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Drittes Kapitel

Das Vorüberhuschen einer tief verschleierten Gestalt weckte Karl aus seinem Halbschlaf in der Kirchenbank. Er erhob sich und verließ die Kirche.

Das Zwielicht lag grell über den Straßen. Das Getöse kam Karl jetzt laut vor wie ein Donner. Ein grünliches boshaftes Feuer brach aus den Laternen. Das Gedränge trabender Pferde und polternder Autobusse, der unaufhörliche Strom der Kutschen, der sich an den Straßenkreuzungen auflöste, um neu zusammenzufließen, dieses Durcheinander von hastenden und bummelnden Menschen, deren Gesichter im Abendlicht an den grauen Hauswänden vorüberleuchteten, riß ihn in die Wirklichkeit empor. Ein Heulen und Bellen drang näher und näher. Es ging von einer Kolonne von Zeitungsverkäufern aus, die am Ende der Boulevards anlangte und in die Menge einbrach. Wie Hähne krähten sie, alle in dem gleichen Tonfall, der in den Ohren gellte, denselben Ruf: » La Bataille socia ... le! Edition spéciale!«

Links und rechts sah man Leute nach den Blättern greifen. Die Burschen kreuzten die Trottoirs, rannten mit der Menge und gegen sie, liefen voraus, kehrten zurück, spielten mit ihr wie mutwillige Hunde mit einer Herde. Ein Bursche mit weit offenem Mund schwang ein Bündel Blätter in der Faust, während die andere Hand in der zerlumpten Jacke mit Sousstücken klapperte. Er schritt schräg an Karl vorüber, und in einem Fortissimo, das hell und dröhnend war wie ein Blechinstrument, brüllte er: » La Bataille socia...a...a...le! Voyez l'édition spéciale!«

Karl streckte ihm einen Sou entgegen. Sofort fühlte er eines der großen, körnigdünnen, mit zollgroßen Lettern bedruckten Blätter in den Händen. Es trug einen schwarzen Rand. Groß wie die Buchstaben des Titels standen da die lapidaren Worte: Rache! An die Mörder!

Karl hatte bis jetzt noch nicht in die Pariser Zeitungen hineingesehen. Über der Neuheit seiner Eindrücke hatte er die Tagesereignisse vergessen. Mit einem Schlage stand er mit diesem Blatt, das wie vom Himmel herab in seine Hände gefallen war, in dem Tumult, den die telegraphische Nachricht von der Hinrichtung Francesco Ferrers in der Weltstadt erregte.

Karl sprang auf ein Refuge und überflog das Blatt, das den wilden Titel führte: »Der soziale Krieg. Organ des revolutionären Proletariats.« Er erstarrte, wie von einem Gluthauch mitten ins Gesicht getroffen, vor diesen Zeilen:

Ferrer ist erschossen. Keine Klagen, Freunde! Er erlitt einen Tod, um dessen Ruhm ihn alle Revolutionäre beneiden.

Er ist für die große Sache der Befreiung gefallen. Sein Tod brennt wie ein Licht.

Keine Klagen!

Rache.

Mit einer raffinierten Mischung von Grausamkeit und Heuchelei schleppten ihn seine Henker gestern abend zur Kapelle – ihn, den Atheisten. Sie haben ihm den Zuspruch zweier Diener ihres Gottes zugemutet, ihres Gottes des Friedens und des Mitleids. Dann bliesen sie ihm das Gehirn aus.

Man wird ihnen ihren Frieden und ihr Mitleid heimbezahlen.

Die Priesterschaft, diese Bande von Mördern, hat erreicht, was sie wollte. Bei der nächsten Revolution des Volkes möge sich dies schwarze Gesindel in acht nehmen.

Die Talarträger, die das Gesetz zur Hure gemacht haben, sind Meuchelmörder. Unsere Freunde werden sie zu finden wissen. Der spanische Ministerpräsident wird gleich seinem Vorgänger niedergemacht werden wie ein Hund.

Und der junge Idiot, den die Tränen der Kinder Ferrers, die Entrüstung der Völker nicht rührten, wird enden wie sein Nachbar, der königliche Wanst von Portugal.

Wir, die wir die Stunde erwarten, laßt uns unseren Haß und unseren Abscheu dem offiziellen Vertreter des Mörders in die Ohren schreien!

Heute abend alle vor die spanische Botschaft!

Georges Fraconnard.

