute ihn, während er das sagte, aufmerksam betrachteten. Scappini zog ihn zurück. »Wir müssen weiter. Sie werden später in dieses Lokal zurückkehren und sich mit den Leuten bekannt machen.«

Sie besuchten nun die benachbarte Metropolitan Bar, deren Hinterstube sich kaum von der ersteren unterschied. Der dritte Ort, wo sie einkehrten, war die Securitas Bar in der Rue Notre-Dame des Victoires. Diese Bar war geräumiger und eleganter. Die Wand war mit glänzenden gelben Kacheln bedeckt, ein großes farbiges Wandbild zeigte das benachbarte Börsengebäude. Vor dem Schanktisch hockten ein paar Gestalten von schäbiger Eleganz und bewirteten sich gegenseitig mit einem goldigen Weißwein, der in den kältebeschlagenen Gläsern frostig genug aussah. Ein paar Leute waren da, die sich ein Glas Kaffee für zehn Centimes und ein Hörnchen geben ließen. Der Wirt mischte in den Gläsern die stark riechende, dampfende, schwarze Brühe mit Milch und einem Stück Zucker, das er mit der Hand hineintat, und legte mit schmutzigen Fingern den Löffel dazu. In diesem prunkvollen Lokal war das Publikum nicht besser als das der andern Wirtschaften. Scappini ließ sich ein Glas Kaffee geben und hatte eine heimliche Unterredung mit dem Wirt. Karl wartete schweigend. Die Gäste nahmen keine Notiz von ihnen.

Sie gingen dann direkt zur Expedition der »Bataille Sociale«.

Die Maschinen hatten die Nacht hindurch gearbeitet. Stöße von Flugblättern waren im Hausgang aufgestapelt, um von den Trägern abgeholt und in die Stadt hinausgetragen zu werden. Ein neues Flugblatt war erschienen, das mit einer Art von Holzschnitt bedruckt war. Es stellte einen spanischen Soldaten dar, der, von dem ausgebreiteten Mantel eines Priesters halb versteckt, einen Mann niederschießt. Die Jacke dieses Mannes trug die Aufschrift: Ferrer. Der Soldat aber trug eine phantastische Krone, und an seinem Fuß war eine Bombe befestigt. Diese Bombe trug die Aufschrift: Morgen!

Schon waren die ersten Leute da, die sich Flugblätter geben ließen. Herr Pernod begrüßte Karl wie einen alten Bekannten. Und während Scappini durch das Telephon ein Gespräch führte, verschwand Pernod in den Setzersaal, um mit einem noch feuchten Bürstenabzug zurückzukehren, den er Karl zu lesen gab. Es war eine Notiz, die Scappini selber für das Blatt geschrieben hatte. Karl ging ans Fenster, um sie zu lesen. Lastwagen mit Weinfässern und Kisten rumpelten in der alten Gasse vorüber, und vor dem Hauseingang summte die immer größer werdende Menge der Austräger.

Die Notiz lautete:

Der Polizeihund,

gefallen bei den Demonstrationen am vorigen Mittwochabend auf dem Boulevard de Courcelles, wird, wie wir hören, am nächsten Sonntag feierlich beigesetzt werden. Dieses arme Vieh, dem es vom Schicksal beschieden war, die Reihe der Opfer des sozialen Krieges einzuleiten, ist nachträglich zum Sergeanten befördert worden und wird unter amtlicher Teilnahme beigesetzt. Am Sonntagnachmittag soll die Aufbahrung und Messe in der Kirche Notre-Dame unter Assistenz Msgr. des Herrn Erzbischofs stattfinden, danach die Überführung in das Pantheon. Der Herr Präsident der Republik wird sich vertreten lassen. Da bei diesen Feierlichkeiten zu Ehren des Kameraden Hund eine repräsentative Beteiligung des Polizeikorps von Paris erforderlich sein wird, so besteht die Hoffnung, daß das Grand Meeting im Tivoli Vauxhall und die Kundgebungen am Sonntagnachmittag friedlich verlaufen. Niemand wird die Flics auf dem Boulevard Clichy vermissen.

