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Fünftes Kapitel

Aus Sparsamkeit frühstückte Karl nicht im Hotel. Berta hatte ihm bei ihrem Spaziergang an der Mosel erzählt, daß sie gewohnt war, in einer der Milchhandlungen in der Nachbarschaft des Hotels zu frühstücken. Er war schon gestern nach einem dieser weißen Läden auf der Suche gewesen und hatte schließlich, da er keinen fand, mit einem kleinen Restaurant gegenüber der Kirche von Saint-Germain des Près vorliebgenommen, wo Metzger und Gemüsehändler auf ihren Morgengängen einkehrten, um ein Glas Wein zu trinken. Dort an dem schmalen, mit Zinn belegten Schenktisch erhielt man ein Glas Milchkaffee für 10 Centimes und verzehrte dazu ein paar Hörnchen aus dem Brotkorb. Diese Portion war so klein, daß es sich gar nicht erst lohnte, an den runden Tischen Platz zu nehmen, die in dem kalten, mit Terrakotten belegten Raum hinter den Türen standen. Man nahm diese Kleinigkeit im Stehen zu sich. Auf dem Nachhauseweg kaufte sich Karl ein kleines Weißbrot und eine Büchse Sardinen, um damit später das bescheidene Frühstück zu ergänzen. Auch die Grisetten aus der Nachbarschaft der Kunstschule, die kleinen Näherinnen und Modelle besorgten um diese Stunde ihre Morgeneinkäufe. Sie waren noch in ziemlich primitiver Toilette; die meisten machten ihre Einkäufe für zwei. Er empfand glücklich die Ungeniertheit seines Lebens in der erwachenden großen Stadt, die sich so gar nicht um ihn kümmerte. An dem Zeitungsstand vor der Kirche kaufte er die neueste Nummer des »Matin« und kehrte dann auf dem Umweg über die Rue Bonaparte, deren hübsche Antiquitätenhandlungen ihm gefielen, mit Behagen in sein Zimmer zurück.

Die Erlebnisse der Nacht kehrten wieder in einer ruhevollen Träumerei und lösten durch eine seltsame Gedankenverbindung die Erinnerung an einen frischen Morgen vor fünf oder sechs Jahren, da sich die »Finland«, auf der Höhe von Nantucket, der amerikanischen Küste näherte: In der schweren Nebelluft bei Tagesanbruch hing der Rauch des Schiffes unaufgelöst am Himmel, und der Schatten des Rauches glänzte schwarz im Meere. Dieser Rauch glich einer ungeheuren verdauenden Schlange, die sich zwischen Meer und Himmel wälzte. Der Himmel und das Meer waren glatt wie Steinplatten. Die breite, silberglänzende Kiellinie zog sich über den gewaltigen Rücken des Wassers wie eine einzige ölige Narbe.

Es war ein sonniger Morgen, wie gestern auch. In dem großen, halbdunklen und etwas verwohnten Zimmer mit dem Kamin, dem Alkoven, dem runden Tisch – seiner Behausung, die er auf eine Woche gemietet hatte – machte er es sich bequem. In einer Stunde würde er wieder ausgehen, die spätere Hälfte des Vormittags in den Hallen verbringen und den Nachmittag dann in einem der Museen.

Das Fenster seines Zimmers, das zum Hofe hin lag, reichte fast bis zum Boden und erhielt durch ein paar dunkelrote Portieren, die allerdings ein wenig nach Moder rochen, etwas Großartiges. Er rückte den Tisch und den Sessel ans Fenster, so daß er fast wie am Rande eines Balkons in den Hof hinaussehen konnte. Wie ein Schirm beschattete ihn hier der dünn belaubte, durchsichtig grüne Wipfel eines hageren Baumes, den die Mauer des benachbarten Gartens nicht hinderte, sich weit in den Hof hineinzubiegen. Durch das offene Fenster sah Karl in das blendende Grau des Pariser Herbstmorgens hinauf. Der Hof ließ diesem Himmel nur einen kleinen Ausschnitt offen. Gegenüber sah man die vergitterten Fenster des Nachbarhauses. Hinter einem dieser Gitter war eine dicke Frau andächtig damit beschäftigt, ein paar Männerhosen zu bügeln. Vor dem andern Fenster stand ein Porzellankrug mit gelben Astern und eine Glaswanne mit Goldfischen. Mächtige Salathäupter lagen vor dem nächsten. Und fast vor jedem Fenster hing ein Drahtbauer mit einem feisten, sich putzenden Kanarienvogel. Wie heiter war das alles. Man konnte einen ganzen Tag an diesem Fenster sitzen, ohne sich zu langweilen. Karl dachte an Berlin, in dessen Hinterhöfen stets ein ätzender Geruch von Rauch und nassen Steinen liegt, und an den von schmerzhaft grellem Sonnenschein gefüllten Hof des Hospitals in Beirut. Dies war entschieden der beste aller Hinterhöfe.