Fraconnard! sah Karl erstaunt. Der revolutionäre Professor, dessen Broschüre ihm Berta gesandt hatte! Der Mann, um den sich Frankreich spaltete, den man in Deutschland totschwieg, der zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Das war sein voller Name, hier an der Spitze eines Blattes, dessen bloße Existenz Karl noch vor einer Minute für unmöglich gehalten hätte. Er verstand plötzlich die Unruhe, die die Weltstadt ergriffen hatte. Dieser Name allein erklärte die Straßenkundgebungen, die der Draht über die Grenze meldete. Ja, das war dieselbe Klaue, die die eisigen Sätze des Hohnes und des Hasses über »Ihr Vaterland«, das Vaterland der Satten und Besitzenden, geschrieben und in Aufrufen von napoleonischer Gewalt die Soldaten Frankreichs aufgefordert hatte, ihre Waffen niederzulegen, oder sie denen zu kosten zu geben, die sie hindern würden, den Gehorsam zu verweigern.

Im ungewissen, schillernden Zwielicht eilte Karls Auge weiter über die andern Artikel des Blattes hin. Der nächste trug die Überschrift:

Vor die Botschaft!

Es war eine Aufforderung an die Mitglieder der Arbeitersyndikate, an alle Sozialisten, Anarchisten und Revolutionäre, sich an diesem Abend, achteinhalb Uhr, an ihren gewohnten Treffpunkten zu versammeln und dann gleichzeitig von allen Seiten vor die spanische Botschaft zu marschieren. An den besonders auffallenden Stellen des Blattes fand sich in Form einer Anzeige der stereotype Satz, der wie ein Refrain die drohenden, hastig hingeworfenen Worte begleitete:

Heute abend 9 Uhr Place Clichy.

Die spanische Botschaft befindet sich 36,
Boulevard de Courcelles gegenüber dem Park Monceau.

Alle Omnibus- und Straßenbahnverbindungen, die zum Boulevard de Courcelles führten, waren genannt. Weiter hieß es:

»Im Falle, daß die verschiedenen Zufahrtswege gesperrt sind, ist der allgemeine Treffpunkt um 9 Uhr heute abend Place Clichy. Die Gruppe der Freunde der »Bataille Sociale« trifft sich Punkt 9 Uhr Rue de Douai zwischen dem Boulevard de Clichy und dem Square Vintimille.«

Ein Mann, der Karl über die Schulter gesehen und mitgelesen hatte, ging weiter, als Karl das Blatt umwandte. Mitten im Gewühl der Fußgänger standen Leute und lasen das große gelblichgraue Blatt, dessen schwarze Lettern eine schweigende Unruhe suggerierten. Die Menge vor der Madeleinekirche war von diesen Zeitungsblättern gesprenkelt. Nur die Wagen rollten gleichmäßig weiter über das Holzpflaster, und der Schutzmann, übergossen von dem kalten Licht des Kandelabers, stand unbeweglich wie eine Säule da, die Hände unter seinem Cape versteckt, aus dem er zuweilen automatisch den Arm streckte. Dann staute sich vor seinem weißen Knüppel im Nu eine Menge von Pferdeköpfen, eine Reihe von Kutschern, die mit gelangweilten Mienen auf ihren Sitzen thronten; der Autoomnibus blieb stehen wie ein Ungeheuer, das mit seinen Schuppen rasselt. Durch den erhobenen Knüppel unverletzlich gemacht, der wie ein Taktstock das wilde Durcheinander für ein paar Augenblicke in Ordnung brachte, überschritten die Leute die Straße. So rasch die Blätter aufgetaucht waren und nun zusehends im Strom der Straße schaukelten, so rasch waren sie hinweggespült.

Die Camelots waren weitergelaufen. Man hatte das Blatt gelesen, eingesteckt oder fortgeworfen. Die Fassade der Madeleinekirche ragte über diesem Strom wie ein ungeheurer Felsen.

