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Zehntes Kapitel

Aus den schmalen Straßen und Gassen, die vom Montmartre wie kleine Gebirgsflüsse herunterkommen, ergossen sich langsam und unerschöpflich die Menschen in das breite Strombett der äußeren Boulevards. Aufgelöst und in Gruppen zusammengeballt füllten sie immer dunkler die Allee zwischen den Fahrwegen an beiden Seiten.

Karl schritt eilig vorwärts. Er war begierig auf seine Deutschen, die er führen sollte. Schon bildeten sich überall Gruppen. Am Ausgang der Rue de Douai sah er die erste zusammengeballte Schar von Menschen. Man ordnete sich zum Zuge. Die Anführer trugen rote Schärpen, andere die Rosette.

Aber das Gros der Menge strömte noch immer langsam und gleichmäßig wie Eisgang. Gleichzeitig sah man Polizeiabteilungen mitten in der Menge dem allgemeinen Ziele zuschlendern. Diesem breiten Strom von Menschen wateten einige Kavalleriepatrouillen entgegen. Die Reiter achteten nur auf ihre Pferde; man machte Witze darüber, daß sie daherkamen mit niedergeschlagenen Augen wie eine Reihe Nonnen. Das Gefühl der Masse gab jedem einzelnen die Sicherheit, die Worte seines Nachbars behaglich zu belachen. Der einzelne wußte sich zehntausendfach vorhanden, auch die Ärmlichsten fühlten sich durchtränkt von einem Gefühl der Unverletzlichkeit und der Kraft.

In diesem Strom erreichte Karl endlich die gelbe, halbrunde Fassade des Hippodroms. Dort wo die Straße anzusteigen beginnt und der Boulevard ein Knie macht, sah er zum erstenmal über das Meer von Hüten hinweg. Auf der Place Clichy drüben staute sich das Meer an einer unbeweglichen Mauer von Kürassierpanzern und braunen nickenden Pferdeköpfen. Es war nicht möglich, in dieser sich unaufhörlich verschiebenden, wogenden Bewegung die Teilnehmer der eigentlichen Kundgebung und die Neugierigen zu unterscheiden. Man hörte Namen rufen, singen, lärmen, lachen: aus dieser ganzen Masse stieg ein unentwirrbares Brodeln und Brausen. Deutlicher hörte man aus der Ferne langgezogene Rufe fast wie Gesang. Ihre schrille Note verursachte Spannung. Alle Fenster und Balkons waren von Neugierigen besetzt.

Man sah nirgends eine Fahne. Aber auch ohne besondere Abzeichen erkannte man in der großen Menge die Ausländer, namentlich die Gruppen der fremden Studenten. Es schien, als hätten sich hier alle dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Rassen vom östlichsten und südlichsten Rande der weißen Völkerländer ein Stelldichein gegeben. Man sah eine Gruppe Levantiner, geckenhaft gekleidete Menschen von weibischem Aussehen, es gab hier Russen, die in ihren nationalen Hemdblusen, in Pelzkappen und Tellermützen erschienen waren, grobe ungeschlachte Bulgaren, negerhafte Südamerikaner, Indier von grazilem Wuchs, mit schmalen, schwärzlichgelben Gesichtern und Augen, die wie schwarze Perlen funkelten.

Karl suchte nach seinen Leuten. Gleich in der Ecke entdeckte er Scappini in einer Gruppe von Männern mit Rosetten und Schärpen. Der Italiener glänzte vor Heiterkeit und winkte, als er Karl erblickte.

»Dort hinauf! Etwas höher! Ihre Leute versammeln sich. Ich komme!«

Schon sah Karl einen anderen Bekannten. Es war Schinkiewitz; über seinem spitzen Gesicht lag ein Schimmer von Glücksgefühl und Wichtigkeit. Auch er trug die Rosette. Eine Gesellschaft von schäbigen, blonden Gestalten stand hinter ihm: Leute, die in ihren zerrissenen und verschossenen Jacken aussahen wie in Baumrinde gekleidet, rote und kränklich bleiche Gesichter mit verbeulten Hüten und Mützen, mit Wäldern und Stoppeläckern von Bärten im Gesicht: deutsche Handwerksburschen neben Blusenleuten mit genagelten Schuhen. Der große Schlosser und der kleine Kellner waren da. Abseits stand Bratengeier und rapportierte, als Karl ihm die Hand gab:

»Wir sind über sechzig. Das halbe Asyl haben wir mitgebracht. Alles was deutsch spricht muß einfach mit.«

Karl grüßte auch den massigen Kopf des alten Hunold, der ihm aus dem Gedränge entgegenlachte, und er bewunderte im stillen diesen kindlichen Ausdruck von Heiterkeit in dem von Wind und Wetter gegerbten, faltigen Gesicht und seine prächtigen weißen Zähne. Der Alte blinzelte und winkte, als habe er Karl etwas zu sagen. Als Karl zu ihm trat, ergriff er seine Hand und streifte mit ihr über seinen Ärmel. Karl spürte etwas Hartes, Kantiges, wie ein Messer: es war die Spitze eines alten Bajonetts, das er im Ärmel versteckt hielt, und dessen rostigen Griff die alte zottige Hand umklammerte.