Er vertiefte sich nun in die Zeitung, die bisher seinem Frühstück als Teller gedient hatte. Um seine Sprachkenntnisse aufzufrischen, las er die erste, mit schwarz gewordenem Öl aus der Sardinenbüchse beträufelte Seite Wort für Wort: L'empereur du Sahara parle aux Peuples. Dann ein pikantes Durcheinander von kleinen Aufsätzen und Miszellen, Telegrammen aus Port Said, Washington und Tokio. Zwischendrein war zu lesen, daß man in Essen Versuche mit Torpedos für Luftfahrzeuge mache. In den Spalten der Zeitung gab man sich recht viel mit den Deutschen ab. An anderer Stelle fand sich eine Notiz über die Grubenkonzession der Mannesmanns in Marokko und dann über die deutschen Schulen in Brasilien. Der Roman unterm Strich führte den Titel: » Les Hommes de l'Air.« Allerhand komisch erfundene deutsche Namen gab es da; das Ganze war die etwas albern erzählte Geschichte einer deutsch-französischen Spionage. Karl schlug die Seite um. Eine neue Rubrik: » A Travers Paris.« Es waren drei kleine Aufsätze mit besonderen Titeln: Der Hundetöter. – Louise hat Temperament. – Das Drama von der Chaussee d'Antin. Karl las das Folgende:

Der Hundetöter

Bei der Kundgebung, die gestern von einer Bande unreifer Burschen vor der spanischen Botschaft veranstaltet wurde, gelang es diesmal der Polizei, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Zahl der Demonstranten war so gering, daß die Garden den Boulevard de Courcelles zu Spazierritten benutzten. Die Dampfbahn verkehrte ungehindert. Als gegen 10 Uhr der angekündigte riesige Zug der Demonstranten von der Place Clichy her immer noch nicht erschien, machte sich die Polizei selbst etwas Bewegung, indem sie die Absperrung nach rechts und links um einige Häuserblocks ausdehnte. Der Mob zeigte dabei vor den Hunden, die die Polizei zum ersten Male aus dem Boulevard zu verwenden genötigt war, den größten Respekt. Im übrigen fahren diese Demonstranten fort, an allerlei kleinen Vorfällen ihre Gefährlichkeit und ihre Lächerlichkeit zu beweisen. Auf dem Boulevard de Batignolles wurden wieder einige Bänke umgeworfen und ein Kandelaber zerstört. Ein anderer Zwischenfall ereignete sich auf dem Boulevard de Courcelles in der Nähe der Rue Roussel. Einer der Polizeihunde wurde aus der Menge heraus durch einen Revolverschuß getötet. Es wurden Verhaftungen vorgenommen.

Karl lachte laut heraus, um im nächsten Augenblick erschreckt einzuhalten. Kopfschüttelnd stand er da. Hier hatte er das öffentliche Urteil über sein Abenteuer von gestern abend! Es war ja ein Wunder, ein unerhörtes Glück, daß er unerkannt davongekommen war. Wie, wenn er unter den Verhafteten gewesen wäre, mit dem Browning in der Hand? Wenn man dann ihn, den Ausländer, vor Gericht gestellt hätte? Ob wohl gar die Polizei noch jetzt seine Spur verfolgte? Wenn im nächsten Augenblick ein Polizist in sein Zimmer träte? – Aber dieser Gedanke war so absurd, daß Karl unwillkürlich gegen sich selbst eine hochmütige Miene annahm. Im übrigen ernüchterte ihn die verächtliche Art, mit der diese Zeitung die Kundgebungen abtat. Freilich, was wußte er auch von der wirklichen Stimmung in Paris? Was war die Kundgebung des gestrigen Abends eigentlich Besseres gewesen als eine Zusammenrottung von Neugierigen und Vagabunden? Von einer ernsthaften politischen Kundgebung für Ferrer hatte er nichts gesehen; allerdings hatte die Polizei ihm und den anderen den Weg zum Mittelpunkt der Veranstaltung abgeschnitten. Es war keine angenehme Erinnerung: wie ihn plötzlich ein Dutzend Hände an den Schultern, im Nacken, an den Ellenbogen faßten und ihn durch die Menge drückten, wie durch einen Schlund, der ihn herunterwürgen wollte und ihn plötzlich ausspie.

Auch dieses Wunder schien sich aufzuklären. Es war einfach eine Verwechslung vorgekommen. Nur die Gewalt seines eigenen Herausstrebens war es gewesen, die ihn zwischen seiner wahnsinnigen Anstrengung, die Menge rückwärts zu durchstoßen, und der Hilfe, die ihm die anderen dabei leisteten, nicht mehr unterscheiden ließ. Dadurch war es aber auch so gekommen, daß die Polizei statt seiner einen oder gar mehrere Unschuldige verhaftet hatte.

Er las die letzten Sätze der Notiz noch einmal. Es war nicht ganz klar, ob die Menschen wegen des erschossenen Hundes verhaftet worden waren. Immerhin, der Zusammenhang machte es wahrscheinlich. Die junge Dame mit ihrem Vater fiel ihm ein und jener alte Herr mit den weißen Locken. Sie hatten in seiner nächsten Nähe gestanden. Die Polizei mußte sich an die Nächststehenden halten. Der Gedanke, daß die junge Dame, mit der er kurz vorher, als er neben ihr in der fliehenden Menge jene Seitenstraße überschritten, ein paar Worte gewechselt hatte, sich mit aller Wahrscheinlichkeit unter den Verhafteten befinde, war sehr unbehaglich. Ihre Neugier war so harmlos gewesen; jetzt saß sie womöglich im Untersuchungsgefängnis. Sie mochte in Gottes Namen beweisen, daß nicht sie oder ihr Begleiter das Tier getötet haben könne, aber die Polizei brauchte das nicht weiter zu untersuchen; sie war verdächtig.

