Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Am Sonntagmorgen war die große Versammlung im Tivoli-Vauxhall.

Karl ging nicht hin.

Der Schlaf hatte ihn bedrückt wie eine Last. Im Traum sah er über dem farbigen Gewimmel des Ballsaales auf der goldglänzenden Galerie eine Frau in stahlfarbenem Seidenkleide, schmal und nobel, an einem Tische sitzen. Neben ihr Scappini, im Begriff, ihr ein Glas zu reichen, das mit einem grünbrennenden Gifte gefüllt war. Es war aber nicht möglich, daß die Dame das Glas annahm: denn sie sah Scappini gar nicht. Er war blaß, schwarzhaarig; aus seinen Augen brach die finstere Flamme bösartiger Gedanken. Er suchte sich bemerkbar zu machen: er bellte wie ein Hund. Da vollzog sich mit ihr eine ungeheuerliche Verwandlung. In einer Menschenmenge, die von grellgelbem Licht beschienen war und einen großen Platz bedeckte, lief sie von Scham gehetzt davon, ausgelacht, glanzlos nackt. Über dieser Menge wölbte sich ein Bogen, eine Art Orchesterestrade. Drei Männer standen darauf wie auf einer Kommandobrücke. Es waren Scappini, Walterre und ein Mann mit undeutlichem Gesicht. Karl allein, der geheime Zuschauer seines Traumes, mitten in der Menge aus seinem eigenen Ich hervorlugend wie aus einem Schilderhäuschen, sah die drei Männer. Der Mann mit dem undeutlichen Gesicht sprach zu der Menge herab, deren Köpfe sich aneinanderfügten wie Pflastersteine. Zuweilen schien er die Züge des Ballsaalwirtes anzunehmen, doch was er aussprach, waren die Gedanken eines Unsichtbaren, dessen geistiges Wesen die Menschen mit seiner Allgegenwart durchtränkte. In solchen Augenblicken wurde jenes Gesicht wieder deutlich; Karl quälte sich vergebens, das Unsichtbare hinter ihm, das sie alle wie Puppen hin und her bewegte, zu erraten. Nun verwandelte sich die Estrade in das Verdeck eines durch das Straßengewühl fahrenden Omnibusses: und plötzlich sank es zusammen, schwarz wie verkohltes Papier. Eine Gestalt schlüpfte aus dem Zusammenbruch hervor; sie schillerte in einer schwarzglänzenden Haut, die ihr bis zum Halse anlag wie ein Strumpf. Und diese Gestalt, die wieder in ein Dunkel hineinglitt, aus dem sie wie ein Hund hervorbellte, näherte sich Karl. Unentrinnbar sah sie ihn an mit ihrem dumpfen, bellenden, häßlichen, kreidebleichen Gesicht, dessen Lippen hochrot waren und trocken wie Holz, und näherte ihm ihren Leib, schlangengleich. Karl erwachte vor Seelenangst und Ermattung.

Es gab Träume, deren dunkle Strahlen Karl auch im Wachen noch tagelang durchleuchteten. Die Einzelheiten vergaßen sich, aber eine Erinnerung blieb, aus der er dann seinen Tageslauf in einer seherischen Perspektive betrachtete. Er hatte es zu einer zarten Kunst darin gebracht, diese Träume mit ihren zusammengezogenen und doch mit allen Gefühlsgewichten einer erhöhten Wirklichkeit belasteten Vorgängen rückschauend in der Erinnerung zu fixieren, die Verknotung ihrer Einzelheiten aus Erlebnissen der Wirklichkeit und ungedachten Gedanken zurückzuverfolgen. Sie fielen in sein Leben, wie Strahlen des Mondes ein stilles Wasser bis zum Grund durchscheinen, und er spürte, wie dieses Erglimmen der Seele ihn verzehrte. Tief erschreckt empfand er das Unheimliche dieser geheimnisvollen Sonne seines Innern, dieser vita propria, die jeder Erklärung trotzte. Berta mußte etwas davon verspürt haben, wenn sie sich um ihn grämte.