Der Alte sah, wie Karl erschrak. Er lachte noch mehr und sagte: »Damit kitzeln wir den Rössern die Nasen, wenn sie zu nahe herankommen.«

»Was fällt Ihnen ein, Waffen mitzubringen? Wissen Sie nicht, daß wir unbewaffnet kommen sollen?« sagte Karl leise, aber mit Schärfe in der Stimme.

»Ei was«, meinte Hunold. »Wir haben alle was bei uns. Wir Deutschen lassen uns von so Dreckfranzosen nicht massakrieren.«

»Hören Sie«, sagte Karl und trat dem Alten nahe an den Leib, denn die andern sollten sein Flüstern nicht hören: »Es gibt ein Unglück, wenn das herauskommt. Woher haben Sie das Bajonett?«

»Ei, woher? Geschenkt gekriegt.«

»Geben Sie mir das Bajonett.«

Der Alte wollte nicht.

»Her damit«, sagte Karl und nahm ein Geldstück aus der Tasche. Der Alte öffnete die Hand und nahm den Franken, und nun zog ihm Karl die Eisenspitze aus dem Ärmel. Er verbarg sie unter seinem Mantel. Dann ging er zur Straßenrinne, bückte sich über das Abzugsloch, als wolle er seine Schuhe binden, ließ das Eisen hinunterfallen und kehrte zu Schinkiewitz zurück. In dem aufgeregten Gesicht des kleinen verwachsenen Menschen sah Karl mit einemmal nichts Gutes. Aber wie sollte er jetzt, mitten im Gedränge, da der Zug sich jeden Augenblick in Bewegung setzen mußte, den Leuten beikommen? Wenn sie Waffen bei sich trugen, einerlei welcher Art, so war es jetzt zu spät, sie ihnen abzunehmen, zu spät, auch nur ein Wort an sie zu richten, sie anzuflehen, keine Dummheiten zu machen. Fraconnard hatte in der »Bataille sociale« feierlich sein Wort verpfändet, daß alle unbewaffnet kommen würden. Es gab keine Ausnahme. Woher hatten diese Menschen ihre Waffen? Die Folgen waren nicht abzusehen, wenn sich durch irgendein Mißverständnis einer von dieser Horde, die kaum verstand, was um sie vorging, zur Wehr setzte. Und zu seinem größten Schrecken fiel Karl ein, daß er selber ja noch den Browning bei sich trug. Ihm war, als sähe man durch die Kleider hindurch die Waffe auf seinem Leibe. Sein erster Gedanke war, sie unbemerkt verschwinden zu lassen. Aber dieses Ding fortzuwerfen, das sechsunddreißig Mark gekostet hatte und so nützlich werden konnte, war ein so eminenter Unsinn, daß Karl sich durch einen stummen Schwur aus dem Konflikt heraushalf: sich lieber totschlagen zu lassen, als die Waffe heute zu gebrauchen.

Er trug für sich und die andern die Verantwortung, daß die Demonstration ohne einen Zwischenfall verlief.

Es galt aufzupassen und unbedingt zu verhüten, daß einer der fremden Vertrauensmänner, die für die Ordnung im Zuge zu sorgen hatten, dahinterkam, wie hier eine Schar von Leuten im Zuge mitging, die wie Einbrecher und Straßenräuber bewaffnet waren. Es konnte dann geschehen, daß man ihn wie einen Spitzel entlarvte, der sich nach russischem Muster dazu gebrauchen ließ, Attentate zu stiften, um der Polizei eine Gelegenheit zum Eingreifen zu bieten. Er erschrak vor der ungeheuerlichen Lage, in der er sich plötzlich fand. Hatte ihm jemand hinter seinem Rücken diesen Streich gespielt, damit man jemand greifen konnte, auf den sich alle Schuld abwälzen ließ, wenn irgendwo die Leute Fraconnards eine Unbesonnenheit begingen und es sich dann herausstellen mußte, wiewenig sich diese Schar um das öffentlich gegebene Versprechen kümmerte? Ein unbestimmter Argwohn gegen Scappini fuhr Karl durch den Kopf.

Weit vorn auf der Place Clichy erhob sich jetzt ein Brausen, ein heller Gesang und ein Beifallklatschen, das sich anhörte, als ob tausend Hände ein riesiges Papier zerknitterten. Die Masse begann sich zu bewegen, man war im Begriff zu marschieren.

Noch einmal betrachtete Karl seine Leute. Mit dieser Fremdenlegion war kein Staat zu machen. Sie hatte eine Beimischung, die der Polizei genügen konnte, um mit einem Griff in diese Versammlung hineinzufahren. Im ganzen waren es etwa hundert Mann. Einige glotzten umher, als seien sie betrunken. Mit der Sicherheit einer Sinneswahrnehmung verspürte Karl in dieser zusammengewürfelten Gesellschaft einen stillschweigenden Korpsgeist, die Bereitschaft zu irgendeinem hämischen und gemeinen Ausbruch. Es war noch Zeit zu fliehen, einfach davonzulaufen ... Doch in diesem Augenblick geriet die vor Karl stehende Gruppe von Studenten in Fluß. Scappini drängte sich eiligst hinzu.

»Eh! Fleming! Wo stecken Sie?«

Karl gab keine Antwort. Neugierig wartete er, was ihm der Italiener zu sagen habe.

Scappini musterte die fast militärisch ausgerichtete Kolonne.