Karl ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Ein Gefühl von Verantwortung drückte ihn; er sah sich von diesem Gefühl wie gefangen; es erschien ihm leichter, selbst hinter Schloß und Riegel einer gerechten Untersuchung zu harren, als sich auf Kosten anderer den Folgen seiner Tat entzogen zu haben. Irgendeine Buße mochte er verdient haben, zum Beispiel drei Tage Stubenarrest in diesem Zimmer bei Weißbrot und Ölsardinen. Es wäre eine Strafe gewesen, doch keine allzu schwere. Und er stellte sich vor, wie er es wohl angefangen haben würde, sich mit der alten Frau und den Dienstboten hinter den vergitterten Fenstern auf der andern Seite des Hofes, seinen Mitgefangenen, durch Zeichen über seine traurige Lage zu verständigen.

Doch die Selbstironie räumte sein Unbehagen nicht ganz hinweg.

Der Hausbursche klopfte an und fragte, ob Monsieur zu Hause bliebe, er wolle das Zimmer aufräumen.

Karl ging aus.

 

Das Seineufer war kaum zwei Minuten entfernt. Er bummelte unschlüssig an den Bücherauslagen des Quai Malaquais entlang. An der Ecke der Carousselbrücke war wieder ein Zeitungsstand, und es kam ihm der Gedanke, daß wohl die anderen Zeitungen Näheres über die Ereignisse des gestrigen Abends bringen würden. Dann konnte man weiter sehen.

Er kaufte L'Intransigeant, das Petit Journal und L'Humanité.

L'Intransigeant brachte über die Vorgänge kein Wort. Karl durchsuchte alle Spalten, erst am Ende merkte er, daß man ihm eine Nummer von gestern verkauft hatte. Natürlich. Das Blatt erschien erst mittags. Er warf das Exemplar in die Gosse.

Er faltete das Petit Journal auseinander. Aha! Schon die erste Seite war mit einem vier Spalten langen Bericht angefüllt. Der starke Wind hier am Seinekai schüttete Staub auf ihn hernieder und schlug ihm fast das Blatt aus der Hand. Mit Mühe überflog er die Überschriften: Das beunruhigte Paris. Fortsetzung der ernsten Demonstrationen vor der spanischen Botschaft. Großes Aufgebot der Polizei. – Militärische Verstärkungen. – Die Kundgebung auf der Place Clichy. – Turbulente Szenen auf dem Boulevard des Batignolles. – Öffentliche Verbrennung einer spanischen Fahne. – Zusammenstöße mit der bewaffneten Macht. – Mahnung zur Ruhe.

Das alles wollte er bequemer drüben auf einer Bank des Tuileriengartens lesen. Er stopfte das Blatt in die Tasche, doch noch indem er hastig über die Brücke ging, warf er einen Blick in die dritte Zeitung, die er unter den Arm geklemmt trug. Das Papier knatterte im Winde, er mußte es förmlich zwischen seinen Fäusten ausspannen. Schon die Titelseite warf ihm einen vollen Akkord entgegen: Spalten, Satzgebilde von verschiedenem Druck, die der ganzen Seite ein ungewöhnliches aufgeregtes Aussehen gaben. Lange, umständliche Überschriften, jede ein Extrakt des Inhaltes, standen steil und schwarz wie Flammen auf den vom gleichmäßigen Grau der kleinen Lettern gebildeten Postamenten. An erster Stelle ein Aufruf: An das Volk von Paris. Und weiter: Eilt euch. – Gegen die Henker der Freiheit. – Rundfrage über die Revolverschüsse. – Die Polizei lügt. – Die Kugel, die den Polizisten Dufay getötet hat, ist nicht von einem der Verhafteten abgeschossen worden. – Die Kundgebung von gestern abend. Ernster und imposanter Eindruck. – Vorbereitung für eine neue Demonstration. – An alle unsere Freunde. – Ständiges Anwachsen der Bewegung. – Die Hunde.

Die Hunde! Mit zitternden Händen suchte Karl nach diesem Abschnitt. Aber es war unmöglich, hier im Winde auf der Brücke in der Zeitung zu blättern. Der schwarze, übelriechende Rauch eines Dampfers umwallte ihn plötzlich von Kopf zu Füßen wie ein Schleier. Fußgänger stießen ihn an. Die Brücke zitterte vom Gewicht eines Autobusses. Das Peitschen der Fuhrleute durchschnitt die Luft wie Flintenschüsse. Im Laufschritt eilte Karl ans Ufer hinüber durch das Tor des Louvre und in den Tuileriengarten. Am ersten Rondell setzte er sich auf die Bank und suchte gierig den Aufsatz: Die Hunde. Es war nur eine kurze Notiz. Sie lautete:

Es mag hingehen, daß sich die Wächter der Sicherheit bei der Verfolgung und der Festnahme von Verbrechern von dressierten Hunden helfen lassen.

Aber daß die Flics, auf höheren Befehl jedenfalls, ihre Hunde jetzt auch gegen Manifestanten und harmlose Neugierige ins Feld führen, kann unter keinen Umständen ruhig hingenommen werden.

Gegen den Polizeihund, dieses niedrigste aller Hilfsmittel, deren sich die Polizei neuerdings zu bedienen beliebt, gibt es nur eine einzige Waffe für den freien Mann: den Revolver.

Wir beglückwünschen den entschlossenen und furchtlosen Bürger, der bei der Kundgebung am gestrigen Abend eine dieser Bestien, die man auf die Menge losgelassen hatte, niederknallte und damit eine Panik verhütete. Dieses ausgezeichnete Beispiel wird Nachahmung finden.

Da war kein Irrtum möglich, das ging ihn an. Es war Karl in diesem Augenblick, als sähe ihn die ganze Stadt. Das Blut kreiste in ihm mit einer einzigen großen, freudigen Welle. Tausende mochten in diesem Augenblick diese Zeilen lesen, ihm allein teilten sie einen solchen Stolz und eine solche Erregung mit.