 

Karl schritt der Place de la Concorde zu. Langsam ging er die Rue Royale hinab in einem Meer zartfarbigen Lichtes, das die Laternen in den milden Abend streuten, und las dabei im Gehen die Blätter, die er an einem der Zeitungsstände wahllos gekauft hatte, um sein neu erwachtes Interesse an den Vorgängen der letzten Tage zu befriedigen. Die Einzelheiten, die er da fand, ergänzten den abrupten Kriegsruf Fraconnards. Vorgestern, am Montagabend, hatte vor der spanischen Botschaft eine lärmende Kundgebung stattgefunden. Das Dramatische der Vorgänge im Nachbarlande: blutige Straßenkämpfe in Barcelona, die Zerstörung von Klöstern und das Verschwinden Ferrers, des Führers der Freien Schule, in dem seine Freunde bereits das Haupt der künftigen spanischen Republik erblickten, während die Generale der königlichen Armee den Aufstand niederschlugen und denselben Mann als den Urheber des Blutvergießens im ganzen Lande suchen ließen; das freiwillige Hervortreten des Gesuchten, der summarische Prozeß, der ihm unverzüglich gemacht wurde; die Hoffnung auf seine Freilassung; die sichere Erwartung des Todesurteils: diese ganze Kette von Ereignissen hielt die Welt in Spannung. Keine Stadt aber begleitete die Vorgänge mit einer so leidenschaftlichen Anteilnahme und mit einer so nervösen Unruhe wie Paris. Eine mächtige Agitation, in der die sozialistischen Mitglieder der Deputiertenkammer, die Radikalen des Pariser Stadtrates mit den Führern der Gewerkschaften und der Confédération Générale du Travail ihren Einfluß vereinigten, ergriff die eiserne Stange, die den Felsblock der Massen auf den Staatsbau niederstürzen sollte. Wie von einem Winde zusammengetrieben, versammelte sich in diesen Tagen immer wieder die Menge vor der spanischen Botschaft. Und unversehens wurde aus einer dieser Ansammlungen eine Lawine, deren Ansturm selbst die Polizei überraschte. Die Polizeimacht, der die Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Boulevard de Courcelles oblag, brauchte plötzliche Verstärkung. Als die Mannschaften eintrafen, waren sinnlose Dinge geschehen. Eine riesenstarke verbrecherische Hand hatte Promenadenbänke umgerissen, Bäume und Gaskandelaber demoliert; zwei Autobusse waren umgeworfen und in Brand gesteckt, ein Kleiderladen war ausgeplündert worden, und man hatte den Versuch gemacht, ein Bankgeschäft zu stürmen. Der Polizeipräfekt selber jagte in seinem Automobil zur Stelle. Er zeigte sich der Menge, forderte die Leute auf, nach Hause zu gehen. Da knallten Schüsse. Ein Polizist brach zusammen. Nun drangen die Polizisten mit gezogenem Säbel in die Menge, man verhaftete dreißig Personen. Als der Tote im Automobil des Präfekten davongefahren wurde, entblößten sich die Köpfe. Die Menge verlief sich. So rasch wie sie zusammengelaufen war, trieb sie jetzt das schlechte Gewissen auseinander. Das war es, was die von Karl gekauften Zeitungen ihm zur Anschaulichkeit eines einzigen, zusammenhängenden Ereignisses beschlossen.

Er trat unter einen der Kandelaber, die die Place de la Concorde wie ein System von weißen Monden beleuchteten. Das Aufklappen der Pferdehufe auf die riesige Tenne von Asphalt, das melodische Klingeln der Droschken, der Benzingeruch, das Rascheln, das Keuchen und Sichräuspern der Automobile erfüllten die Luft, und aus dieser wildwuchernden Wiese von Geräuschen, die sich wie rauhe Halme wiegten, quakten die Hupen.

Karl holte einen Plan von Paris aus seiner Tasche, um die Place Clichy zu suchen. Es war ein kleines Blatt, das er vor der Abreise aus Meyers Handatlas herausgetrennt hatte, um es später wieder einzukleben. Er machte die Entdeckung, daß der Plan nur die innere Stadt umfaßte. Place Clichy war nicht darauf zu finden, wohl aber der Park Monceau und der Boulevard de Courcelles. Diese beiden fanden sich ganz am oberen Rande der Stadtkarte, deren fleischroten Zellenbau der blaue Bogen der Seine nach der rechten unteren Ecke zu durchschnitt.

Die Uhr zeigte gegen sechs. Karl beschloß, seinen Spaziergang noch bis zum Triumphbogen auszudehnen, dort irgendeine Verbindung zu benutzen, die ihn in das Hotel zurückführte, und sich dann nicht zu spät aufzumachen, um auf dem Boulevard de Courcelles, gegenüber der spanischen Botschaft, rechtzeitig einzutreffen.

Langsam ging er die Champs Elysées hinauf. Die von riesigen Alleen begleitete Heerstraße bot einen phantastischen Anblick.