»Gut«, sagte er und faßte Karl am Ärmel, während er mit der andern Hand einen Menschen herbeizog, der ihm im Gedränge auf dem Fuße folgte. So zwischen Karl und diesem Menschen stehend, benutzte er den Augenblick zu einer Ansprache:

»Da drüben auf dem kleinen Platz ist soeben das Signal hochgegangen. Das heißt Abmarsch, Kameraden. Vor allem: Keinen Respekt vor den Kürassieren! Laßt keinen in den Zug hinein! Schließt euch eng an die Vordermänner. Die Führer marschieren an der Spitze und bilden vor jeder Gruppe eine Barriere. Hängt die Arme ein!«

Damit hängte er sich an Karls Ärmel fest und fuhr nun, rückwärts gewendet, fort:

»An der Place de la Concorde gehen wir nicht auseinander: sondern wir sammeln uns vor dem Tor des Tuileriengartens. Wir halten dort die Leute zusammen oder sammeln sie aufs neue. Fraconnard wird reden; dann bekommen wir Arbeit! Haltet euch bereit. Die Versprechungen, die in unsern Zeitungen gegeben sind, gelten nicht mehr nach der offiziellen Auflösung des Zuges. Versteht ihr mich? Vorwärts, Danjou, wir gehen in einer Reihe.«

Und den Arm festhaltend, stellte er sich neben Karl in Reih und Glied, zu seiner Linken den Unbekannten, dem die letzte Bemerkung gegolten hatte.

Dieser Unbekannte war ein Mensch, der Karl auf den ersten Blick ein unbestimmtes Leid zufügte. Etwas wie Ekel und Angst ging von diesem Menschen auf ihn über. Es war ein plattes und sehr breites Gesicht, das durch ein Geschwür oder eine offene Narbe an der Backe etwas Entsetzliches erhielt. Aus diesem Gesicht starrten ein paar aschgraue Augen, – fast der gebrochene, von keinem Widerschein des Lebens mehr berührte Blick eines Toten. Karl empfand einen so starken Widerwillen dagegen, mit diesem Menschen in einer Reihe zu gehen und durch die Kette der Körper das fiebrische, schlechte Fluidum in sich aufzunehmen, dessen Wellen ihn von dieser Seite mit einem Male gleichsam wie ein Bleigewicht beschwerten, daß er seinen Arm aus dem des Italieners zog. Scappini versuchte ihn festzuhalten. Heftig sagte Karl: »Wollen Sie mich gefälligst loslassen«, und machte sich mit einem Ruck von der Berührung frei.

Karl sah, wie des Italieners Gesicht starr wurde, wie seine unruhigen Augen mit ihren schmutziggelben, von roten Äderchen durchzogenen Augäpfeln und die hündischen, blaubraunen Pupillen sich einen Augenblick flammend auf ihn richteten. Das Gesicht allerdings lächelte verächtlich dabei, er pfiff leise durch die Zähne.

»Ich verstehe nicht«, sagte er mit diesem Lächeln.

»So werden Sie mich verstehen«, sagte Karl ruhig. »Ich werde diese Leute sofort nach der Auflösung des Zuges von der Place de la Concorde hinwegführen. – Ich glaube, wir marschieren.«

 

In der Tat begann jetzt die Wanderung durch die Straßen. Bratengeier trat an Karls rechte Seite. Karl hatte zu seiner Linken den Italiener. Ohne hinzusehen, vermied er die Berührung. Wenn er ihn im Gedränge streifte, war es, als ob diese Berührung einen zugleich lähmenden und aufreizenden Einfluß auf ihn ausübe wie eine unangenehme Art von Elektrizität. Auch Bratengeiers armselige Gestalt war keine angenehme Nachbarschaft; doch er überwand sich und schritt aufrecht und langsam dahin, in Reih und Glied mit sechs oder sieben Menschen. Die nächste Reihe, die so breit war wie die Straße, schloß sich ihnen auf dem Fuße an. Es waren die Leute aus der Mexiko Bar, Hunold mit dem Schlosser, dem Sachsen, dem kleinen Kellner. Vater Hunold überragte sie alle, groß und bärtig.

Es war ein Spaziergang von nahezu hunderttausend Menschen, der durch die stählerne Allee der Kürassiere dem Zentrum von Paris zustrebte. Der Zug gliederte sich, je mehr er vorrückte. Ganz ausgereckt wurde er mehrere Kilometer lang. Die Vereine und Gewerkschaften marschierten für sich, durch kleine Abstände getrennt. Die Neugierigen, die auf den Trottoirs kaum einen Fuß höher standen als der sich vorüberwälzende Strom, bildeten eine undurchdringliche Mauer. Die Place Clichy war schwarz vom Gewimmel der Menschen. Ein dreifacher Zaun von Polizisten und geharnischten Reitern umgab sie. Hier wehte an einer weißen Stange eine einzige, kleine rote Fahne, die an eine Startflagge auf dem Rennplatz erinnerte. Mit ihr war das Zeichen zum Beginn des Umzugs gegeben worden. Die vorbeimarschierende Menge begrüßte dieses Symbol mit Händeklatschen und Beifallrufen. Ein Gesang wurde angestimmt: die Stimmen schlossen sich zu einem Chor zusammen. Es war die Carmagnole. Die revolutionären Blätter hatten den wilden Text des alten Liedes der Sansculotten aus der Vergessenheit hervorgezogen: und nun rissen es die hellen Stimmen weniger Vorsänger im Nu aus dem dumpfen Schoß der Masse funkelnd neu hervor. Das Lied marschierte mit, über den Köpfen der Kampflustigen, jede Silbe ein Schritt; seine schleifenden Wendungen forderten zum Tanzen auf. Wie Hammerschläge schollen die Worte des Refrains:

Vive le son
du canon
vive le son.