Die Blicke der Vorübergehenden weckten ihn, denn er lehnte da auf der Bank mit einem lächelnden Ausdruck, den Hut zurückgeschoben, die Zeitung in der Hand, die weit offenen Augen auf eine der Marmorstatuen gerichtet, die mit verschämter Gebärde sich dem herbstlichen Gebüsch zuwandte. Er nahm wieder die nachlässige Haltung eines Menschen an, der in seine Zeitung vertieft ist und sich von der Vormittagssonne wärmen läßt.

 

Zum erstenmal gewann Karl aus dem führenden sozialistischen Blatte den Eindruck einer in starke Gruppen gegliederten und disziplinierten Bewegung. Der Aufruf, der zugleich eine neue, noch gewaltigere Demonstration vor der Botschaft ankündigte, erhielt durch die Namen der Syndikate, Sektionen und Vereine, die ihn gemeinsam unterzeichneten, einen offiziellen Anstrich. Man beabsichtigte eine neue Entrüstungskundgebung, die die gesamte Arbeiterschaft von Paris, die ganze Bevölkerung zusammenfassen, doch einen durchaus friedlichen Charakter tragen sollte.

Gewissermaßen Wand an Wand mit dem Aufsatz über den Hund stand eine Beschreibung der Grablegung des erschossenen Ferrer. Die gräßlichen Wunden, die Flecken auf den Leintüchern, die den Leichnam verhüllten, waren mit der Deutlichkeit eines alten Märtyrerbildes beschrieben.

Im übrigen enthielt das Blatt sehr wenig Einzelheiten über die Kundgebung des gestrigen Abends; es wurde nur gesagt, daß sich die Polizei wie eine Herde Banditen benommen habe.

Um so ausführlicher war die Beschreibung des Abends im Petit Journal. Dieses Blatt, dessen Lektüre Karl jetzt wieder aufnahm, suchte seine fünf Millionen Leser durch die langatmige Breite der Beschreibung zu befriedigen. Erst in diesem, mit pedantischer Treue gesammelten Mosaik, dem Werk von einem Dutzend Reporter, die überall und nirgend dabei gewesen zu sein schienen, war die erregte, spielende, von Urinstinkten immer stärker erfaßte Menschenflut wiederzuerkennen. Der Trumpf dieser Berichterstattung war eine mit Blitzlicht an der Straßenkreuzung des Boulevard de Courcelles und der Rue de Rome gemachte Aufnahme. Sie zeigte die Menge in einem Augenblick, wo sie vor einer der Attacken rückwärts staute. Die Gesichter offenbarten selbst im groben Netz des Zeitungsklischees einen Ausdruck des krassen Entsetzens; es war, als hätten alle die leichenhafte Blässe der Magnesiumflamme.

Karl stand auf und setzte seinen Spaziergang fort.

 

Als er endlich auf seiner nachdenklichen Wanderung zu den Hallen gelangte, war es ein Uhr vorüber. Man hatte die Gitter bereits geschlossen. Wie in ungeheuren Käfigen sah man jetzt die Stände der Metzger, die nassen, mit Schuppen und Austernschalen bedeckten, nach Seesalz riechenden Bänke der Fischhändler. Berge von Gemüsen standen in der Durchfahrt. Nur einige letzte Reihen waren noch offen. Die Obstfrauen saßen auf ihren bretternen Thronen, das Töpfchen mit dem Mittagessen auf dem Schoß, und riefen ihn an. Er verzehrte ein paar Bananen im Weitergehen. Die Käsehandlungen mit ihren schleimigen Massen aneinandergepreßter oder in Form von Stangen, Kugeln und Torten aufgestellter Käse kamen ihm widerlicher vor als alles, was man dergleichen im Orient zu sehen bekommt. Dieser Geruch, scharf wie die Ausdünstung tierischer Absonderungen, nahm ihm fast den Atem. Runde Käse, grau und schwer wie Mühlsteine, wurden von Männern zu Stapeln angehäuft und in die Keller hinuntergeschafft. Lastträger in blauen Blusen und weißen, bis auf die Schultern herabfallenden Lederhüten schwankten vorüber, mit Kisten beladen. Ein Heer von Leuten war damit beschäftigt, den Kehricht wegzuräumen, der das Trottoir der Halle wie der Unrat eines riesigen Stalles bedeckte. Frauen sammelten aus dem Stroh die Splitter der Eierkisten; Karren, bespannt mit drei hintereinandergehenden Pferden, rumpelten einher, mit Kehricht beladen.

Karl trat in eines der von Marktleuten besuchten Restaurants der Halle und bestellte ein Dutzend billige Austern. Dann aber verlockte ihn der leckere Geruch frisch gebratener Makrelen, ein ganzes Dejeuner zu nehmen, zu dem eine halbe Flasche Rotwein gehörte. Er hatte sich in seiner Studentenzeit daran gewöhnt, die Genüsse des Gaumens aszetisch zu verachten. Zweimal in der Woche aß er zu Hause Reis, den er sich selbst nach türkischer Art über der Spiritusflamme kochte. Diesen gebratenen Fischen konnte er nicht widerstehen.