Sein Leben erschien ihm wunderbarer und unermeßlicher durch diese Träume, die ihn immer um einen Schatten fremder, ewigkeitsberührter in der Welt zurückließen. Dann zog ihn diese Stimmung meist in die Nähe großer Gebäude, zu Spaziergängen am Wasser, wo die vor der Wirklichkeit sich sträubende Seele sich beruhigte und wieder in die Verborgenheit zurücktrat, die ein irdisches Gesetz des Gleichgewichts von ihr verlangte.

 

Der Oktobermorgen hatte einen blauen Himmel und einen frischen Wind, der mit vollen Händen das gelbe Laub von den Bäumen des Seinekais umherstreute. Die große Stadt lag rings in ihrer steinernen Lebendigkeit. Es war hier am Ufer merkwürdig kühl und sonnig zu gehen und eine ungestörte Stille.

Karl schritt langsam den Kai entlang, den altersschwarze Gebäude von unerschütterlich mächtigen Formen begleiten. Mit ihren Hunderten von Fenstern sahen die alten Paläste ruhevoll auf den stählern strahlenden Fluß hinaus. Die massigen Dächer schienen wie Sargdeckel, aus denen zahllose schwarze Flammen züngelten. Da und dort schaukelte die französische Trikolore in der Luft.

Karl kam ohne Absicht in die Nähe der Notre-Dame-Kirche. Er betrachtete das Tor, die steinernen und erzenen Figuren, die eine im Jüngsten Gericht gebändigte Welt darstellten, und es zog ihn hinein. Als die Tür hinter ihm zufiel, war es, als habe er ein Schiff bestiegen, das von der alten Erde abstoßen konnte, um eine neue zu suchen.

Irgendein Gottesdienst fand statt, aber die Kirche war fast leer. Nur in den Seitenkapellen befanden sich Andächtige.

Karl ging nach vorn und nahm auf einem der Stühle Platz. Die straffen steinernen Bogen, die den großen Raum umschlossen, gaben ihm so viel zu denken, daß er fast leblos in dem Stuhl saß, den Kopf in den Nacken zurückgebogen. In fremdem Hause lag er hier – wenn er zur Höhe emporsah, erschien es ihm, als ob er am Boden läge – und vernahm die unverständlichen Vorgänge der Messe ohne Anteil, wie aus weiter Ferne. War es nicht seltsam, daß er, ein Kind seiner Zeit und ein Mitarbeiter an ihren Arbeiten, so verstummend und ergriffen zu dieser steinernen Höhe emporstarrte, die die großen Meister des Mittelalters geschaffen hatten? Diese Säulen redeten zu den wahrhaft Frommen. Auch heute noch gab es wahrhaft Fromme in der Welt, die doch diese Dome nie betraten. Wo ist der Ort der Sammlung und der Stille, den sie ersehnen?

Die Pracht der Fenster im Chore traf Karls Auge wie mit Zauberschlägen. Aus diesen feurigen Scheiben regnete das Licht funkelnd und voll tiefer Farben an den Säulen herab. Die Kirche begann sich jetzt zu füllen. Wenn die Reihen der Andächtigen sich erhoben, so war es, als wüchsen zwischen steinernen Palmen Menschen empor wie ein Beet dunkler Blumen, deren Häupter in einer cholerischen Düsterkeit erglühten. Alte Männer in roten Gewändern und mit rotseidenen Schultermänteln saßen im Chorgestühl, mit den Gesichtern von Gelehrten. Vereinzelt saßen sie da und lasen ihr Brevier, jeder für sich im Lichtkreis seines Lämpchens, während zugleich der frische, etwas harte Gesang der Chorknaben, der nach dem Zeichen des Taktstockes einsetzte, das Tor gen Himmel öffnete.