Die unschuldigen Personen, die man wegen dieses Hundes verhaftet hatte, darunter eine junge Dame, sind wieder freigelassen worden, nachdem man ihnen zugemutet hatte, eine Nacht auf der Polizeistation zuzubringen. Also nichts als ein neuer, lächerlicher Mißgriff. Der wahre Täter hatte die Absicht, sich der Polizei zur Verfügung zu stellen, um die völlige Unschuld der Verhafteten zu erweisen. Wir haben ihm davon abgeraten. Wir sind an polizeiliche Durchsuchungen unserer Redaktion gewöhnt. Wir bemerken, daß, wenn die Polizei sich die Mühe einer nochmaligen Haussuchung machen will, sie eine der Patronen, die aus dem bewußten Revolver noch auf weitere Polizeihunde ausgeleert werden sollen, auf dem Tische vorfinden wird. Wir werden sie dort am Sonntagvormittag niederlegen und uns zum Meeting im Tivoli Vauxhall begeben, um die Agenten bei der Ausübung ihres schönen Berufes in unseren Räumen nicht zu stören.

»Gut, nicht wahr?« lachte Scappini, als er zu Karl zurückkehrte, und schnippte mit dem Finger. »Heute werden es unsere Freunde wissen, wer der Mann mit dem Hunde ist. Passen Sie auf. Sie sollen heute so populär werden, daß Sie ein alter Agitator beneiden könnte.«

Dann sah er auf die Uhr:

»Wir treffen uns um drei Uhr vor dem Tor des Güterbahnhofes an der Route Saint-Denis. Von dort aus besuchen wir Versammlungen. Sie kehren jetzt in die Salons zurück und machen Bekanntschaften. Apropos ... Sie haben doch etwas Geld bei sich? Sie werden einem oder dem andern von den armen Teufeln einen Schoppen oder einen Kognak bezahlen müssen. Es gibt auch solche, die eine Tüte pommes frites oder einen Kaffee vorziehen. Wir haben einen kleinen Fonds für solche Zwecke; legen Sie die Kleinigkeit einstweilen aus.«

Scappini eilte fort, und Karl begab sich in die Mexiko Bar.

 

Ehe er in den Salon trat, wechselte er beim Wirt ein Goldstück und fragte, was für Leute das eigentlich seien dahinten.

»Alles durcheinander«, sagte der Wirt, der ein Elsässer zu sein schien. »Die meisten sitzen stundenlang herum, ohne daß sie für fünf Sous verzehren. Ein Glück, daß die Kerle endlich etwas zu tun bekommen. Ein paar sind schon weggegangen, um Blätter zu tragen, aber die meisten sitzen noch da; denen fällt es gar nicht ein, sich zu rühren.«

Nicht ohne Unbehagen ging Karl nach hinten. Alle Tische im Salon waren noch besetzt. Natürlich erkannte man ihn wieder. Ein verwachsener kleiner Mensch stand auf und zeigte ihm einen Platz neben dem seinen auf der Bank. Die andern rückten.

Karl setzte sich. »Sie sind wohl alle Deutsche.«

»Das schon«, sagte der Bucklige. »Ich bin aus Posen. Der Alte da ist ein Schlesinger von Österreich drüben. Und die andern da werden wohl auch Landsleute sein. Ich heiße Schinkiewitz.«

Auch Karl nannte seinen Namen.

Der Alte, den Schinkiewitz meinte, hatte ein merkwürdiges Aussehen. Mit seinen langen schmutziggrauen Locken, die ihm über die gelbgrau verschossenen Schultern herabfielen, seinen tiefgefurchten Zügen, den apfelroten Backen, den scharfen Augen und dem langen Bart sah er aus, wie man sich heutzutage einen Apostel vorstellt. Er war mitten im Fluß einer Erzählung und ließ sich durch den neuen Zuhörer nicht stören. Man war gerade in Bosnien, wo auf einem himmelhohen Felsen eine Gendarmeriekaserne lag; dort hatten ihn die Gendarmen aus Langeweile drei Tage lang beherbergt und bewirtet. Aber schon sprang er nach Ungarn über, wo es eben so schön zu wandern ist und die Bauern Speck und Paprika, Brot und Wein hergeben, soviel man will, und nur die Hunde so scharfe Zähne haben.