Als er wieder auf die Straße trat, war er in einer sehr guten Stimmung. Das Restaurant war nahe dem Boulevard de Sebastopol. Er geriet fast sofort in das flutende Treiben. Eilige Menschen erschienen ihm in diesem allgemeinen Strom wie weit ausgreifende Schwimmer. Und gerade jetzt schollen im Straßengeratter von allen Seiten wieder die heiseren Rufe der Camelots, die aalglatt durch die Menge drangen. Wie gestern brüllten sie: » La Bataille socia...a...ale! Edition spéciale! Les manifestations!«

Karl faßte einen der rennenden Burschen am Ärmel; der Kauf dauerte nicht zwei Sekunden. Der Bursche streckte das Blatt hin und befühlte den Sou in seiner schmutzigen Hand, während er zugleich wie ein Raubvogel über die Straße hinweg sah und seine rauhe Stimme auf der letzten Silbe des Ausrufes verweilen ließ; mit einem Satz sprang er dann einem Kunden nach, der im Gedränge zu verschwinden drohte.

In Riesenbuchstaben trug heute das Blatt die Überschrift: »An die Revolutionäre von Paris!«

Es war ein Aufruf des Organisationskomitees zu einer neuen Kundgebung. Die Worte des Aufrufs waren kurz. Straßenverzeichnisse und Namen standen darunter, maßlos Wort auf Wort gehäuft, wie der Versuch eines Gemäldes der ganzen großen Stadt, ihrer Straßen, ihrer Menschen und ihrer Aufregung.

Das Extrablatt hatte nur zwei Seiten. Erst die zweite sprach von der gewesenen Kundgebung:

Die Kundgebungen von gestern Abend waren ein Erfolg, aber sie genügen nicht. Sie müssen mit zehnfacher Stärke wiederholt werden.

Das spanische Volk kann mehr von uns erwarten.

Paris bleibt für die ganze Welt die Stadt der Revolution, der Hoffnung und der Zukunft.

Unser Aufruf hat gestern 20 000 Manifestanten auf die Beine gebracht.

Eine improvisierte Kundgebung von Zwanzigtausend!

Trotz alledem! Das ist noch zu wenig!

Zehntausende haben Ort und Stunde der Zusammenkunft zu spät erfahren. Auch sie wollen noch ihrem Herzen Luft machen, ihr Gewissen befreien, indem sie ihre schwarze Menge vor den Fenstern des Botschafters zeigen.

Eine Million Menschen muß zusammentreten! Denn es gilt, zweihundert Gefangene der spanischen Regierung zu befreien, die verloren sind, wenn nicht das »Halt« der ganzen Welt sie in letzter Stunde aus den Klauen der Priester, vor dem Bleihagel des Peletons errettet.

Die folgenden Artikel enthielten die ausführlichen Angaben von Augenzeugen über ein paar Leute, die durch Säbelhiebe der Polizei verwundet waren. Der nächste war überschrieben:

Ein neuer Kniff der Polizei

In derselben Minute, als man das Publikum auf dem Boulevard des Batignolles mit Säbelhieben traktierte, passierte ein schlimmer Vorfall an der Ecke der Rue Roussel. Dort bediente sich die Polizei ihrer neuesten Helfer gegen die friedlichen Manifestanten: der Polizeihunde. In der Menge, die da zusammengetrieben worden war, ohne daß man ihr eine Möglichkeit gelassen hatte, sich nach vorwärts oder rückwärts zu bewegen, befand sich unser Kamerad Aristide Milloups, der Poet von Montmartre. Die Polizei schien sich den Greis besonders gemerkt zu haben; sie ließ eine der Bestien an seine Kehle springen.

Da geschah, was in diesem Augenblick notwendig war: ein Revolverschuß, aus unmittelbarer Nähe abgegeben, streckte den Hund nieder.

Kamerad Milloups versichert uns, daß der tapfere und kaltblütige junge Mann, dem er seine Rettung verdankt, unentdeckt in der Menge verschwand. Um so größer ist die Entrüstung, daß die Polizei, ohne sich darum zu kümmern, links und rechts in die Menge einhieb und ein halbes Dutzend Unschuldige fortschleppte, darunter eine Frau.

Die Verhafteten sind friedliche Manifestanten. Es ist uns gelungen, ihre Namen in Erfahrung zu bringen: Lachaine, Cerver, Maréchal, Voc, Remy und Mademoiselle Remy.

Wir verlangen die sofortige Entlassung dieser Opfer einer willkürlichen Justiz.

Karl hatte sich über das Schicksal der Verhafteten schon fast mit seiner Ungewißheit getröstet. Diese Einzelheiten ergänzten aber mit aller Bestimmtheit die unvollkommenen Angaben des »Matin«. Sie ließen keinen Zweifel darüber, daß seine Befürchtungen begründet waren. Was sollte er tun? Seinetwegen waren sechs Menschen unschuldig verhaftet worden. Wenn er sich meldete, mußte man sie freilassen. Auch die junge Dame, die er von dem Hunde befreit hatte, war verhaftet. Hatte er ihr mit seiner Ritterlichkeit einen so schlechten Dienst erwiesen, so mußte es einen Weg geben, um das wieder gutzumachen. Das einzige, was er nicht begriff, war, daß der Berichterstatter, der doch sein Entweichen bemerkt hatte, also unmittelbar neben oder hinter ihm gestanden haben mußte, sich in der von dem Hunde bedrohten Person derart irrte. Darin mochte irgendeine Absicht liegen. Kamerad Milloups war sicherlich jener Alte, den Karl immer wieder an der Spitze der Menge gesehen hatte, zuletzt, im kritischen Augenblick, in seiner unmittelbaren Nähe.

Aber wo befanden sich die Verhafteten überhaupt? Und wenn sich Karl nun zur Polizeipräfektur begab, wie würde er dort beweisen können, daß er der Schuldige war, der einzige, der zur Verantwortung gezogen werden durfte? Angenommen, daß man seiner Darstellung glaubte: würde das genügen, damit man die anderen unverzüglich freiließ? Und wenn man dafür ihn in Haft behielt: was dann?