Die Silhouette des Triumphbogens stand wie in schwarzer Glut gegen den Himmel, der hindurchleuchtete wie der Feuerschein eines riesigen Glasschmelzofens. Der rosiggoldene Abend glänzte über den Schattenumrissen der Stadt und der Baumwipfel.

Vorüber schoß eine Jagd von Automobilen, die mit flackernden Lichtern, mit einem blitzgleichen Glanz auf dem Lack, dem Glas und dem Messing herankamen und wie Kugeln verschwanden. Karl wollte die Straße überqueren, aber er kam nicht weiter als bis zum ersten Inselchen. Flammenspeiend, mit hellen Trompetentönen schossen die Automobile an ihm vorüber. Dieser ununterbrochene Zug auf dem schwarz geölten und von heißen Gummireifen polierten Asphalt wiederholte sich auf der anderen Seite der Straße in demselben rasenden Tempo die Straße hinab, stadtwärts.

Eine alte Dame tropfte auf das Refuge und sah Karl hilfesuchend an.

Er lächelte und schüttelte den Kopf. Erregt, glückstrahlend und mit einer Geste, in der alle Hingerissenheit lag, die dieses Schauspiel, diese Kanonade ringsum ihm eingab, rief er dem ängstlichen Wesen ein Urwort zu: »Es ist wundervoll.«

Die Dame, die weder die Geste noch diese Sprache verstand, zog sich auf den äußersten Rand des Refuge zurück.

Er maß die Entfernung und die Geschwindigkeit der nächsten herankommenden Autos mit den Augen, sprang ab und rannte, schon vom Flammenschein des daherstürmenden Wagens getroffen, quer über die Straße und erreichte die andere Seite.

In das Dunkel der Allee leuchtete das grüne Licht, das grell aus der langgestreckten Säulenhalle des Trocadero hervorbrach. Dieses Licht war so unbeschreiblich häßlich, daß Karl die Lust verlor, weiterzugehen. Auch war es Nacht geworden, der Weg bis zum Triumphbogen erschien noch endlos lang. Der Wanderer entdeckte zu seinen Füßen eine Station der Untergrundbahn, die wie ein von trübgoldenem Licht erfüllter Keller im Boden klaffte.

Karl stieg ohne weiteres hinunter. Er fragte den im Schalterloch versteckten menschlichen Automaten nach der Station, die der Rue des Saints Pères am nächsten lag. In einem Gedränge von Menschen zwischen eisernen Barrieren vorwärts geschoben, kam er aus dem von grellgelbem Licht erfüllten Gang in den riesigen Kanal, dessen niedrige Wölbung goldschimmernd wie ein byzantinisches Mosaik über einer sonderbaren raunenden Stille lag. Menschen standen wartend umher; rote elektrische Birnen brannten an der Wand wie ewige Lampen; das trübe Halbdunkel, die nach Schwefel und Fäulnis riechende Luft zitterte vom fernen Donner eines kommenden Zuges. Diese plötzliche Abgeschiedenheit erschien wie eine grauenvolle Parodie auf die ergebene Stille und Erwartung, die sonst nur in den alten Kirchen das Herz ergreift.

Eine verhaltene grandiose Teufelei lag in diesen weißen Glanzsteinwänden, die die Wartenden hier mit Totenstille umgaben. Oben die wilde Jagd der Automobile, rings um diesen Tunnel die unsichtbaren Strudel, die Röhren von mächtigem Durchmesser, hohl und knotig wie Bambus mit ihren Klappen und Fallen, Treppen und Verbindungsgängen, Strängen von Kupferdraht und bleiernen Adern, diese wurzelhafte Zirkulation von elektrischer Kraft, von Strömen reinen Wassers, von Kotbächen und Gasen, mit der die Stadt wie eine ungeheure Tierpflanze im Erdboden sitzt.