Pfiffe, Schreie schossen, flatterten unaufhörlich aus der Menge hervor. Monoton wie die Ausrufe der Händler auf der Straße klangen dazwischen die Rufe: » A bas les assassins? Hou, hou! La calotte!«

Das Wetter war prächtig. Der Zug war nun ganz im Fluß und bewegte sich rasch. Dieses unaufhaltsame Weiterströmen der Masse, in der Frauen, Greise und Kinder marschierten, während aus allen Häusern die Bewohner herausblickten und an den Seiten die Kürassiere Mann für Mann hintereinander mitritten, war heiter wie ein Fest, und in allen war ein stolzes Herzklopfen. Die Gesichter füllten die Straßen mit ihrem unabsehbaren Geplätscher. Welch eine Gärung hatte die Menschen zu einer solchen Schar zusammengeführt, welch ein heißer Gedanke die seltene und großartige Wärmeansammlung verursacht, welche unsichtbaren Kräfte beherrschen die sichtbaren Massen und schieden dieses Chaos in Handelnde und Zuschauer, in Strom und Flußbett? Karl glaubte sich in einem ungeheuren verhaltenen Schlachtgewimmel zu befinden. Die Menge, außer sich, schrie und sang wie ein homerischer Held. Die Refrains dröhnten und machten die Gesichter zittern; dieser Schwall überwältigte die Schwachen, so daß manchen die Tränen in den Augen standen.

Der Zug näherte sich der spanischen Botschaft, die durch diese dämonische Kundgebung »für Ferrer« gestraft werden sollte.

Auf diese Stunde des Vorüberziehens hatten sich Polizei und Militär gerüstet.

Die Polizei führte jetzt an dem sich bewegenden Zuge ein bewundernswertes Manöver aus. Aus den Nebenstraßen rückten von beiden Seiten berittene Garden hervor und schoben sich in Reihen von fünf oder sechs Kürassieren quer in die Menge hinein. Plötzlich war auf diese Weise die große Schlange gespalten, wie von Schwerthieben zerhauen. Dennoch hielt sie in ihrer Vorwärtsbewegung nicht einen Augenblick still. Wie blinkende Spangen bewegten sich die Panzerreiter mitten im Zuge mit und begleiteten ihn an beiden Seiten. Die »Kanalisation« war vollständig gelungen, dank der Dressur der Reiter und der Pferde.

Es war schon im Programm festgesetzt, daß die Menge den Palast der Botschaft überhaupt nicht berühren sollte: an der Ecke des Boulevard Malesherbes mußte sie abschwenken. Die Führer bürgten für diese Schwenkung; die Polizei kam ihnen zu Hilfe.

Eine im Bogen aufgestellte Mauer von Bewaffneten schützte die stolzen Fassaden des Boulevard de Courcelles und die spanische Botschaft. Es war ein halbes Regiment Kavallerie; auf dem Trottoir und dem Fahrdamm unmittelbar vor der Botschaft stand fast die gesamte Polizeibrigade des siebzehnten Arrondissements. Außerdem waren Abteilungen des fünfzehnten, sechzehnten und achtzehnten Arrondissements an den Enden des Straßenblocks und in den angrenzenden Straßen aufgestellt, um zu verhindern, daß der Zug trotz alledem zur Botschaft durchbreche. Das elfte Kürassierregiment versperrte die ganze Breite des Boulevard de Courcelles und den Eingang zur Avenue de Villiers. Die kurze Strecke zwischen diesen beiden Straßen war durch eine Abteilung der berüchtigten Kolonialinfanterie, eine Schwadron Garden und Polizeimannschaften besetzt. Vor dieser militärischen Barre bildeten außerdem die Vertrauensleute der sozialistischen Sektion des siebzehnten Stadtbezirks ein Spalier, und einer dieser mit weithin sichtbaren Abzeichen versehenen Männer hielt mit einem weißen Stabe jeden, der sich aus dem Menschenstrom zuweit seitwärts drängen wollte, zurück. So brach sich wirklich an dieser Mauer der ganze gewaltige Zug und bog mit einer spitzen Linkswendung ab in den Boulevard Malesherbes.

Bisher hatte man dichtbewohnte bürgerliche Viertel durchzogen. Hier standen die Neugierigen noch gedrängt vor den Häusern, begrüßten die Vorüberziehenden mit Händeklatschen und stimmten in die Rufe ein. Viele schlossen sich dem Zuge an. Doch das änderte sich, als nun der Zug das vornehme Viertel der Botschaften und der Aristokratie durchwanderte. Die Gegend erschien wie ausgestorben. Die Gartentore waren fest verschlossen, die Jalousien der Fenster herabgelassen. Nur aus den Dachluken der schönen weißen Häuser sahen die neugierigen Köpfe der Dienerschaft hervor.

