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Achtes Kapitel

Neben diesem Menschen Scappini, der wie ein Besessener in der Stadt herumfuhr und aus jeder seiner Reden wie ein Springteufel emporflammte, bewegte sich Karl in einem heiteren und zugleich beunruhigten Staunen. Morgen, am Sonntag, sollte die große Kundgebung stattfinden. Karl war am Samstagvormittag einige Minuten in der Mexiko Bar. Er traf nur den Sachsen, der sagte, daß die andern fort wären und alle Welt beschwätzten, die Demonstration mitzumachen. Scappini zeigte sich und seinen Begleiter am Mittag und am Nachmittag im Südosten der Stadt und in den Vierteln bei den westlichen Festungswerken.

Karl beobachtete einmal, als er neben dem Italiener über die Straße ging, das Gesicht eines Omnibusschaffners, der mit der mechanisch stützenden Bewegung, die er wohl täglich hundertmal zu üben hatte, einer Dame beim Aussteigen behilflich war. Der Mann hob gleichmütig die Hand zu dem Riemen an der Decke, um das Klingelzeichen zum Weiterfahren zu geben, und schien dabei doch mit einem einzigen vertieften Blick das Bild der davongehenden fremden Frau einzuschlucken, ehe er sich wieder in das Innere des fahrenden Wagens wandte. Sie wußte nichts davon und ging an einem mit gelben Plakaten bedeckten, mit Kotsternen bespritzten Zaun vorüber ihres Weges. Was war an ihr? Nichts als das, was dieses gehrockähnliche Kostüm ausfüllte, das um ihre Beine schlotterte ... nichts als der auffallende violette Hut und das Gesicht darunter mit dem harmlos eifrigen, schlummernden Ausdruck. Rasch ging die kleine Welle im Leben der Straße unter, doch erweckte sie in Karl ein unbestimmtes Andenken an Berta.

Ein anderer Augenblick führte mitten im eiligen Gehen seine Gedanken zu den Männern der Mexico Bar zurück. Karl ging mit Scappini über die Mirabeau-Brücke, und ein schwarzglänzendes Automobil fuhr vorüber. Karl sah durch das silbernglänzende Spiegelchen neben dem Chauffeursitz die ganze Straße huschen – klar geschliffen: jene Männer, die jetzt gleich ihm durch die Stadt wandern mochten, jeder einzelne von ihnen ein Schicksal. Tappten sie nicht alle wie Blinde durch die sichtbare Welt? Da war er nun in ihren Kreis getreten, ihr Leben lag offen vor ihm, hilflos und erbarmenswürdig. Und er war das Werkzeug, das sie noch weiterstieß, sie noch tiefer hineingehen hieß in die Finsternis. Ihr Leben war schon so sinnlos geworden, daß sie ohne zu fragen gehorchten. Nicht neue Pässe, kein Schub in die Heimat konnte ihnen helfen, keine Kundgebung der Welt konnte ihr Sinken aufhalten.

Karl grübelte, was wohl jeder einzelne von ihnen sich in seiner gegenwärtigen Lage am meisten wünschen mochte. Bares Geld – weiter nichts. Und doch, was wüßten sie selbst damit anzufangen? Karl ersehnte für Bratengeier jenen Brief von seiner Mutter, auf den er wartete, wünschte dem Buckligen eine Heimat und ein wenig Liebe auf seinen Weg. Vielleicht, daß sich dann der bekümmerte Ausdruck in seinem Gesicht verlöre und seine Phrasen zusammenschmölzen. Dem alten Hunold wünschte er ein Lächeln im raschen Tod ... und über jenen jungen Menschen, ehe er im Schmutz verkam, eine Tracht Prügel und eine väterliche Hand. Ihnen allen stak ja Verzweiflung im Leibe. Mit diesen Menschen hatte er am selben Tisch gesessen; er ahnte die Dinge, von denen sie nicht redeten. Dann stand er auf unter ihnen. Warum aber war sein Herz verschlossen? Er tat den Mund auf, um von Dingen zu sprechen, die nicht notwendig sind; von einem Schauspiel, bei dem man Statisten brauchte.

Mit Bangigkeit und Scham dachte Karl an den kommenden Tag.

 

Als sie gegen Abend mit der Dampfbahn nach Montmartre fuhren, verkaufte man auf der Straße eine neue Extra-Ausgabe der »Bataille Sociale«. Die großen Lettern auf der Hauptseite schrien:

100 000 Manifestanten!
Genug! Genug! Genug!