Jemand, ein Arbeiter mit grauem Gesicht, drückte Karl einen Zettel in die Hand. Er hatte nicht Zeit, einen Blick darauf zu werfen. Der Zug kam, ein Projektil, das zischend hereinschlüpfte und lautlos stillstand mit gläsernen Scheiben, die sich beiseiteschoben. Den wenigen Eintretenden stand eine zusammengepreßte Menge entgegen, die sich widerwillig noch dichter zusammenschob, ein Strauß von Menschen, zahlreich und winzig wie Veilchen in einem dichten Bündel, das dann plötzlich durch die Dunkelheit der Erde weitersauste. Karl stand eng zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen eingesperrt. Ihre Köpfe, ihre Körper wackelten. Es war, als ob die Menge sich mit den Händen einiger an der Decke festhielte, um nicht zu Boden zu sinken wie leere Hüllen. Die leise ratternden Fensterscheiben übergossen die finsteren Tunnelwände und die quadratischen gelben Plakate, die in regelmäßigen Abständen wie Reflektoren auftauchten, mit einem Strom schwarzen Glanzes. Andere Züge schlüpften strahlend vorüber. Karls Auge wurde schwindelig von diesem unheimlichen Strom. Neben sich sah er die Leute schweigend und mit gleichmütigen Gesichtern vor sich hinstarren; einige mühten sich zu lesen, trotzdem sie zwischen die Nachbarn eingepfercht waren und das Lämpchen von der Decke kaum hell genug auf die Blätter herniederlächelte, die sie vor sich hielten.

Es waren Flugblätter von der Art, wie man ihm eines in die Hände gedrückt hatte, in dem Augenblick, wo er in den Zug stieg. Er hielt es noch in der Hand ... Und indem er den breiten, von der blauen Leinenbluse bekleideten Rücken seines Vordermannes zu seinem Pult machte, warf er einen neugierigen Blick auf den Zettel. Buchstaben und Sätze tanzten durcheinander. Und wie von einem Biß erschreckt, aufs äußerste betroffen von diesem Eifer einer unpersönlichen allgegenwärtigen Macht, die ihm hier zum zweiten Male seit einer Stunde begegnete, las er, hin und her geschüttelt und mit angestrengten Augen, das von einem wohlbekannten Namen unterzeichnete Flugblatt, das wie eine durchdringende Stimme in das eherne Rauschen des Untergrundbahnzuges hineinklang:

Was ist der Streik?

Die bisherige Taktik des Sozialismus ist die Taktik von Ignoranten und Verrätern. Der Streik ist eine Waffe, die, solange sie nicht revolutionären Charakter trägt, dem Arbeiter tiefere Wunden schlägt als dem Unternehmer. Alle Versuche, den Kapitalismus teilweise abzuschaffen, scheitern. Vereinzelter Streik ist zwecklos ohne die Revolutionäre, die ihn durch ihr Eingreifen zu Episoden im sozialen Kriege machen. Proletarier! Eure natürliche Schlachtordnung ist das Syndikat. Sind nicht die einzigen möglichen Gruppen in der Gesellschaft die, welche sich wie die Gewerkschaften, auf Grund gleichartiger Lebensbedingungen ihrer Mitglieder, zusammenschließen? Die Gewerkschaften, die Syndikate allein sind lebendige und ursprüngliche Klassenorgane. Ihre Macht ist die Arbeit. Das erste ihrer Kampfmittel ist die Resistenz.

Wenn eines Tages alle Dienstboten sich weigern, bestimmte ekelhafte Dienstleistungen für ihre Herrschaft weiterzuverrichten, wenn eines Tages die Köche der vornehmen Restaurants ein unschuldiges Abführmittel in die Speisen mischen, die Musiker in den Konzerten ein wenig falsch spielen, die Expedienten der Güterbahnhöfe und der Warenhäuser die Sendungen vertauschen, wenn eines Tages die Soldaten, statt mit dem rechten Bein anzutreten, ihren Vorgesetzten das linke unter die Nase halten, wenn eines Tages alle die Dressierten, deren regelrechtes Funktionieren zu den Selbstverständlichkeiten gehört, »sich irren«: was dann? Eine Panik muß die Folge sein. Beschuldigungen, Klagen, Strafverfahren und Prozesse müssen die Gerichtshöfe überschwemmen und die Justiz in ihren laufenden Geschäften stören. Eine gesetzliche Rache der Betroffenen wäre bei dem geltenden individualistischen Gerichtsverfahren undurchführbar.

Dann ist die Zeit gekommen: dann habt ihr ihn, den Krieg der Klassen, den Gewaltakt! Der Gewaltakt aber, welcher Art er auch sei, ob Boykott, Sabotage oder Straßenkampf, ist ein Kriegsakt und muß sich, um wirksam zu sein, ruhig, ohne Haß und Rachegeist vollziehen.