Die feindselige Teilnahmlosigkeit dieser Straßen feuerte den Gesang zu einem Sturme an. Man sang die Internationale. Nach jeder Strophe machten die Stimmen eine Pause, wie um Atem zu schöpfen, und dann hörte man von einem Ende des Zuges bis zum andern den einzigen Ruf hinrollen: » A mort, à mort! Mort à Maura!« Diese dunklen Vokale beantworteten zehntausend Stimmen mit dem hellen langgezogenen Schrei: » Vive Ferrer!« Wie ein gigantisches Responsorium brandeten diese Rufe ohne Ende mit dem Zuge durch die Straßen und pflanzten sich fort bis zu den Boulevards.

Der Chorgesang und die Rufe steigerten sich zu einem Tumult vor der Augustinerkirche, deren ungeheuren würfelförmigen Fels ein farbiges und blinkendes Bollwerk von Kavallerie und Infanterie umgab. Als man der Truppen ansichtig wurde, erschollen Pfiffe; man ließ die sozialistischen Abgeordneten und die Soziale hochleben. Aus der Gruppe, an deren Spitze Karl mit den anderen marschierte, erscholl nur ein einziger Ruf: » Vive Fraconnard!«

Karl atmete auf unter dieser großen sicheren Geschlossenheit, in welcher der Zug sich vorwärts schob. Seine Füße hielten Takt mit den hunderttausend Füßen dieser Menge, diesem Brausenden, Singenden, das wurmhaft und mit gewaltigen Windungen durch die Stadt kroch. Er hielt sein Gesicht geradeaus gerichtet auf die Kruppe eines Kürassierpferdes, das unmittelbar vor ihm mit seinem Reiter wie eine bewaffnete Statue mitten in der Menge der schweigenden Schar der ausländischen Studenten folgte.

Auch die Deutschen sangen und riefen nicht, die meisten verstanden nicht einmal den Sinn der Ausrufe. Karl fühlte, daß trotzdem alle diese Menschen ineinanderhingen wie die Ringe eines großartigen Kettenzugs. Vielleicht war er der einzige nicht ganz geschlossene Ring, der nachgeben mußte, wenn die Kette sich spannte ...

Bratengeier zupfte ihn am Arm. Karl ging in diesem Augenblick schief in der Reihe. Als er jetzt aufsah, begegnete er den Augen des Unbekannten, der mit ihm in der gleichen Reihe ging und ihn unverwandt anstarrte. Dieser bohrende Ausdruck eines höhnisch verzogenen Gesichts durchfuhr ihn jetzt zum zweitenmal. Er war noch stärker als vorhin.

Die Stimmen der Menge schäumten plötzlich auf in einem frenetischen Jubel. Die Ursache hatte etwas Kindliches: auf dem Dache eines der höchsten Häuser saß ein Mann, der seine Mütze schwenkte. Es mochte ein Schornsteinfeger oder Schieferdecker sein, der trotz dem Sonntag seinem Gewerbe nachging. Auch von einem Baugerüst, das als Aufzug diente und einer riesigen Guillotine ähnlich sah, winkten Arbeiter herab, das Volk unten winkte schreiend hinauf und wälzte sich weiter. In den Fenstern der Rue Royale standen Leute, die den Zug begrüßten, indem sie den Hut abnahmen. Die Menge jubelte. Es war, als begleiteten die schweigend mitreitenden Kürassiere einen riesigen Triumphzug.

Die Spitze des Zuges erreichte den Konkordienplatz, als das Ende sich noch durch die innere Stadt bewegte. Der Vereinbarung gemäß mußte sich der Zug auf dem Platze auflösen; aber die »Avantgarde« Fraconnards plante ja für diesen Augenblick ihre besondere Kundgebung. Man wollte irgendeine Droschke zur Tribüne machen; natürlich würde die Polizei sich bemühen, es zu verhindern, und dann hatte man den Krawall, den man brauchte. Wenn es gut ging, erlitt die Polizei eine Niederlage, und die Masse warf sich auf die Seite der Revolutionäre. Einzelheiten solcher plötzlichen Vorgänge würden sich später nicht mehr genau feststellen lassen. Mißlang der Versuch, so war es ein leichtes, die Schuld auf eine Horde gesetzloser und heruntergekommener Ausländer zu schieben.

Als die Spitze des Zuges auf dem großen Platze eintraf, stellten sich die Ordner auf, um die Menge vor dem Obelisk in zwei sich trennende Hälften zu teilen. Doch es entstand eine Stauung. Die Vereine waren im Begriff, abzurücken, aber da und dort wichen kleine Gruppen nicht von der Stelle. Sofort schloß sich auch die Polizei zusammen; die Kürassiere formierten sich, um die Masse wie in einer Zange vorwärts zu schieben. Eine Abteilung Polizisten stemmte sich der Menge wie ein Keil entgegen. Die Nachrückenden nahmen sofort eine drohende Haltung an. Rauhe Rufe wurden laut. Man schrie: »Fraconnard!« Der Ruf, die Stauung, die Unruhe pflanzte sich sehr rasch bis tief in die Straßen hinein und bis an das Ende des Zuges fort, der immer noch nachdrängte, während die Spitze stillstand.

Die Kürassiere, die bisher friedlich am Rand des Trottoirs mitgeritten waren, hatten Mühe, ihre von der Zusammendrängung der Menschen scheu gemachten Pferde zu zügeln.