Darunter: »Ein letztes Wort«, das wie durch einen riesigen Schalltrichter über Paris hintönte:

Die von den Kosaken der Republik gegen friedliche Manifestanten begangenen Roheiten sind ein Gegenstand des Erstaunens und des Abscheus für alle Fremden, die es zufällig miterleben.

Nachdem wir auf dem Boulevard des Courcelles gezeigt haben, daß wir Schlag mit Schlag zu vergelten wissen, werden wir morgen den Beweis liefern, daß unsere Kundgebung in vollkommener Ruhe vor sich geht, wenn nur die sogenannten Friedensgarden sich friedlich verhalten.

Wir werden ohne Waffen erscheinen, Herr Polizeipräfekt! Wir sind keine Jesuiten, die ihr Wort brechen.

Im Namen unserer Freunde versprechen wir, weder gegen Personen noch gegen Eigentum Gewalt anzuwenden, ja wir treiben unsere Gewissenhaftigkeit so weit, daß wir zum besonderen Schutz der spanischen Gesandtschaft eine Reihe von Vertrauensmännern vor dem Polizeikordon aufstellen werden. Auch geben wir im voraus die genaue Marschroute und den Ort der Auflösung des Zuges bekannt. Es ist also klar, daß Unglücksfälle morgen nur vorkommen, wenn die Kosaken es wollen.

Noch eins, Herr Polizeipräfekt: Wir empfehlen Ihnen zur Beruhigung Ihrer Nerven eine Dosis Brom. Dann wird alles gut gehen. Brom, Herr Präfekt, zur Beruhigung Ihrer Schneidigkeitsanfälle.

Wieder reihte sich Aufruf an Aufruf, von den Namen der Gewerkvereine und von den Führern des allgemeinen Arbeiterbundes unterzeichnet. Die Marschroute des Umzuges glich an Berechnung und Umsicht einem Mobilmachungsplan. Man gab den mit der Untergrundbahn Ankommenden den Rat, nicht an den Stationen Clichy, Courcelles und Monceau, wo einströmende Menschenmassen den Zug in Unordnung bringen konnten, sondern an den Stationen Anvers und Barbès auszusteigen. Die Manifestanten wurden aufgefordert, ohne Ausnahme vom Boulevard de Rochechouart herzukommen und sich nach der Place Clichy hinzubewegen. Dort würden sich, mit dem Gesicht nach der Place Clichy, die Gruppen zusammenstellen. Für jeden Treffpunkt waren besondere Vertrauensmänner bestimmt.

Beim vordersten dieser Treffpunkte fand sich der Name Fraconnards mitten unter den Namen der Abgeordneten und Gemeinderäte.

Unter der Rubrik »Hippodrom« fand Karl unter sechzehn fremden Namen auch den Namen Scappini und seinen eigenen.

Ein Herzklopfen befiel ihn, als er las: Scappini, Fleming.

 

Sie besuchten zuletzt eine Versammlung in der Rue des Abbesses. Es ging gegen Abend. Scappini blieb stehen, und indem er ein Auge zusammenkniff, fragte er unvermittelt: ob Karl wohl Lust habe, sich heute einmal einen Pariser Ball anzusehen. Es gäbe da einige Überraschungen zur besonderen Belustigung der Fremden. Gewöhnlich dauerten diese Bälle bis gegen Morgen. Heute garantiere das Syndikat der Elektriker dafür, daß man um ein Uhr spätestens zu Bett gehen werde, um für den Sonntag auszuschlafen.

Das Lokal des berühmten Bal Chassepot lag am Ende der Rue de Douay, nicht weit von der Place Pigalle. Man war jetzt nicht weit davon, aber es waren noch ein paar Stunden Zeit. Scappini wollte nach Hause fahren, um sich umzuziehen. Vor elf Uhr brauchte man nicht dort zu sein.

Karl versprach zu kommen.

 

Eine halbe Stunde später war er in der Rue des Saints-Pères.

In dem kleinen Hotel begegnete ihm niemand auf der schmalen Treppe, die nur von einer Petroleumlampe sparsam beleuchtet war. Wie geborgen fühlte man sich doch in der spießbürgerlichen Ruhe dieses Hauses. Aus dem Speisezimmer im Erdgeschoß neben der Küche, deren Tür angelehnt war, hörte man wie aus weiter Ferne die Stimme der Pensionäre, die beim Abendessen sein mochten, und es roch nach Braten.