Aber er schüttelte all die Einwände von sich ab und sah sich nach einem Polizisten um, um nach dem Wege zur Polizeipräfektur zu fragen. Er ging die Straße hinauf, einer der großen Kreuzungen zu, wo immer Polizisten stehen. Da kam ihm ein anderer Einfall, der doch wohl klüger war. Er konnte sich zunächst einmal an die Redaktion der »Bataille sociale« wenden; dort war man über den Vorfall unterrichtet, man würde ihm sicherlich weiterhelfen. Und wie ein Strahl durchfuhr es ihn, daß sich da plötzlich eine Gelegenheit biete, Fraconnard zu sehen. Fraconnard, diesen gewaltigsten der Kapitäne, die durch die Neuheit und die Gewalt ihrer Worte die mit Groll und Haß geladene Zeit einer Krise entgegenführten. Karls Gewissen sträubte sich noch gegen den Umweg. Sein Schritt wurde zögernd. Er blieb stehen und überlegte. Es war nur ein kleiner Umweg, bei dem höchstens eine Stunde Zeit verlorengehen konnte. Vielleicht führte ihn dieser Umweg am raschesten zum Ziele. Und diese eine Stunde enthielt für ihn die Möglichkeit, mit einem einzigen Blick in das Angesicht Fraconnards tiefer in die rätselhaften Abgründe der unheimlichen Bewegung einzudringen, die Paris in Atem hielt, als durch ein wochenlanges Zeitunglesen und durch das Mitlaufen bei nächtlichen Demonstrationen. Es zog ihn gewaltig, diesen ungewöhnlichen Mann zu sehen, der sich mit seinem Namen als Gelehrter nicht genug tat, sondern mit der Furchtlosigkeit und Leidenschaftlichkeit eines Fanatikers in den Kampf hinabstieg, dessen stärkste Waffen er selber geschmiedet hatte.

Die Adresse der Redaktion war auf dem Zeitungsblatt angegeben: 18, Rue Ephraim Caen.

Am Rande des Trottoirs stehend, suchte er diese Straße auf seinem Stadtplan, aber er fand sie nicht.

Ein Polizist ging vorüber. Karl ging ihm nach und fragte nach der Rue Ephraim Caen. Der Polizist blätterte in seinem Taschenbuch und antwortete kurz: »Erste Straße rechts, dritte links, zwischen Rue Réaumur und Victoire.«

Karl schritt eilig und seines Zieles bewußt über die belebte Straße hinauf. Er fand die Rue Ephraim Caen nach wenigen Minuten. Sie lag mitten in der Altstadt und war eine der kurzen Zwischenstraßen, die andere alte Straßen miteinander verbinden und langgestreckten Höfen gleichen. Vor einem kellerähnlichen Lokal an der Ecke umringten armselige Gestalten den kleinen Bratofen eines Mannes, der Kartoffelschnitz verkaufte, die Tüte dieser gelben, über die ganze Straße nach schlechtem Öl riechenden Späne für einen Sou. In der engen Straße, der die Häuser ihre häßlichste Seite zuzukehren schienen, und die nur durch die Lücke eines Bauplatzes in der Mitte mehr Licht erhielt, reihten sich die Kontore von Lederlagern und Weinhandlungen. Lastwagen standen in den Torfahrten. Hausknechte schleppten Ballen, Kisten und Fässer über das schmutzige Trottoir.

An der Tür des Hauses Nummer 18 war das trübe Messingschild der Druckerei befestigt. Die Redaktion befand sich im zweiten Stock.

 

Karl stieg eine schmale, aus Beton gebaute und mit einem eisernen Geländer versehene Treppe hinauf. Die eiserne Tür im ersten Stock, schwer wie die Tür eines Kassenschrankes, stand angelehnt. Man hörte das häkelnde, von Klingelzeichen unterbrochene Klappern einer Setzmaschine und das glatte, stoßweise Rollen der Druckpressen, die das Haus von unten her durchrüttelten wie eine Schiffsschraube. Im zweiten Stock knallte eine Tür und wurde sorgfältig abgeschlossen. Zwei Personen kamen herab und begegneten Karl auf dem Treppenabsatz. Sofort erkannte Karl in dem einen der beiden Männer den alten Herrn von gestern abend, dessen Namen er ja schon wußte: Aristide Milloups, Poet von Montmartre.

Der Alte sah im Tageslicht rundlicher aus und hatte ein breites, zum Lachen aufgelegtes Gesicht mit einer rötlichen, dicken Nase. Die weißen Locken hingen ihm wirr über den Kragen.

Auch Monsieur Milloups erkannte Karl ohne weiteres. » Tiens!« schrie er erstaunt und ließ den Arm seines Begleiters los: »Was sagst du dazu, Bénoit! Mein junger Freund von gestern abend, Boulevard de Courcelles! Ha–cha–cha! Was macht unser Hund!«

Und indem er Karl großartig die Hand entgegenstreckte, sagte er: »Ich kenne Ihren Namen nicht, mein Herr, aber erlauben Sie, daß ich Sie für Ihre brave Tat umarme!«

Er warf den verdutzt Dastehenden seine Arme um die Schultern, drückte ihn an die Brust und sagte pathetisch: »Ich danke Ihnen, mein Freund, im Namen aller derjenigen, die Ihrem Beispiel bei der nächsten Gelegenheit folgen und mit dem Revolver in der Hand ihre Menschenwürde verteidigen werden.«

Der andere, ein einfach gekleideter, kurz gewachsener Mann mit einem schwarzen Spitzbärtchen, verzog keine Miene, doch er reichte Karl mit einer leichten Verbeugung die Hand.