Dagegen muß man schon vorn in den Stecken einen Nagel machen und damit den Hunden aufs Maul stoßen, dann schreien sie »oi, oi« und machen um den Wandersmann einen großen Bogen. Dann aber fangen die Bauern an und lassen den armen Wandersmann durch die Salzgassen gehen, wo es nämlich Prügel gibt wie Salz.

Einer fragte, wie es denn damit in Deutschland sei.

»Ja, nun könnts ihr mich fragen, wie es damit in Deutschland ist«, fuhr der Alte, von dieser Zwischenfrage sehr befriedigt, fort. »Zu ein paar Malen bin ich zu Fuß durch Ostpreußen und durch Pommern und durch Mecklenburg und durch die Lüneburger Heide hindurchmarschiert und auch durch das Harzgebirge, sodann im Thüringschen kreuz und quer. Ja, die Menschen, die sein überall gut, bloß die Gendarmen etwas weniger. Am schlimmsten sein doch die Leute am Rhein und die Bauern in der Pfalz. Nirgends sein die Gendarmen so grob wie in Bayern, aber richtige Bayern sein das auch net, sondern sein allergrößtenteils Schwaben. Und in der Pfalz die Bayern jagen einen einfach davon, und kein Stückel Brot geben sie einem am Tag. Und für ein lumpiges Strohlager muß man ihnen das ganze Gras ausreißen, das zwischen den Pflastersteinen vor der Kirchen wachst. Aber in die großen Städt', bei die Bayern in München und in Karlsruhe, hab' ich als Modell gestanden bei der Akademie; und da könnts ihr hingehen und sehen, wo von einem berühmten Maler mein Bild in eine Kirche hineingemalt worden ist. Und darnach bin ich halt auch amal auf, nach Paris, wo die Leute sagen, daß das die allergrößte Kunststadt ist, und man sich denkt, daß es hier die meisten Maler gibt. Ja, Kunststadt! Komm erst amal hin! Auf dem Land bei die Franzosen, da kriegst am Abend noch deine Kartoffeln und einen Hering zum Nachtmahl und ein billet ed logement. Aber hier herinnen in der Kunststadt: auf der Straßen kannst liegen und krepieren, und Arbeit kannst dir suchen bei die Grundarbeiter und die Maurer und kriegst keine.«

Ein dicker Bursche, ein wahrer Riese, dessen graue Gesichtsfarbe und schwarze Hornhände den Schlosser verrieten, saß gerade vor dem Alten, die Ellenbogen auf den Tisch gestemmt, kraute sich im Nacken und gaffte dabei Karl neugierig an. Daneben saß ein schmächtiges blasses Bürschchen in einem abgetragenen Konfirmandenanzug, mit frierendem Gesicht und großen, wasserblauen Augen, eine Zigarette zwischen den Lippen und die Hände in den Hosentaschen. Neben dem Alten kauerte ein blonder Mensch, der wie ein heruntergekommener Handlungsgehilfe aussah. Er trug einen Gummikragen und machte ein bekümmertes Gesicht. Auch der Mann, dessen sächsischen Dialekt Karl schon vorhin gehört hatte, war in der Runde. Er trug ein grünes Hütchen und Lodenjacke und ein schwarzweißrotes Emailleschildchen im Knopfloch.