Als Karl sein Zimmer betrat, zündete er gewohnheitsmäßig ein Streichholz an, um nachzusehen, ob Briefe auf dem Tisch lagen. Es lag nichts da. Wer sollte ihm auch schreiben? Nicht einmal der Onkel wußte seine Adresse in Paris. Nur einem gleichgültigen Studenten hatte er sie geschrieben, bei dem er sich mit einer Postkarte wegen einer übergangenen Verabredung entschuldigte. Das Streichholzflämmchen verlosch. Übrigens hatte er in dem schwachen Schein, den es durch das Zimmer warf, gesehen, daß das Bett schon abgedeckt war. Auch die Vorhänge des Zimmers waren vorgezogen.

Geduldig ließ Karl den winzigen roten Funken in seiner Hand verglimmen und brachte noch die Uhr in die Nähe der erlöschenden Glut. Es war neun Uhr. In Neuwied ging man um neun Uhr zu Bett.

Ohne die Kerze angesteckt zu haben, setzte sich Karl im Dunkeln in den Sessel. Jetzt erst merkte er die Müdigkeit in seinen Füßen. Mit einem Gefühl der Erlösung zog er seine Schuhe aus.

Das Zimmer war doch nicht ganz so dunkel. Ein schwacher Lichtschimmer aus den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses stahl sich zwischen den Falten und durch die dünnen Poren des wollenen Vorhangs ins Zimmer, wie durch ein feines Sieb. Karl ging hin und zog den Vorhang mehr auseinander. Nun legte sich auch der Widerschein der Hoflaterne wie ein Stück Mondlicht an Wand und Decke.

Karl gähnte und streckte sich, wie er da war, aufs Bett. Ohne sich zu rühren, genoß er die Kühle des Kissens, die wohlige Dunkelheit und Stille. Es war ihm, als sei sein Leben für eine kleine Weile aufgehoben, ganz in angenehmer Sicherheit wie in einem Grabe. Er verfiel in einen Halbschlaf, in dem er mit einem Male merkte, daß sich im Hause wie aus weiter Ferne ein Gesang erhoben hatte, eine märchenhaft süße Stimme zum Klavier, eine Melodie von leicht verschleiertem, träumerischem Fluß, die zuweilen in einer reinen Klarheit aufblinkte und sich schwermütig senkte. Er lauschte mit einem wohligen Gefühl, hörte, wie es wieder still wurde, und lauschte noch immer.

Längst vergessene Tage der Kindheit standen vor ihm auf. Es war in den letzten Wochen seiner Schulzeit: Helene, ein Nachbarskind, lichtblond und zart wie eine Elfe, sang, und er begleitete sie auf dem Harmonium. Tränen der Verliebtheit flossen damals in seinen jungen Nächten, und wie bald war er dann hinausgeglitten aus jenem Wiesenfluß der Jugend, an dessen Rand die Mädchen spazierengingen. Eine graue und kräftigere Strömung hatte ihn ergriffen, und mit unbegreiflicher stiller Sicherheit war alles gekommen: Vereinsamt und wettergeschlagen suchte er jetzt seinen Weg durch einen Ozean. Hier ruhte er nun in seinem Bett in Paris wie auf dem Rücken einer gigantischen Welle, mitten in der sich auseinander spaltenden Stadt, die ihre Abgründe zeigte.

Eine starke, neue, furchtbare Idee hatte ihn in ihren Bann gezogen, doch gleichzeitig hielten ihn die Zweifel an alten Gedanken fest. Noch fühlte er sich stark genug zu einer bestimmten Wendung. Dieser Abend noch und der morgige Sonntag waren ihm zum Sehen, zum Überdenken vorbereitet. Er würde durchführen, was er sich vorgenommen, und dann wissen: Entweder – oder.

Das Trübe in ihm klärte sich in dieser Stunde der Ruhe wie nach einem chemischen Gesetz. Die Gedanken, die in seinem Innersten miteinander stritten, waren emporgestiegen und ihrer Gärung überlassen; nun sank alles Schwere in ihnen fast merklich nieder wie ein Satz.

Und fertig damit stand er auf, erfrischte sich durch kaltes Wasser und verließ das Haus in einer heiteren Gelassenheit.

 

Es war halb elf vorüber, als Karl vom Omnibus hinabkletterte und die Rue de Douay hinaufging, wie es ihm Scappini beschrieben hatte.