Als die Menschen neben ihm beim Klingeln der Schellen aufstanden, als sie knieten, lispelten und sich bekreuzigten, blieb Karl ruhig sitzen. Von niemand gekannt und mißverstanden, gab er seine ganze Seele, die der Erhebung bedürftig war, dem Kummer hin. Die Orgel begann zu spielen; zögernd und staunend wanderte er mit den Tönen. Wie schwach sind die Möglichkeiten menschlicher Sprache, wenn die Orgel ihr urweltliches Singen anhebt. Auf einem tiefen warmen Unterstrom von Harmonie und Tapferkeit trägt es die leisen Schreie und Nachdenklichkeiten des Lebens mit sich fort. Die intellektuelle und seelische Überlegenheit Gottes ist in ihr, die das Gemüt unbeschreiblich tröstet.

Karl hörte eine Reihe von Namen, die der Priester verlas; es mochte eine Messe zum Gedächtnis Verstorbener sein. Ein Name in dieser Reihe traf ihn, daß er den Kopf erhob. Es war das Wort: L'empereur Napoléon premier. In einem Meer von Leidenschaftslosigkeit segelte hier ein Gespensterschiff: der Name eines Mannes, der gerade an dieser Stelle des Erdballs, vom Licht dieser Fenster beschienen, den Hut abgelegt und eine Krone auf sein Haupt gesetzt hatte. Dieser nebensächliche Augenblick lebte und wuchs auf zu einer zeitlosen Gedächtnistafel.

 

Den Leuten, die die Notre-Dame-Kirche verließen, wurden von Burschen, die draußen warteten, royalistische Blätter angeboten. Etwas Retrospektives lag darin für den nachdenklichen und stadtfremden Besucher, dessen Denken in diesem Augenblick schon von selbst der Schauplatz geisterhafter Erdendinge war. Kämpften die alten Königtümer der Erde noch immer gegen die Flut der Überwinder, gegen die neuen, herrlichen Hoffnungen?

Karl ging an der Seine entlang, am Reiterstandbild Marcels, des ersten Rebellen, vorüber, der vor fünf Jahrhunderten gewagt hatte, diesen aus Heiligem und Gemeinem gemischten Willen des Volks zu zeigen, der sich heute in den Straßen dieser Stadt aufs neue ins Ungewisse strecken sollte.

Die alten Türme der Kirche winkten über die Dächer hinter ihm her mit ihrem steinernen Ausdruck von Seelengröße und Festigkeit, ohne Stolz und ohne Demut vor dem ewig wechselbaren Himmel. Die Kirche ... Ihr großer Schiffsraum lag noch immer bereit zur Fahrt an der unruhigen Küste dieser Zeit, von vielen fast vergessen. Vielleicht für immer untüchtig, die Fahrt zu wagen, und deshalb verhöhnt von den Menschenscharen am Ufer.

 

Karl ging den Boulevard Sebastopol hinauf. Überall saßen die Leute vor den Cafés und lasen die Blätter. Ströme des Verkehrs sprudelten und plätscherten durch die Stadt. Man merkte doch, daß heute etwas Besonderes los war: Die Omnibusse, die Dampfbahnwagen, die den Boulevard in langen Zügen passierten, waren überfüllt. Eine Abteilung Kolonialinfanterie marschierte nach der Richtung des Ostbahnhofs.

Karl frühstückte in einem kleinen Restaurant und machte sich dann auf den Weg. Es gab keine Omnibusplätze mehr. Eine Völkerwanderung schien nach dem Nordosten unterwegs. Wie von einer höheren Kraft ergriffen, schienen die Omnibusse, Wagen und Fußgänger einem gemeinsamen Ziel zuzutreiben. Viele Frauen trugen rote Nelken auf den Hüten und am Gürtel. Die Männer trugen rote Rosetten im Knopfloch.

Als Karl auf dem Boulevard Rochechouart eintraf, war es gegen zwei Uhr.


 << zurück weiter >>