»Auf mein Schwabenland laß ich doch nichts kommen«, sagte der Blonde, der neben dem Alten saß, weinerlich. »Eher laß ich mich daheim von dem Landjäger windelweich zerschlagen, als umsonst auf den französischen Eisenbahnen fahren. Hier bleibt euch am End ja doch nichts als die Légion étrangère, da werdet ihr geschunden, daß euch das Blut aus der Nase herausläuft. Und ich gehe halt doch wieder heim, ganz egal ist mir's, und wenn sie mich ins Loch stecken.«

Schinkiewitz rückte ärgerlich hin und her. Jetzt stand er auf und klopfte mit seinem Glas auf den Tisch. »Kollegen,« sagte er, »wer hier herumheult und lieber bei Muttern in der Küche sitzen will, der soll sich doch auf die Strümpfe machen, der braucht ja gar nicht erst herzukommen. Wir sind eben alle nichts anderes als Proletarier und dumme Luders, und wenn ich bloß Französisch könnte, dann solltet ihr was erleben. Hier heißt es eben: parlewufraßeh! Nun aber ist die Gelegenheit gekommen. Daß hier in Paris jetzt was los ist, das wißt ihr alle! Kollegen! Die Internationale, das ist der Völkerfrühling! Da heißt's, mitgemacht. Ihr alle miteinander, sonst seid ihr nicht wert, daß euch der Hund beguckt. Hier seht euch den Vater Hunold an. Der ist so alt, daß er's selber schon nicht mehr weiß. Und Vater Hunold macht mit. Wer nicht mitmacht, ist ein Lump von mir aus.«

Die andern sahen bei dieser etwas derben Anrede einander an. Der Dicke kratzte sich noch immer im Nacken und betrachtete Karl mit mürrischem Gesicht. Es war klar, nur der Ankömmling war schuld daran, daß die Erzählung des Alten derart unterbrochen wurde.

Karl stand auf.

Sofort wurde alles still. Schinkiewitz, der noch gestanden hatte, setzte sich.

Mit fester Stimme sprach nun Karl Fleming in den Dunst der Stube, in die Köpfe hinein, die ihn rot und verkommen anstarrten:

»Landsleute, ich soll euch fragen, wer von euch am Sonntag den großen Umzug durch die Straßen von Paris mitmacht. Die ganze Arbeiterschaft von Paris macht mit. Ich spreche französisch, bin fremd hier in Paris wie ihr alle und bin bereit, euch zu führen. Es ist eine Kundgebung, die die ganze Welt sehen soll, weil die spanische Regierung den Ferrer, der die freie Schule begründen wollte, hat erschießen lassen. Auch die Deutschen müssen mitmachen. Sonntag nachmittag zwei Uhr Versammlung auf dem Platz Clichy.«

Jemand rief: »Bravo.« Karl blieb noch ein paar Augenblicke stehen, ohne seiner Rede etwas hinzuzufügen. Sie war verblüffend kurz gewesen, aber wohl gerade recht so. Der schmutzige Wirt erschien in der Tür, um nachzusehen, was los wäre. Karl winkte und bestellte ein Glas Wein für den alten Hunold. Neben ihm stieg Schinkiewitz auf die Bank: »Kollegen! Alle Mann Sonntag nachmittag zwei Uhr auf dem Platz Clichy! Es lebe die internationale völkerbefreiende –«

»Halt's Maul, Polacke, krummer«, rief einer von drüben, aber die meisten brachten ein Hoch aus.

» Vive la Republik«, rief der alte Hunold.

»Abzählen, wer mitmacht!« kommandierte Schinkiewitz, »Hände hoch!«

Der Schlosser und der kleine Blasse hoben gleichzeitig die Hand. Auch der Sachse, dann der Alte und der Blonde ebenfalls. Drüben an einem der Tische war ein Lärm entstanden. Anscheinend wies man den Schreier von vorhin zur Ordnung. Ein Mann mit rotem Gesicht und heiserer Stimme rief aus der Ecke etwas in holländischer Sprache. Man verstand nicht, was es hieß, aber es steigerte die Stimmung.

Hunold erhob das Glas, das man vor ihn hingestellt hatte, und rief ein über das andre Mal: » Vive la Republik! Wir machen alles mit.« Karl drückte Schinkiewitz die Hand. Dieser, entzückt von dem Erfolg der Rede, versprach Karl, ein Dutzend Kollegen mitzubringen, ja, er werde schon dafür sorgen!