An dem Knie dieser langen und mangelhaft beleuchteten Straße leuchteten die knallroten Feuerbuchstaben eines mondänen Restaurants. Daneben glühte die Inschrift des Bal Chassepot in steilen feierlichen Flammen. Droschken und Automobile mit ihren weithin strahlenden Laternen hielten vor dem Hause wie ein Schwarm schwarzglänzender Riesenkäfer mit schnarrenden Flügeln. Damen in zartfarbigen Abendmänteln und Herren im Frack betraten den Eingang, der intensiv rot war wie mit Blut bestrichen.

Man mußte am Schalter fünf Franken bezahlen. Ein Mann in Livree führte die Ankömmlinge zur Garderobe. Ein anderer überreichte das Programm, dessen erste Seite mit den Figuren einer rotgekleideten Cancantänzerin, eines ausgelassen hüpfenden, weißbärtigen Herrn und eines vergnügt glotzenden Negers geschmückt war. Ein dritter geleitete die Gäste in den Saal.

Das Lokal schwamm in einem goldenen Nebel von Licht und Lärm, von Staub und Stimmen, Lachen und Geigenmusik. Die goldverzierten Balustraden, über und über mit orangefarbenen Glühlampen und riesigen Papierblumen behängt, die an den Stirnwänden des Saales wie Brücken zur Galerie hinaufführenden Treppen mit ihrem vergoldeten Geländer faßten das Gedränge der geröteten Gesichter, der fröhlich glänzenden Frauen und gleichgültig blickenden Männer in einen kolossalen Rahmen. Es war eine Tanzpause; das Parkett war leer. Ringsum saß man an den aneinandergedrängten und von lila-goldenen Lämpchen beleuchteten Tischen. Mächtige Girlanden kreuzten sich unter der gläsernen Decke, die mit Klappen versehen war, aus denen drastische Embleme herabhingen: aus Pappdeckel gemachte Sektpfropfen, Hexen, die auf Besenstielen, Aeroplanen, Rüben, Halbmonden oder phantastisch geformten Birnen ritten. Die Wimpel aller Nationen außer der deutschen hingen in ihrer grellen Buntheit über dem Ballokal, geschaukelt vom starken Luftzug des Ventilators, der die heiße Atmosphäre kaum merklich zu kühlen vermochte. Von den Galerien herab warf man mit Papierschlangen und Konfetti, von unten stiegen Papierschlangen zu den Galerien empor wie Raketen. Hohe Wandspiegel gaben dem Raum eine ungeheure Weite. Das farbige Gedränge und das Stimmengewirr, das ihn erfüllte, dehnte sich durch sie ins Endlose.

Die Mischung der Menschen war grotesk. Neben den Herren, die im seideglänzenden Smoking, eine zarte Nelke im Knopfloch, erschienen waren, saßen andere im Straßenanzug, den Hut im Nacken. Man bemerkte zwischen den Zylindern den blanken Stahlhelm eines Kürassiers. Wie Mohnblumen leuchteten die roten, goldbetreßten Uniformen der Dienerschaft. Vornehme Deutsche und Amerikaner waren im Frack gekommen, die Damen in hochgeschlossenen Seidenkleidern. Diese Exklusiven betrachteten das Gewühl von den Galerien herab, wo sie über schneeweiße Tischdecken und Beete von Kristallkelchen und goldumwickelten Flaschenhälsen hinwegsahen. Unten, auf einem der vordersten Stühle, sah man eine Spitzenkrinoline, aus der die schlanken Beine einer schönen Tänzerin in grasgrünen Seidenstrümpfen hervorglänzten. Zarte Gewänder umflossen die Leiber, dünn und schillernd blau wie Wasser; weißes Fleisch schimmerte in zarten Arabesken aus schwarzem, durchbrochenem Flor; Stöckelschuhe glänzten wie Goldbarren.

Karl suchte in diesem betäubenden Durcheinander Scappini. Endlich hörte er seinen Namen rufen. Der Italiener hockte mitten in einer Reihe von Likörtrinkern auf einem Schemel an dem in Weiß und Gold ausgeführten Schanktisch, beide Arme auf den spiegelnden Marmor gestützt, ein Kristallglas vor sich, das mit einer funkelnden, smaragdgrünen Flüssigkeit gefüllt war. Neben ihm saß ein stiernackiger und rothaariger Mensch, der dem Schanktisch den Rücken wandte und mit harten, blauen Augen in das Gewühl hineinsah. Scappini war im Smoking und sah von weitem vornehm aus. Sein gelblichbleicher Teint und die tiefliegenden Augen aber ließen sein Gesicht krank und abstoßend erscheinen. Der andere glich einem Arbeiter im Sonntagsanzug; er hatte das gesundeste und kräftigste Gesicht im ganzen Saale.