Karl wurde sehr verlegen und versuchte die temperamentvolle Huldigung des Alten abzuwehren: »Ich habe vor ein paar Minuten auf der Straße die Extra-Ausgabe gelesen. Ich trage die Schuld an den Verhaftungen. Ich weiß in Paris nicht Bescheid und wollte Herrn Fraconnard um seinen Rat bitten. Natürlich habe ich die Absicht, mich der Polizei zu stellen, damit die Verhafteten freigelassen werden.«

» Sacré nom!« rief der Alte verblüfft und hob beide Arme auf. Auch der andere schien erstaunt und sah Karl von oben bis unten an.

»Das ist ein Gedanke, sich der Polizei stellen! Was sagst du dazu, Bénoit! Frac wird sich totlachen. Das ist gut! Das ist wirklich sehr, sehr gut!«

Mit aufgesperrtem Munde blieb er stehen.

Der andere öffnete seine blinzelnden grauen Kateraugen und sagte mit leiser Stimme: »Was soll Ihnen Herr Fraconnard für einen Rat geben?«

Als Karl nicht antwortete, fuhr er fort: »Er wird Ihnen sagen, daß es eine Verrücktheit ist, der Polizei auch nur eine Minute Ihrer persönlichen Sicherheit auszuliefern. Es handelt sich um eine Sache, die Aufsehen macht und niemand mehr schadet als der Polizei. Das sind seine eigenen Worte. Was meinen Sie, wie die Polizei triumphieren wird, wenn Sie nun herkommen und sich ihr zur Verfügung stellen. Sie wird sich noch etwas darauf einbilden. Sie werden den Hund zu bezahlen haben, und außerdem wird man Sie einsperren; das ist alles. Ein solcher Hund ist übrigens nicht billig. Denen, die gestern verhaftet worden sind, ist nichts nachzuweisen. Ergo müssen sie entlassen werden, und die Polizei hat das Nachsehen.«

»Fünfzig bis hundert Franks mag ein solches Vieh wohl kosten«, meinte Milloups. Er zog die Stirn in Falten und trällerte im tiefsten Baß einen Reim, der in ein Couplet passen konnte:

»Hundert Franks für einen Hund,
Schießt ihn tot, das ist gesund.«

Der andere sah Milloups mißbilligend an. Zu Karl gewendet, setzte er zögernd hinzu: »Ich will Ihnen übrigens nicht im Wege sein. Sie sehen, so liegt die Sache. Wenn Sie wollen, fragen Sie Fraconnard selber. Sie sind ein Ausländer?«

»Ich bin ein Deutscher«, antwortete Karl.

Milloups wiegte nachsichtig den Kopf.

»Macht nichts, junger Mann, wir sind international«, rief er mit dem väterlichen Wohlwollen eines Kneipenwirtes, der über die Vorstrafen seiner Freunde hinwegsieht.

Karl kam auf die Sache zurück. »In Ihrem Blatte stehen die Namen der Verhafteten. Es befindet sich eine Dame darunter.«

»Macht nichts«, sagte diesmal Bénoit. »Was wollen Sie? Wir haben uns telephonisch nach den Namen erkundigt, um Aristides' Bericht zu ergänzen.«

»Ich kenne die Dame nicht,« fuhr Karl fort, »aber können Sie mir die Gewißheit geben, daß die Verhafteten wieder auf freiem Fuße sind?«

»Hören Sie, mein lieber Freund!« sagte Milloups: »Was stellen Sie sich eigentlich vor? Sie sind wohl noch niemals verhaftet gewesen? Man hat die Personen mit auf die Wache genommen, und man wird sie spätestens heute morgen nach Hause geschickt haben. Das ist alles. Freilich immer noch genug, um über diese Schafsköpfe von Polizisten in Wut zu geraten.«

Karl gab sich mit dieser Belehrung noch nicht zufrieden.

»Sie sagten selbst, daß es gut sei, wegen meiner Absicht mit Herrn Fraconnard zu sprechen. Wollen Sie mich bitte zu ihm führen«, sagte er zu Bénoit.

»Da müssen Sie morgen wiederkommen, die Redaktion ist geschlossen«, antwortete der. »Die Zeitung ist ja schon bald eine Stunde auf der Straße; der Professor ist längst zu Hause. Kommen Sie morgen wieder. Nicht vor zwölf und nicht später als ein Uhr.«

»Was du sagst«, rief Milloups dazwischen. »Warum Zeit verlieren? Gehen Sie doch einfach zu Frac in die Rue Norvins. Hören Sie, mein Freund, es ist besser, Sie sprechen ihn heute statt morgen. Morgen sind neue Dinge an der Tagesordnung. Er wohnt Nummer 26, Rue Norvins. Autobus, Pont Coulaincourt.«

Bénoit stimmte zu. Sie gingen jetzt alle drei die Treppe hinunter. »Entschuldigen Sie,« sagte Karl, »wo ist Pont Coulaincourt?«

»Himmel«, schrie Milloups. »Auf dem Montmartre, wo denn sonst?«

»Ich war noch nie auf dem Montmartre«, antwortete Karl. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir beschreiben wollten, wie ich die Rue Norvins finden kann.«

»Unten im Kontor ist ein Stadtplan«, sagte Bénoit, der rascher als die andern hinabging. Er schien es eilig zu haben und verabschiedete sich an der Haustür.