Karl erschien dies als der richtige Augenblick, um die Leute sich selber zu überlassen. Er sprach allen im voraus seinen Dank aus, versprach, morgen wiederzukommen, und forderte sie auf, so viele Landsleute zusammenzubringen, als in Paris aufzutreiben wären. Er fragte dann Schinkiewitz nach der Route Saint-Denis.

Der Schwabe bot sich an, ihm den Weg zu zeigen. Karl verabschiedete sich; der Schwabe kam hinter ihm her auf die Straße. Dort nannte er auch seinen Namen: Max Bratengeier.

Karl hatte die Absicht gehabt, noch der benachbarten Metropolitan Bar einen Besuch zu machen. Aber Bratengeier hielt ihn davon ab. Er führte ihn eifrig zur Rue de la Banque. Der Mensch schien etwas auf dem Herzen zu haben.

Schließlich fragte er: »Sind Sie schon lange in Paris, Herr?«

»Seit ein paar Tagen«, sagte Karl. »Sie sehen ja, ich kenne die Stadt noch gar nicht.«

»Sie werden entschuldigen: sind Sie vielleicht direkt aus Deutschland gekommen?«

Karl bejahte.

»Und jetzt wollen Sie in Paris bleiben?«

Karl antwortete, daß er keine Lust hätte, sich ausfragen zu lassen.

»Bitte um Entschuldigung«, stotterte Bratengeier; »eigentlich geht mich's ja nichts an, aber ich täte gern wissen ... ich hätte eine arg große Bitte. Ob Sie mir nicht vielleicht helfen können, daß ich wieder nach Deutschland kann. Ich ... ich bin jetzt schon vielleicht ein Jahr lang fort von zu Hause und ginge doch so gerne wieder heim.«

»Warum marschieren Sie denn nicht, solange es noch Herbst und das Wetter trocken ist? In ein paar Tagen ist man doch über die Grenze.«

Bratengeier zog eine kümmerliche Miene.

»Das schon«, antwortete er; »aber ich habe so Angst ... wenn's Ihnen vielleicht recht ist, will ich's Ihnen erzählen. Ich hab' mir gedacht, wie ich Sie gesehen hab', daß Sie vielleicht ein Herr sind, der vielleicht weiß, ob sich vielleicht so etwas verjährt. Wissen Sie, ich meine halt, daß man nach einem Jahr oder so vielleicht wieder nach Hause darf, und passiert einem nichts ... Ich halt's einfach nimmer aus.«

»Was soll ich Ihnen denn helfen«, meinte Karl, den der Mann mit seiner Schüchternheit und seinem ewigen »vielleicht« zu dauern und zu belustigen anfing.

Sie hatten auf einem kleinen, von alten schmalen Häusern umgebenen Platze in der Nähe der Hallen haltgemacht. In der Mitte war eine ärmliche Anlage mit Bänken und einem Denkmalsbrunnen in der Mitte. Maurer saßen hier in weißen, kalkbespritzten Kleidern, Frau und Kind brachten ihnen das Essen. Andere saßen für sich allein, mit einem Zeitungspapier auf den Knien, aus dem sie ein Brot oder Kartoffelschnitz herauswickelten, und die Rotweinflasche schaute aus der Brusttasche.

Karl bekam Lust, Mittag zu essen. Er fragte den Menschen, ob er Appetit habe. Bratengeier antwortete, daß er gar nicht wenig Hunger habe, seit gestern Mittag hatte er nur ein Hörnchen im Magen. Karl nahm ihn dann mit in eines der bescheidenen Restaurants der Nachbarschaft und bestellte Frühstück für zwei.

Die Geschichte, die Karl nun zu hören bekam, nachdem Bratengeier die Suppe mit einem wahren Heißhunger hinuntergeschlungen hatte, war bunt genug. Der Mann war in einer kleinen Stadt im badischen Schwarzwald zu Hause. Dort war er Schreiber gewesen und hatte sich eines Tages »etwas zuschulden kommen lassen«. Das heißt, jemand hatte ihn aus Rache angezeigt, »wegen einem Geldbetrag«. Kurz und gut, er sollte verhaftet werden.