Scappini machte Karl mit dem Kameraden Walterre, Sekretär des Bundes der Elektrikervereine, bekannt. Walterre nahm von Karl kaum Notiz. Die beiden nahmen ihre Unterhaltung wieder auf. Bei dem Getöse, das ringsum herrschte, verstand Karl von ihr kaum ein Wort. Sie sprachen von Amiens. Karl wußte, daß dort gegenwärtig die Arbeiter des Nordkanals im Ausstand waren und gestern eine Baggermaschine in die Luft gesprengt hatten.

Im wogenden Gedränge des Saales gingen blau uniformierte Diener umher, die mit langen Rechen die unablässig von allen Seiten emporgeschleuderten und herabrieselnden Papierschlangen zusammenkehrten. Wie Schlinggewächse, die in einem üppigen Wachstum die Galerien immer dichter verkleideten, ja alles zu überwuchern drohten, zogen und wanden sich diese gelben, roten, grünen und blauen Fäden über die Köpfe und Schultern der Tanzenden hin, wickelten die Menschen in ein unlösbares Netz und häuften sich auf dem Parkett zu Bergen.

Der Tanzboden wurde frei gemacht. Ein Mechaniker bestieg sein Pult, das wie eine Kanzel hoch über der Mitte der Hauptgalerie angebracht war, und das er mittels einer eisernen Falltreppe erreichte. Der Mann öffnete jetzt den Verschluß des Scheinwerfers. Ein Balken milchweißen, blendenden, stark vibrierenden Lichtes prallte wie ein Sonnenstrahl auf den spiegelnden Tanzboden; dies Licht war so scharf, daß sich rings der von hunderten zitronen- und orangenfarbener Glühbirnen erleuchtete Saal wie eine goldene Dunkelheit abhob. Die Musikkapelle auf ihrer Estrade begann zu spielen. Es waren die hopsenden, vom breiten Baß der Bratschen zusammengehaltenen Geigentöne eines Marsches. Eine Truppe Tscherkessen stob in den Saal. Sie trugen rote Plüschröcke und grüne Seidenhosen und tanzten beim Rasseln der Tamburins und dem Klirren der silbernen Dolchgehänge, und ihre Kautschuksprünge, ihre wirbelnden Umdrehungen, bei denen sie schließlich wie Kreisel feststanden, erinnerten an den Wahnsinn der Derwische und erweckten auch in den Zuschauern eine verhaltene Raserei. Plötzlich begann das wilde Serpentinenwerfen von neuem. Die Truppe schoß in drei Sprüngen aus dem Saal. Ein Sturm des Beifalls forderte sie zurück. Sie erschienen noch einmal, von dem blendenden Strahl umbadet, der sich plötzlich wieder zurückzog. Die Tänzer strömten nun von allen Seiten auf das Parkett. Im Nu war der Ball in vollem Gange.

Karl stellte sich auf die Treppe, da sich Scappini und Walterre nicht um ihn kümmerten. Hier standen die Zuschauer dicht gedrängt und stritten sich förmlich um einen Fußbreit Platz auf den Stufen. Jedenfalls konnte man von da oben die Tanzenden am besten beobachten; die von der Direktion bezahlten Tänzerinnen tanzten im Trubel zu Paaren, und die Zuschauer äußerten ihre Meinung, wer am besten tanze. Federn, fliegende Bänder, wippende Seidenkokarden, ein Schaum von Spitzen umfloß die erhitzten Gesichter; als sich endlich mit dem letzten Takt der Musik das Durcheinander löste, schwebte eine große violette Kugel von der Decke herab, und alle Hände streckten sich ihr entgegen, die federleicht über den zu ihr emporgestreckten Fingerspitzen tanzte. Alle haschten nach dieser hüpfenden Kugel, die, von unten angestoßen, weiterschwebte und, als eine fest-zuschlagende Hand sie traf, zerplatzte. Dann erhob sich jedesmal ein großes Gelächter über die Enttäuschten. Von der Galerie herab ließen die Amerikanerinnen kleine Aeroplane durch die Luft fliegen; andere bliesen Gummibälle auf bis zum Zerspringen oder spielten auf kleinen Flöten, die heulende und schwirrende Töne hervorbrachten. Bei der Polka, die jetzt folgte, war die Musik feuerstrahlend ... die Bässe gaben Böllersalven. Karl sah, wie selbst Scappini sich in das Gewirr stürzte, eines der Mädchen um den Leib nahm und tanzte. Es war ein Rausch, ein Wirbel, ein unerhörtes Abenteuer.