Die Scheiben des Untergrundbahnwagens spiegelten die unbewegten Schultern, die Rücken der Menschen, die schweigenden Gesichter, die breit und blaß in dies sinnlos rasende Dunkel hinausstarrten. Es war, als schössen sie alle in einer Taucherglocke in die Tiefe des Meeres hinunter, das sie schon verschlungen hätte wie die vielen Namenlosen vor ihnen, die Eltern und die Ureltern, alle Toten Europas und Amerikas, Berta mit ihnen, – doch als stünden noch in diesem Hinuntergleiten in den schwarzen Schlund der Erde die Dämonen der Tiefe hinter jedem einzelnen, um ihm Schreckliches ins Ohr zu flüstern; jedem von ihnen, die da mit den andern zusammengeballt eine warme Masse wohliger und unbekümmerter Menschenkörper bildeten, und die, wenn es das Schicksal wollte, nach wenigen Minuten noch einmal in das helle Licht emporsteigen und sich über die Stadt zerstreuen sollten mit der schwarzen Saat des Hasses und des Mißtrauens im Herzen.

An der fünften Station mußte Karl aussteigen, die Tür ging auf, noch rührte sich die Menge nicht, in die er eingekeilt war, aber von draußen drängten die Menschen herein mit dem ganzen Gewicht ihrer Glieder. Der Zug hielt nur dreißig Sekunden. Karl mußte kämpfen, um aus diesem Strudel hinauszukommen. Die Gesichter über den Leibern, die sich eng an ihn drückten, lachten; die Kraft eines einzelnen war fast zu klein, um die lebende Mauer zu durchbrechen. Da gebrauchte er seine Füße und seine Fäuste; die Gesichter nahmen einen feindseligen Ausdruck an, aber die Leiber machten Platz. Er war draußen. Beleidigt sahen ein paar Frauen, die nicht mehr mitkamen, ihm nach, wie er die Steintreppe hinaufging, während der Zug wieder in der Erde verschwand.

 

Karl befand sich in einer Nebenstraße, die in den glänzenden Strom des Boulevard Michel einmündete. Die steilen Stockwerke der Geschäftshäuser standen fahl bis unter die mächtigen schwarzen Meereswellen der Dächer. In unregelmäßiger Reihe leuchteten die Läden und die von Büschen umgebenen, von rotgestreiften Segeln überdachten Terrassen der Restaurants, die wie Spieldosen die ärmliche Musik ihrer Violinorchester in das mächtige Geräusch der Straße mischten.

Karl fühlte von seiner stundenlangen Wanderung eine gesunde Müdigkeit in den Beinen. Er ließ sich an einem der schmalen Tische an der Straße nieder und bestellte zu essen. Es erfaßte ihn ein so unbeschreibliches Behagen, hier mitten im Strom des abendlichen Großstadtlebens müßig zu sitzen und sich zu sättigen, daß er überlegte, ob es sich lohne, dem Schauspiel einer aufgewiegelten Volksmenge zuliebe, die in irgendeiner entlegenen Gegend dieser von Lichtern durchstrahlten Stadt zusammenlaufen mochte, andere einladende Möglichkeiten zu verpassen. Herrlich, noch ein wenig hier durch die Straßen zu spazieren, müde wie er war, und dann einmal früh schlafen zu gehen.

Er schälte eben seine Birne, als ein gleichmäßiges Hufgetrappel mitten im Verkehr der Straße die Aufmerksamkeit erregte.

Eine Abteilung Garde ritt langsam vorüber. Der Schein der Schaufenster und der Gaslaternen spielte auf der glänzenden Haut der Pferde, auf den trocken blinkenden Harnischen, den Helmen, von denen schwarze Schweife herabwallten, und gab dem Rot der Hosen und der Epauletten einen vergilbten Ton. Das langdauernde Getrappel und das Klirren der Pallasche machte, daß jedermann den Kopf umwandte. Es waren mehrere Schwadronen, die allmählich hinter den Wagen der Straße verschwanden.

»Die Polizei für heute abend«, sagte jemand am Nebentisch.

Karl war im Nu wieder bei der Sache. Es war schon halb acht Uhr. Er bezahlte und fragte den nächsten Schutzmann nach einem Omnibus zum Boulevard de Courcelles. Alle Trägheit war vergessen. Er fühlte sich wie ausgeschlafen. Die Stadt war ihm plötzlich wieder das Paris der historischen Aufstände, das Paris der Marcel, Marat, Babeuf, Blanqui, das Paris eines Fraconnard und seiner raffinierten Erfindungen: Antimilitarismus und Sabotage, unterstützt durch Massenkundgebungen.


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