Es war mitten im Winter. Man hatte ihm schon am Morgen gesagt, daß der Haftbefehl auf dem Amt läge. Da hatte er sich um die Mittagszeit selber im Gefängnis gestellt. Aber es war gerade in der Mittagspause, man ließ ihn erst einen Augenblick im Hofe warten, denn, wegen des Reglements, durfte er nicht einmal im Hofe bleiben, sondern mußte draußen warten. Da war es ihm plötzlich so dumm vorgekommen, daß er seine schöne Freiheit von selber in das vergitterte Haus hineintragen sollte. Er ging einfach fort aus der Stadt und in den Wald. Als es dunkel wurde, blieb er stehen, weil er sich an einem Baum aufhängen wollte. Aber mit dem Hosengurt in der Hand war er immer weitergelaufen, die ganze eiskalte Nacht hindurch. Und dann war er in ein Dorf gekommen, war im Winter über die Schwäbische Alb gewandert und bis ins Frühjahr hinein durch die Pfalz und nach Lothringen hinüber, an der Grenze entlang. Am dritten März, da ging er durch das Tor von Belfort und ließ sich in die Kaserne führen und stellte sich für die Fremdenlegion. Die Franzosen hatten ihn nicht weiter gefragt. Sie hatten ihn satt gemacht und zuerst gut behandelt, dann schickten sie ihn gleich zum Drill nach Besançon. Acht Tage später ging ein Transport nach Marseille, dann übers Meer nach Algier und zum Regiment ins Innere hinein. Jetzt hatte die Schinderei angefangen. Und an einem schönen Tage, da war er gestürzt, ein Bein war gebrochen. Als es wieder heil war, hatten sie ihn entlassen müssen. Und einen Monat später war er wieder in Marseille und ging betteln. Ein Kaufmann war da, ein Deutscher, der schenkte ihm etwas Geld und schrieb ihm einen Zettel, daß er von der Fremdenlegion fortgeschickt sei. Damit war er durch Frankreich marschiert ein paar Wochen lang. Es war im Sommer. Brot, Käse, Wein bekam man überall. Die Gendarmen waren gutmütig. Auf den Mairien und auch beim Pfarrer bekam man oft ein paar Sous oder eine Eisenbahnfahrkarte für eine kleine Strecke. Und endlich war er in Paris eingezogen, jetzt vor sechzehn Tagen. Er hatte die ersten Nächte in den Wartesälen kampiert oder war durch die Straßen gewandert. Auch fand er einmal Unterschlupf in den Schuppen am Güterbahnhof. Drei Tage ging er so. Dann hielt er es vor Hunger nicht mehr aus. Eine Rettung gab's noch. In Deutschland mußte man doch wohl einen Steckbrief gegen ihn erlassen haben. Er stellte sich der Polizei. Ihm war's egal, wenn man ihn auslieferte: dann mußte man ihm doch zu essen geben und ihn auch noch über die Grenze bringen. Am Abend trat er in die Wachtstube des 7. Arrondissements und verlangte, daß man ihn verhaften solle. Das taten die Leute nicht. Sie glaubten ihm ja gar nicht. Man richtete ihm schließlich eine Matratze und erkundigte sich inzwischen bei der Präfektur. Zum erstenmal schlief er sich wieder aus. Am Morgen bekam er zu essen, spielte mit den Polizisten Dambrett, und die drehten ihm Zigaretten. Am Mittag kommt der Bescheid von der Präfektur, daß kein Steckbrief vorliegt. Man muß ihn entlassen und hält ihm eine Standrede, weil er geflunkert hat. Dann stiftet man ihm noch ein Frühstück mit einem Liter Wein und läßt ihn laufen. Am selben Tage sitzt er verzweifelt auf einer Bank im Tuileriengarten. Dort macht er mit Vater Hunold Bekanntschaft. Der nimmt ihn dann mit in die Mexiko Bar. Er merkt bald, was los ist mit ihnen. Etwas wie einen Steckbrief haben sie wohl alle hinter sich. Der große Schlosser ist ein Deserteur von der Artillerie in Metz. Das kleine Bürschchen, von Beruf ein Kellner, verdient von allen das meiste: fünf Franken den Tag mit Aktstehen für nackte Photographien. Ein anderer – der aber seit ein paar Tagen spurlos verschwunden ist – war ein Weinhändlerssohn aus dem Rheinland und vor einem Jahr mit zwanzigtausend Francs nach Paris gekommen. Der Sachse schreibt Bettelbriefe, macht Zeugnisse und Pässe.