Unwillkürlich ließ Karl die beiden Kameraden nicht aus dem Auge: den einen, der tanzte, und den andern, der unbeweglich mit seiner derben, etwas verächtlichen Miene in diesen Taumel hineinsah. Karl beobachtete, wie einer der Diener des Etablissements, der wie zufällig vorbeiging, Walterre etwas zuflüsterte. Dieser schüttelte den Kopf.

Es ging gegen Mitternacht. Der Ball wogte in vollen Akkorden. Die Diener schafften wie Landarbeiter, die das Heu mit Rechen emporheben: mitten im Gewühl rechten sie die Papierserpentinen zusammen, die sich wie ein Wasserfall auf die Tanzenden herabgossen. Abgerissene Papierfäden hingen von der Galerie herab wie Schlinggewächse und verwandelten sich in eine bunte Hecke, aus der die Lampen hervorglühten wie ein Spalier von Früchten. Neun Tänzerinnen betraten jetzt das Parkett. Ihre Lippen waren rot wie Lungenblut. Und von dem bläulichen, blendenden Sonnenstrahl beschienen, den der Apparat des Elektrikers wie ein übermenschliches Auge auf sie richtete, tanzten sie den Cancan. Die Anführerin schwang ihr aus einer riesigen Spitzenmanschette emporgestrecktes Bein wie einen grandiosen Taktstock. In immer neuem Rhythmus wogten die Strophen dieses übermütigen Tanzes der champagnerfarbenen, meergrünen, stahlblauen und rosaroten Frauen, und ihre Spitzen schäumten wie Champagner. Die Musiker unterbrachen ihr Spiel und sangen gewisse Stellen a cappella mit halbgedämpften, wohllautenden Stimmen. Den Schluß machten Purzelbäume; die Tänzerinnen glitten mit gespreizten Beinen zu Boden und bogen ihren Oberkörper rückwärts wie Schlangen mit glitzernden Schuppenhäuten. Selbst die Amerikanerinnen in der Höhe der Galerie, über deren Knien das Kleid in korrekten Falten herabfiel wie eine Tischdecke, lächelten vor Entzücken. Einige dieser Damen standen auf und belustigten sich damit, Serpentinen wie Lassos über die Diener im Saal hinunterzuwerfen. Überhäuft und ganz eingewickelt von diesen Streifen, befreiten sich die Leute, indem sie sie mit Händen und Zähnen zerrissen.

Unterdessen bereitete man im Hintergrunde des Saales den »Triumphzug der Aphrodite« vor. Zweistöckige Wagen, geschmückt mit Laubgewinden und den Symbolen von Sonne, Mond und Sternen, wurden in den Saal gefahren. Eine Schar von Frauen in fleischfarbenen Trikots kletterte hinauf. Kaum war der letzte Tanz zu Ende, so setzte sich der Zug in Bewegung. Fanfaren gingen voraus; Harlekins, weiß wie Kreide, zogen die Wagen; Herolde folgten, die auf ihren Schultern eine riesige Muschel trugen, das phantastische Lager der Aphrodite. Das Weib hielt seine Augen geschlossen, denn der grelle, breite Strahl des Scheinwerfers fiel gerade in ihr Gesicht, in ein dickes, blasses, dummes Menschengesicht von schwärzlicher Zeichnung ... Papierschlangen schossen von allen Seiten auf sie nieder, eine streichelnde Musik erklang. Der Zug bewegte sich durch die Mitte des Saales, als plötzlich alle elektrischen Lichter erloschen; nur der scharfe, irisierende Sonnenstrahl blieb übrig.

Was war das?