Der Alte schob Karl in das Kontor, wo ihnen der Besitzer der Druckerei entgegentrat, – ein hagerer Mann mit rosigem Gesicht und blondem Schnurrbärtchen. Er trug eine leichte Seidenmütze auf der Glatze und hatte eine schwarze Schürze vorgebunden.

»Mein lieber Pernod,« sagte Milloups, »ich habe die Ehre, dir einen Helden vorzustellen. Was sage ich – ein Kind, das mich soeben nach dem Montmartre gefragt hat. Dabei hat dieser junge Mann gestern abend auf dem Pflaster des Boulevard de Courcelles die Feuerprobe der Revolution bestanden. Er weiß noch nicht, wo Montmartre liegt, ha–cha–cha–cha! Aber schon hat er angefangen, der Pariser Polizei ihre Hunde wegzuschießen. Wunderbar: ein Schuß aus zehn Schritt Entfernung oder so! Schau her, mein Lieber!«

Er warf sich in Positur und machte Pernod die Sache vor. Ein blasses Mädchen, das über einen Stoß Drucksachen gebeugt an einem Tischchen saß, und ein alter Buchhalter, der am Pult stand, hoben neugierig die Köpfe.

»Hier kommt die Bestie« – Milloups wies mit dem Zeigefinger in die Ecke –, »knurrend, sage ich euch. Nun springt sie auf mich zu. Ein einziger Satz an die Krawatte, da, im selben Augenblick – paff! liegt mein Hündchen auf dem Boden, krepiert. Die Flics stürzen sich auf uns, ich werfe mich dazwischen, unterdessen macht sich dieser tapfere junge Mann aus dem Staube. – Oh, einfach wunderbar, mein Bester, wie Sie das gemacht haben! Weg war er! Teufel! Spurlos verschwunden, von der Erde verschluckt! Sie sind mein Retter, junger Mann! Ich werde das nie vergessen!«

Karl fing an, die Komödie zu durchschauen. Alter Lügner! dachte er. Aber um des Zusammentreffens mit Fraconnard willen tat er dem Alten den Gefallen und schwieg.

»Nun, mein lieber Pernod, wir wollen unserem jungen Freunde Bescheid sagen. Beschreiben wir ihm den Weg. Du mußt wissen, er ist der Held des Tages! Der Professor muß ihn unbedingt noch heute sehen, verstehst du? Apropos! Weißt du auch, wie er herkam, gerade hierher? Eine originelle Idee: Er hat die Absicht, sich der Polizei zu stellen. Ist das originell oder nicht? Nun, und warum hat er diese edle Absicht? Man hat statt seiner ein volles Dutzend Menschen verhaftet. Von meiner Seite weg. Eine junge hübsche Dame mittendrin. Er will ihnen aus der Patsche helfen. Oh, das ist brav, das ist naiv!«

Pernod, der alte Buchhalter und das Maschinenfräulein starrten Karl an, der anfing sich unbehaglich zu fühlen.

Pernod führte ihn zuvorkommend vor einen Plan von Paris, der wie der Querschnitt einer tausendfach geäderten und mit vielen bunten Tupfen besäten Riesenblume die halbe Wand bedeckte. Milloups erklärte die Wegrichtung. Aber er redete so konfus, daß Pernod nachhelfen mußte. Als Pont Coulaincourt gefunden war, nahm er ein Stück Papier und zeichnete mit dem Bleistift ein paar Straßen auf, die im Zickzack zum Gipfel des Montmartre hinaufführen. Eine Reihe von Punkten bezeichnete seinen Weg durch die Rue Durlach und Lepic hinauf, an der Mühle la Galette vorüber, dann durch die kurze Rue Girardin und endlich rechts ab in die Rue de Norvins. Nach Pernods Beschreibung führte diese Straße zwischen einigen mit Schutt bedeckten Bauplätzen und hohen Gartenmauern hin. Auf ein zweites Blatt Papier zeichnete er ihm dann noch einen besonderen Plan für das Haus Nummer sechsundzwanzig. Man mußte zwei Höfe durchschreiten, um aus den sechs oder sieben Einzelhäusern, die sie umgaben, das kleine Gartenhäuschen herauszufinden, das Fraconnard bewohnte. Übrigens nannte ihn Milloups bald »den Professor« und bald nur »Frac«.

Karl dankte Pernod und steckte die beiden Zeichnungen ein. Milloups trat nun mit ihm auf die Straße. Er ließ es sich nicht nehmen, Karl bis zum Palais Royal zu begleiten und ihm dort den Autobus zu zeigen, den er besteigen mußte.

Hier angelangt, fragte er: »Pardon Monsieur, Ihr Name?«

»Fleming.«

»Sehr schön, mein Freund, wir werden uns wiedersehen. Wissen Sie, der Professor wird entzückt sein, wenn Sie ihn besuchen. – Da fällt mir ein: Ich sollte Ihnen wohl eine Einführung mitgeben, nicht wahr?«

Er schrieb etwas mit Bleistift auf ein Blatt, das er aus seinem Notizbuch riß und dem jungen Deutschen einhändigte:

Mon cher Fraconnard, voilà le camarade Flamand,
brav' jeune homme qui a fini le chien de police et en exécutara de plus.
Mill.s.

Karl las den Zettel, als er eingepfercht auf dem Imperiale des Autobusses saß, und steckte ihn in die Westentasche. Die Fassung gefiel Karl nicht sonderlich, nicht besser jedenfalls als der ganze alte Knabe.

Aber das war so gleichgültig. Der Weg war offen!

Wie ein Torpedoboot brach sich der schnarrende Omnibus Bahn durch das Gewoge der Straßen.


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