Karl fragte, was denn Schinkiewitz treibe.

»Ein ganz ordentlicher Kerl, aber ein bißchen verrückt«, meinte Bratengeier. Er sei wohl ein Metalldreher oder so etwas, habe auch erzählt, daß er schon auf Ziegeleien und Glasfabriken gearbeitet habe. Stellung habe er keine, aber er müsse wohl noch ein bißchen Geld übrig haben, denn er sei schon ein paar Wochen da, immer ohne Arbeit und hätte eine Menge Bekannte. Ein paarmal hätten sie zusammen im Asyl am Bahnhof Montparnasse genächtigt. Jetzt habe der Schinkiewitz irgendwo eine Wohnung in der Stadt ...

Und nun, da Karl das Schicksalslied angehört hatte, kam die Bitte, derentwegen Bratengeier soweit auszuholen für nötig fand: Er habe von Marseille aus, und jetzt von Paris noch einmal, einen Brief an seine Mutter geschrieben. Sie habe ihm noch nicht geantwortet. Niemand zu Hause wolle ihm schreiben, und er müsse doch wissen, ob ein Steckbrief erlassen sei oder nicht. Ob nicht jemand anders an die Mutter schreiben könne. Dann glaube sie's doch eher ... Wenn erst die Mutter einmal einen Brief schickte, dann wollte er sich ja aufmachen und wieder nach Deutschland gehen und irgendwo eine Stelle suchen, wo kein Mensch ihn kannte. Bloß daß er wieder in Deutschland wäre.

Karl fragte, was er denn zu befürchten habe, wenn er sich in Gottes Namen per Schub nach Deutschland bringen ließe.

Bratengeier zog die Schultern hoch und das Gesicht in Falten: »Vielleicht Gefängnis.«

Karl gab dem Mann ein Frankstück und versprach ihm einen Brief an seine Mutter. Das nächste Mal, wenn er ihn treffe, solle es geschehen. Bis dahin müsse er ihm den Brief aufsetzen. Dann sah er auf die Uhr.

»Morgen vormittag treffen Sie mich wieder in der Mexico Bar. Inzwischen gehen Sie zu Ihren Bekannten und trommeln alle zusammen, einerlei was für Leute es sind, von der Straße oder aus den Kneipen oder aus dem Asyl, einerlei.«

Bratengeier versprach sein Bestes zu tun: bis übermorgen müßten fünfzig oder sechzig Mann beisammen sein.

Dann bestieg Karl den Omnibus, den ihm Bratengeier zeigte. Der Mann grüßte noch von weitem mit der Mütze.

 

Karl fand Scappini an der kahlen, von jungen Bäumchen und der rotgrauen Mauer der Festungswälle eingefaßten Straße des Gürtels von Paris. Die strotzende, reiche Lebensfülle der Stadt verebbte hier draußen in armseligen Vorstadtstraßen. Man sah über die mit Rasenflächen bedeckten alten Festungswälle hinweg auf die nüchterne Ebene der Bannmeile mit ihren Gemüsegärten, einzelstehenden Häusern und leichtgezimmerten Gartenlauben. In der Ferne stand das Gebäude einer Irrenanstalt wie eine riesige auf den Boden abgesetzte Kassette; ein Friedhof glitzerte daneben wie ein Scherbenhaufen. Zweirädrige Lastwagen und Kohlenfuhrwerke, mit schweren belgischen Gäulen davor, polterten über das Pflaster. Doch war der Himmel von einem durchsichtigen heiteren Blau. In demselben Sonnenschein, der in den herbstlichen Wipfelchen der Vorstadtbäume und im Geschirr der Pferde glänzte, lag der Güterbahnhof mit seinem schwarzen Inventar von Stapeln, Wagenschuppen und Lokomotiven und seinen in Rauch gehüllten Hallen.