Der Strahl wanderte weiter, beschien in diesem Augenblick gespenstisch den Gipfel eines der beiden Triumphwagen, wo die Gestalt eines Weibes in schwarzen Trikots ein Sektglas emporhielt, beschien dies weiße Gesicht, das aus dem Dunkel wie ein Totenkopf hervorsah, und schwankte plötzlich, irrte suchend in dem verfinsterten Raum umher. Das Stimmengewirr verstummte wie unter einer Glocke: der Strahl richtete sich jetzt starr zur Decke. Man sah noch das schwarze Weib hastig vom Wagen heruntergleiten, man hörte ängstliche, unterdrückte Stimmen, dann wurde es völlig Nacht. Der Strahl stand von der eisernen Kanzel aus direkt in die Höhe. Millionen Lichtstäubchen schienen schräg emporzustreben, eine Stange von weißer, fließender Glut, die das schmutzig-graue Glasdach emporzustoßen drohte. Die Girlanden, die Flaggenreihen warfen lange, spitze Schatten. Nur das Glasdach schimmerte trübe; es schien, als wäre der Saal mit einem Schlage in einen riesigen Tümpel versunken.

Ein paar Augenblicke dauerte die unheimliche Stille. Plötzlich schrie eine grelle Stimme nach Licht. Sofort schrie man von allen Seiten. Es waren zornige Schreie, angsterfüllte, hysterische Rufe. Stühle fielen um, polterten über den Boden, es schien, als ob sich alle Stühle verschoben. Man drängte nach den Ausgängen. Tische wurden umgestoßen, Gläser fielen zu Boden, das Glas krachte unter den Tritten. Immer schriller wurden die Rufe nach Licht, es war, als brüllten Tiere. Dabei war der Raum keineswegs vollständig finster; die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und erkannten die Umrisse der Galerien und die wilde Bewegung des Menschengewimmels. Und in diesem Augenblick flogen, schwebten, flatterten, weich wie ein Schneefall und von der Hand eines unsichtbaren Sämanns geschleudert, unzählige Zettel auf die Köpfe nieder.

Was ging vor? Wieweit sollte der Unfug noch gehen?

Das Geschrei steigerte sich; alles drängte zum Hauptausgang. Aber dort stand man einer Mauer von Angestellten und Polizisten gegenüber, die sich vergeblich einen Weg in die Mitte des Saales zu bahnen suchten und die Drängenden nur einzeln hindurchließen. Eine Männerstimme, die alles übertönte, rief:

»Keine Gefahr!«

Aber dieser eine Ruf wurde verschluckt von neuen Schreien. Jemand hatte ein Streichholz angezündet; niederklatschende Hände schlugen das Flämmchen tot, die Angst vor der Feuersgefahr vergrößerte die Panik. Man schrie nach der Direktion, nach dem Elektriker: doch die Blicke, die sich auf die kleine, eiserne Kanzel richteten, fanden den Platz des Elektrikers verlassen. Man konnte nicht einmal an den Apparat, dessen funkelndes Lichtauge noch immer gespenstisch nach oben sah. Die Treppe war hochgezogen.

Im Augenblick, als die Panik auszubrechen schien, flammte eine Reihe der elektrischen Lichter wieder auf. In dem trüben Halbdunkel leuchteten diese wenigen Birnen wie die Nägel eines Stabes. Dies spärliche Licht gab allmählich der Menge die Besinnung zurück. Die Abstände, die aufgehoben schienen, als die Masse sich in erdrückender Kraft anstaute, stellten sich wieder her. Man sah, daß die Türen offen waren. Der zur Flucht gewandte Strom kam zum Stillstand, und nun, fast ohne Übergang, verwandelte das wiedergewonnene Gefühl der körperlichen Sicherheit die Angst der Menschen zu einer pöbelhaften Wut. Man zischte, pfiff, schrie nach dem Direktor. Damen bekamen Weinkrämpfe, als sie an ihren zerrissenen Kleidern hinuntersahen. Man hob eine der fleischfarbenen Frauen des Zuges ohnmächtig vom Boden auf. Die weißen Harlekins in der Menge, die Mädchen, die in ihren Trikots und ihren phantastischen Kostümen plötzlich wie ein lebendiger Plunder aussahen und sich ihrer kurzen, rundlichen Beine, ihrer verkommenen Gesichter schämten, rannten davon, denn man trat ihnen ohne allen Humor auf die unbekleideten Füße. Die Fremden auf der Galerie, die am längsten ihre Ruhe bewahrt hatten, verließen jetzt in Gruppen den halbhellen Raum, blaß, doch bemüht, Haltung zu zeigen.

Jetzt erst achtete man auf die Zettel, die in einem Augenblick auf die Köpfe herabgeflattert waren und den Boden bedeckten: es waren die Flugzettel, grobe Flugzettel aus der Rue Ephraim Caen mit der Zeichnung einer Bombe, die die Aufschrift trug: Morgen!