Karl war mit seiner Gruppe nicht mehr weit vom Platze, in der Nähe der Kolonnaden. Im Augenblick, als die Rufe und die Aufregung zu ihm gelangten, erkannte er die Gefahr. Er wandte sich um und schrie den Deutschen zu: »Beisammenbleiben!«

Bratengeier wiederholte:

»Zusammenhalten!«

»O lieber Gott in deinem Himmel«, jammerte Schinkiewitz. Der alte Hunold brüllte zornig nach seinem Bajonett; die andern sahen verständnislos in den ausbrechenden Tumult hinein. Nirgends gab es einen Angreifer, doch sah man, wie die Kürassiere unter einem Ansturm bis an die Hauswände gedrängt wurden, und wie dann wieder eine Welle von Reitern die Menschen vor sich her zu treiben drohte. Man hörte ohrenzerreißende Pfiffe.

Karl rief den Deutschen zu. Eng aneinandergedrängt blieben sie stehen. Scappini rief ihm zornig etwas hin, das er überhörte. Der Unbekannte machte sich los, er schien sich auf Karl werfen zu wollen. Hunold verstellte ihm den Weg und erhielt einen brutalen Rippenstoß. Der Alte packte den Angreifer an der Brust. Scappini zog ihn zurück.

Zum Glück hatten die Ordner nicht ganz die Besinnung verloren. Einer stand am Eingang des Platzes in der Mitte der Straße und rief mit eherner Stimme:

»Ruhe, es ist nichts! Zerstreut euch, Kameraden, vorwärts, nach links und rechts! Nach Hause!«

Man gab den Zuruf weiter, man sammelte sich und drängte jetzt wieder in gleichmäßiger Strömung nach vorn ... Wirklich begannen nun die Leute, als ob der Zug in der Mitte zerschnitten würde, nach rechts und links auseinander zu gehen. Auch die Leute Fraconnards und die Abteilung der Fremden mußte sich bald in dieser Weise zerteilen.

Da entstand von neuem ein Tumult.

Ein Mensch war unbemerkt auf eine der Statuen, die den Platz umsäumen, hinaufgeklettert. Er schwenkte eine schwarze Fahne und schrie: » Vive Fraconnard!«

Von allen Seiten antworteten Schreie:

» Vive Fraconnard!«

Fraconnard mußte selber in der Nähe sein. Eine Schar von Menschen sammelte sich im Hintergrund des Platzes, bei der Seinebrücke. Noch scholl aus den Straßen wie eine Litanei der gleichförmige Gesang der vorrückenden Menge, doch auch die Kürassiere setzten sich von neuem in Bewegung. Scappini, der es zuerst bemerkte, schrie: »Zu Fraconnard!« und rannte mit einigen Leuten geradeaus über den Platz. Aber er mußte umkehren: die Polizei versperrte den Weg. Karl, anstatt ihm zu folgen, zog seine Leute nach der rechten Straßenseite. Einige Stimmen riefen: »Verrat!« Doch die Deutschen gehorchten ihrem Führer ohne weiteres.

Niemand wußte in diesem Augenblick, woran er war. Wer bis zum Konkordienplatz blicken konnte, sah, wie dort die Leute nach allen Seiten auseinander liefen; über den Köpfen blinkten die Kürassiere auf den sich bäumenden Pferden. Jemand schrie: »Zu den Waffen!« Im Nu bemächtigte sich aller eine sinnlose Angst. Man beschimpfte die Polizisten, ein Kürassier wurde vom Sattel gerissen. Die Polizisten wehrten sich instinktiv; sie waren selbst von diesem neuen Ausbruch so erschrocken, daß sie sich nicht rasch genug sammeln konnten.

In diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes. Eine Aufregung, die mit dem Durcheinander auf dem Platze nichts zu tun hatte, befiel mit einem Male die ganze Menschenmenge. Man sah Leute mit ausgestreckten Armen in die Höhe weisen, über die Seine hinaus, in der Richtung des Eiffelturmes, der drüben mit seinen leichten eisernen Maschen wie eine Wasserhose sich über der Fläche des Marsfeldes in die sonnigblaue Nachmittagsluft erhob.

Ein einzelner, heller Ruf stieg empor:

»Der Flieger!«

Alles drängte, alles reckte die Hälse. Fern, doch immer deutlicher war in der weiten, klaren Himmelsbläue ein vom äußersten Rand der Stadt heransteigender Punkt zu erkennen, der in gerader Linie auf den Eiffelturm zusteuerte. Er erschien bald nicht anders als ein emporschwebender, weißer Würfel, der mit einer plötzlichen Drehung fast durchsichtig wurde und sich in zwei wagerecht übereinanderliegende Striche aufzulösen schien. Zwischen diesen beiden Strichen kauerte ein dunkler Körper. Dieses fliegende Wesen vergrößerte sich zusehends, strahlte jetzt blendend in der Sonne auf, umkreiste schwebend, wie eine weiße Taube, den höchsten Knopf des Turmes. Zugleich aber hörte man das Brummen des Motors wie den fast tonlosen, borstigen Baß einer gewaltigen Glocke.