Von hier aus begann Karls Rundfahrt mit Scappini durch die Stadt. Sie machten den Anfang mit einer kleinen Kneipe an der Landstraße, einem einzelstehenden, mit blauem Kalk gestrichenen Hause, in dessen Hinterzimmer sich Kohlenarbeiter, Fuhrleute, Lastträger eingefunden hatten, Blusenmänner mit Rotweingesichtern, die ihre Tonpfeife rauchten und auf den Boden spuckten. Scappini sprach von nichts anderem als von der Kundgebung am Sonntag. Dann besuchten sie andere Kneipen in andern schmutzigen, grauen Vorstadtstraßen. Man traf Arbeiter, deren Augen blau waren wie ihre Kittel und deren Haar glänzend schwarz wie ihre Stiefel. Daneben geschniegelte Nichtstuer, schlimme Gesichter, die von ihrem gefärbten Apéritif und der Zigarette unzertrennlich schienen. Scappini verfehlte niemals, diesen Menschen beiläufig seinen Begleiter vorzustellen: »Das ist der Kamerad, der am Mittwoch den Polizeihund getötet hat.« Und während die Leute rauchend und trinkend dem unermüdlichen Scappini zuhörten, betrachtete man Karl halb neugierig, halb spöttisch. Karl verstand sehr bald die Reklame, zu der ihn Scappini benutzte. Er gab sich nicht ohne Verlegenheit und Mißbehagen dazu her. Doch alles, was er dabei zu hören und zu sehen bekam, war ihm neu und interessant. Sie besuchten gegen Abend das Restaurant Coopératif am Ende der Rue Vaugirard, wo in einem Seitenzimmer besonders lebhafte Besprechungen der Führer im Gange waren. Am Abend eilten sie von einer Versammlung in die andere. Scappinis Erscheinen genügte, um die Versammlungen zu beleben. Zwischen allen diesen Zusammenkünften riß Karl, immer an des Italieners Seite, die abstrakte Raserei des großstädtischen Verkehrs bald im Omnibus, bald in der Trambahn oder im Autobus durch das Gewühl der Straßen, durch die Tunnels der Untergrundbahn.

Der Vorstand des Arbeiterbundes versammelte sich an demselben Abend mit den sozialistischen Deputierten, den radikalen Mitgliedern des Gemeinderats und den Departementsvertretungen zu einer außerordentlichen Sitzung. Zugleich hielten alle Unterabteilungen der C. G. T., die Syndikate und Gewerkvereine in ihren Lokalen Versammlungen ab, um über die Demonstration des Sonntags zu beraten.

Diese Einzelversammlungen tagten, bis die Delegierten aus der großen Komiteesitzung zu ihnen zurückkehrten, um ihnen die vom Zentralrat gefaßten Beschlüsse mitzuteilen.

Am selben Abend wurde in allen Theatern und Konzertsälen, in den vollbesetzten Kinematographentheatern, in allen Varietés auf den Boulevards, in allen Vorstadttheatern und Vergnügungsplätzen der mit der rohen Karikatur bedruckte Flugzettel von den Galerien hinabgeworfen. Die häßlichen grauen Zettel schneiten förmlich auf die Menge hernieder und riefen Ausbrüche hervor, die die Vorstellungen stürmisch unterbrachen.

Am andern Morgen waren die Blätter voll von Berichten über diese Vorfälle. Im Laufe des Samstags wiederholte sich dieser Schneefall von Zetteln von den Stockwerken aller großen Warenhäuser herab.


 << zurück weiter >>