Man hob die Zettel auf, man ließ sie wieder fallen, man fragte gar nicht, wer sie geworfen hatte. Man hatte begriffen, daß man nicht das Opfer eines einfachen Versagens der elektrischen Lichter gewesen war. Es war ein gewollter Unfall, ein Attentat. Jedermann sah ein, daß es am besten war, den Platz zu räumen. Die Fremden entfernten sich kleinlaut; den wenigsten von ihnen dämmerte ein Zusammenhang dieses aufregenden Erlebnisses mit den politischen Ereignissen der letzten Tage. Viele mochten in den Zeitungen von den Drohungen der Revolutionäre gelesen haben, aber kaum anders, als ob es sich um einen Roman handele, der in einem fremden Jahrhundert spielte. Da spürte man plötzlich den unsichtbaren Mann an der Maschine. Es war, als sei ein Schuß über die Köpfe hinweggegangen. Man fühlte sich wehrlos wie gegen einen Erpresser.

Noch immer schrien einige Leute nach dem Direktor. Kellner liefen umher, fast von Sinnen, und beschimpften Gäste, die sich weigerten, zu bezahlen. Man rief: »Hell machen!«

Ein dicker Mann im Frack redete jetzt vom Pult des Kapellmeisters herab mit heiserer, vor Erregung zitternder Stimme. Die Menge brach in ein Gejohle aus, als er sich Gehör zu verschaffen suchte. Seine Haare standen zur Seite, als habe er mit beiden Händen daran gerissen, seine Kinnbacken schnappten nach Luft. Endlich verstand man ihn: Die Sicherheit der Gäste sei nicht gefährdet. Die Elektriker hätten alle Leitungen unbrauchbar gemacht bis auf eine und die Arbeit verlassen. Es handelte sich um einen neuen Tarifvertrag und um den Pensionsfonds. Man hatte ihren Forderungen, die sie am Abend während der Arbeit gestellt hatten, nicht nachgeben können.

»Nieder mit den Elektrikern!« rief eine Stimme. Aber keine zweite nahm den Ruf auf. Eine andere Stimme schrie dem Direktor zu, er solle das Eintrittsgeld zurückzahlen.

Nur wenige Leute hörten die Erklärung des Direktors bis zum Ende an. Polizisten und Feuerwehrmänner waren eingetroffen und besetzten das Haus. Sie machten kurzen Prozeß und wiesen auch die letzten Anwesenden aus dem Saal. Ein Feuerwehrmann kletterte zur Kanzel hinauf und stellte den Scheinwerfer ab, dessen Strahl noch immer aufwärts gerichtet war, irr und starr wie das Auge eines Paralytikers. Draußen drängte man sich vor der Garderobe. Die Portiers und die Garderobefrauen taten ihren Dienst mit ihrem höflichen Lächeln, als ob nichts vorgefallen wäre.

 

Karl wußte, daß es zwecklos sein würde, nach Scappini und Walterre zu suchen. Es konnte ihm höchstens passieren, daß man ihn als einen der Anstifter festnahm, denn vielleicht hatte man beobachtet, daß er noch kurz vor dem »Anschlag« mit ihnen gesprochen hatte. Aber es geschah ihm nichts. Unangefochten verließ er den wüsten und trüben Saal. Durch eine Menge von Gesindel, halbwüchsige Burschen und Grisetten, die sich auf der Straße angesammelt hatten und Drohungen ausstießen, während die Automobile und Wagen die graue Mauer der Menge durchbrachen, bahnte er sich seinen Weg und marschierte durch die dunkeln Straßen nach Hause.

Er hatte anderthalb Stunden zu gehen. Unterwegs begegnete ihm noch etwas Seltsames. In einer der Gassen, durch die er einsam hinschritt, hörte er plötzlich aus dem tiefen Schatten eines Hauses ein langgezogenes Geheul. Es war das lange, klagende Bellen eines Hundes, das zuweilen lauschend innehielt; und in diesen Pausen antworteten die Stimmen anderer Köter da und dort aus dem Innern der Wohnungen.

Karl ging an diesem tiefen Schatten vorbei, aus dem das Gebell herkam. Aber er sah keinen Hund. Ein Mensch stand hier und schrieb etwas in ein Notizbuch. Und heulte dann wieder wie ein Hund, in langgezogenen klagenden Tönen.


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