Die Menge verhielt sich ganz still. Der noch immer anrückende Teil des Zuges verbreitete sich ungehindert über den Platz. Selbst der Mann auf dem Denkmal hörte auf, seine schwarze Flagge zu schwenken, und kletterte behutsam auf die andere Seite hinüber, um den Flieger besser zu sehen. Einzelne Leute lösten sich aus der Menge, liefen über den Platz zur Brücke, und diesen wenigen rannten bald viele nach. Jemand schrie:

»Zum Eiffelturm!«

Es war, als habe nur dieses Wort gefehlt, um die Losung zum allgemeinen Aufbruch zu geben. Der Zug war nicht mehr, die Kundgebung war vergessen. Eine Schar von Menschen wälzte sich über die Brücke, eine andere schwenkte zum rechten Seineufer hinab. Alle wollten dem Flieger entgegen, alles eilte, um ihn vom Fuße des Eiffelturmes oder vom Seineufer aus in der Nähe zu betrachten.

Eine Donnerstimme schrie plötzlich den Davonrennenden nach:

»Der Aeroplan der Polizei! Nehmt euch in acht, man spuckt euch auf den Kopf!«

Der Ruf wurde zu einer Flutwelle und lief der noch immer aus dem Innern der Stadt anrückenden Masse entgegen; diesmal kam der Zug wirklich zum Stillstand. Die Beobachter sahen, wie das Flugzeug, das den Eiffelturm umgaukelte, sich ablöste und wie ein Schmetterling im freien, großen Schwung über die Seine zur Stadt herüberflog. Das eherne Schnarren des Motors wurde deutlich, man hörte jeden einzelnen der raschen, fiebrisch rasenden Schläge, mit denen die Schraube das Meer der Luft aufwühlte. Doch in einem weiten Bogen flog der Aeroplan nach der Richtung des Triumphbogens, beschrieb mit seinem schrecklichen Rasseln einen Kreis über den Champs Elysées und flog dann über die Seine zurück. Man sah ihn kleiner werden und schließlich in südwestlicher Richtung in den Himmel versinken.

Als alles vorüber war, trieb die Polizei die letzte kleine Ansammlung der Anhänger Fraconnards auseinander. Sie riefen: »Nieder mit der Polizei!« und flüchteten in den Tuileriengarten.

Was von der Menge noch übrig war, ergoß sich in den Tuileriengarten, über die Seineufer und in die Alleen zu beiden Seiten der Korsostraße der Champs Elysées. Das ganze Ufer der glitzernden Seine wimmelte von lebhaft schwatzenden Menschen, denen man ansah, daß sie diesen Sonntagnachmittag genossen. Die revolutionäre Wendung war ausgeblieben, der Zug so friedlich und programmgemäß verlaufen, daß Polizei und Masse selbstgefällig voneinander abließen und die einander zugedachten Prügel auf einen weniger freundlichen Tag verschoben.

 

Karl schritt die Allee hinauf. Bratengeier ging an seiner Seite, die andern Bekannten aus der Mexiko Bar hinter ihm. Wortlos schritt die kleine Gruppe durch die bummelnde, schwatzende Menge und sah in der Fahrstraße abrückende Kürassierabteilungen und leere Ambulanzwagen vorüberziehen. Karls Aufgaben waren erfüllt. Er konnte mit dem Ausgang des Abenteuers zufrieden sein. Doch noch mehr als ein Abenteuer war für ihn abgeschlossen.

Er begann auf einmal die Langsamkeit der Menge zu erfassen, ihre Langsamkeit auf dem Wege zu der großen Ordnung, die ihnen allen vorschwebte. Sie war wie ein saumseliger Bettler auf dem Weg der Erde, auf diesem staubigen und weiten Weg, an dessen Rand die Blumen der Betäubung blühen. Ein gemeinsamer Wille, ein Funke höherer gemeinsamer Vernunft in den Menschen: und das Leben einer Stadt, eines Landes, der ganzen von Menschen bewohnten Erde bewegte sich in neuen Bahnen. Was hatte er noch mit der Masse zu tun, in deren stumpfen Zügen die herzliche tiefe Liebe fehlte? Er hatte genug von ihr und auch genug von diesen Menschen, die ihm schweigend und mit stummen Fragen beladen folgten. In ihm war nicht mehr als ein Keim der Kraft, die ihnen helfen konnte; ein zartes, unbestimmtes Wesen jener Herzlichkeit. Er mußte sie sich selbst überlassen, je früher, desto besser; in ihnen nicht Hoffnung wecken, die er nicht erfüllen konnte. Er mußte sich damit begnügen, dem einen Menschen wenigstens, der an seiner Seite ging und einen wirklichen Bruderdienst von ihm erhoffte, aufzuhelfen und dann sofort nach Deutschland zurückkehren an die Stelle, wo er stehengeblieben war.

An der Ecke der Rue Jean Goujon dankte er allen, daß sie gekommen waren, und verabschiedete sich.

 

Mit Bratengeier ging er dann der Seine zu. Er sah den armen Kerlen nach, wie sie im Gewühl der Allee verschwanden. Bratengeier zuckte die Achseln.

Da sagte Karl zu dem Menschen an seiner Seite ein paar Worte, die dunkel und unvollkommen blieben und nur ihrer Traurigkeit wegen verstanden wurden:

»Denkt nicht, daß es zwecklos war, mitzugehen. Da geht nun jeder wieder seiner Wege und ist so klug wie vorher. Die Führer haben ihren Willen durchgesetzt. Sie können sich um das Los der einzelnen nicht kümmern und brauchen doch alle zu ihrem Rückhalt. Übrigens sieht kein Mensch in ihr Herz. – Und nun wollte ich Ihnen noch sagen, Bratengeier, daß ich nach Deutschland zurückfahre. Es ist am besten, wenn Sie auch aus Paris herauskommen und Ihre Sachen in Deutschland selber in Ordnung bringen.«

»Aber die Reise kostet Geld«, jammerte Bratengeier.

»Mit dreißig Franken kommen Sie bis nach Hause. Ich will Ihnen helfen, so gut ich kann. Geld habe ich keins zuviel, aber wenn Sie in Gottes Namen Ihre Sache zu Hause absitzen wollen, dann sollen Sie von mir die dreißig Franken haben. Sie können sie mir ja zurückbezahlen, wenn es Ihnen einmal wieder besser geht. Kommen Sie mit vor in mein Hotel, ich habe soviel nicht bei mir. Dann können Sie noch heute abend abfahren.«

Bratengeier krümmte sich vor Dankbarkeit. Dann meinte er zögernd: ob er vielleicht doch nicht lieber den Brief von zu Hause abwarten solle, vielleicht, wenn ihm der Herr Fleming den Brief an die Mutter aufsetzen täte ...

»Wenn Sie übermorgen daheim sein können, brauchen Sie doch keinen Brief. Gehn Sie lieber den geraden Weg. Wenn Ihnen an der Heimreise etwas liegt, gebe ich Ihnen das Geld, und wenn Sie mir versprechen, daß Sie sich als anständiger Mensch halten wollen.«

Bratengeier versprach es und trottete dann unterwürfig neben Karl her, der keine Lust hatte, das Gespräch fortzusetzen. Sie gingen jetzt am Ufer der Seine, das noch von Menschen wimmelte.

Hier kamen sie gerade zu einem Auflauf zurecht, zu einer der stummen, unsinnigen Roheiten der Straße, die in jenen Tagen in Paris nichts Seltenes waren. Ein Priester kam des Weges, ein paar junge Leute beschimpften ihn und schlugen ihm den Hut vom Kopf. Vorübergehende lachten. Karl trat hinzu, riß dem Burschen den Spazierstock aus der Hand und warf ihn auf die Straße.

Der junge Mensch maß ihn verdutzt mit den Augen.

Karl erwiderte nichts und ging weiter. Hinzukommende Neugierige nahmen aber für den Menschen Partei, Karl verspürte plötzlich einen Stoß im Rücken. Er wandte sich um und stand nochmals dem in seiner Wut häßlichen Menschen gegenüber, der aber auch diesmal nicht wagte, ihn offen anzugreifen, denn eine Dame, die etwas entfernt stand und flehentlich rief, machte diesem Auftritt ein Ende.

Karl setzte seinen Weg fort. Der Vorfall vergrößerte den Kummer, den er über die Erlebnisse dieses Nachmittags empfand.

Er ließ sich von Bratengeier bis vor das Hotel begleiten, ging in sein Zimmer hinauf, nahm die dreißig Franken aus dem Koffer, brachte sie dem armen Teufel und wünschte ihm eine gute Heimkehr. Auch seine Adresse gab er ihm. Bratengeier versprach, zu schreiben, sobald er wieder zu Hause wäre; Karl hieß ihn gleich gehen.

 

Es war bald Abend.

Karl fühlte Hunger und Abspannung. Langsam ging er die Rue des Saints-Pères hinauf, um in einer der Seitenstraßen des Boulevard Saint-Germain ein Restaurant zu suchen. Im Lichtschein eines Bäckerladens stand er plötzlich einem Menschen gegenüber: demselben schrecklichen Unbekannten, der mit ihm in der Menge gegangen war und ihn mit seinen Augen unablässig verfolgte. In seinen Zügen lag ein Grinsen, ein Blick des persönlichsten Hasses, vor dem Karl bis in den Grund der Seele erschrak. Das Trottoir war schmal, und der Mensch streifte ihn im Vorübergehen. Seine Schritte verhallten in der stillen Straße.

In dem überfüllten, übermäßig hellen Lokale, wo Karl an einem der kalten kleinen Marmortische sein Abendbrot verzehrte, und dann auf dem Boulevard Saint-Michel, wo er auf der Terrasse eines Restaurants, von Tabakrauch umflossen, das Vorübertraben der Menschen betrachtete, beschäftigte ihn der höhnisch drohende Ausdruck dieser elenden Gestalt unablässig. Wie ein Gespenst sah sie Karl im Geist immer wieder unter den Vorübergehenden auftauchen. Es durchschauerte ihn, daß in dieser großen Stadt, in die er vor kaum einer Woche als ein völlig Fremder gekommen war, ein Mensch ihm einen solchen Strahl des Hasses senden konnte. Der böse Blick verfolgte ihn mit einer ungewissen Furcht, rätselhaft. Er sagte sich, daß diese Furcht eine Täuschung sei. Ein Zufall, diese Begegnung. Und doch ließ sie ihn nicht zur Ruhe kommen. Karl flehte innerlich, begann zu warten, daß dieser Mensch noch einmal aus der Weltstadt vor ihm auftauchen möge. Dieser Blick des Argwohns drückte ihn mit dem Gefühl einer unverdienten, namenlosen Schuld. Noch einmal wollte er jenem Fremden begegnen und dann vor ihn hintreten und fragen: »Was habe ich Ihnen getan?«


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