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Zwölftes Kapitel.
Eine schlimme Nacht

Die Reise Wilms nach Bremen hatte eine noch bessere Ausrüstung der Rettungsstation zur Folge, denn die zahlreichen Schiffbrüche, welche in der Nähe der Insel vorgekommen waren, lenkten ganz besonders die Aufmerksamkeit der maßgebenden Kreise hierher, und man versah die Station außer den schon vorhandenen Ankerraketen auch noch mit Rettungsraketen. Bei der ersten Probe mit denselben waren wiederum einige Beamte der Gesellschaft zugegen, welche aufs neue die bisherige Thätigkeit der Mannschaft sehr rühmend anerkannten.

Mittels der neuen Einrichtung konnten Raketen von etwa 5 cm Durchmesser steigen und eine Leine bis 300 m weit über ein gestrandetes Fahrzeug wegtragen, das dann entweder eine Tauverbindung mit dem Lande ermöglichen kann, so daß das Rettungsboot sich leichter heranzuarbeiten vermag, oder wodurch man ein Rettungstau mit der sogenannten Hosenboje nach dem Wrack zu befördern im stande ist. Schon die erste Probe, bei welcher die Bewohner der ganzen Insel zugegen waren, zeigte die Geschicklichkeit der Mannschaft sowie die Verwendbarkeit der Geschosse. Der Apparat befand sich auf einem Wagen, und die sorgfältig in Gestalt einer 8 aufgelegten Leinen, welche etwa 2 cm Umfang hatten, lagen in einem besondern Kasten. Sie rollten sich bei der Benutzung leicht und schnell auf, und man hatte bei den Proben bereits so sicher gezielt, daß die Taue über den kleinen Kutter, der die fremden Gäste gebracht und der bei der Übung in Verwendung kam, hinwegflogen, und da die Mannschaft des Fahrzeugs gut unterrichtet war, so wurde die scheinbare Rettung Schiffbrüchiger mit der Boje musterhaft und sicher vollzogen. Freilich war das bei ruhiger See, und an einem klaren Abend, und weder bei Rettern noch bei Geretteten war eine besondere Aufregung notwendig. Daß das im Ernstfall anders werden würde, war keinem von den Männern unklar, aber sie sahen nun noch vertrauender als bisher jeder Katastrophe entgegen.

Sonst hatte sich in den Verhältnissen auf der Insel wenig geändert, an den von der Sturmflut versehrten Häusern konnte man noch immer wenig arbeiten, sondern mußte das Frühjahr abwarten, und die des eignen Heims einstweilen Beraubten hatten gern und willig bei Nachbarn und Freunden Aufnahme gefunden; eine Familie wohnte bei dem alten Pfarrer, eine andre bei Keno Pinhagens Vater, auch Wilm und Knut waren daran gegangen, ihr Haus, das freilich sehr tüchtig gebaut war, einigermaßen wieder instandzusetzen, und letzterer hatte den von ihm durchgebrochenen Eingang wieder verschlossen und damit eine größere Annäherung herbeigeführt, worüber sich besonders Grete freute. Sie hatte meistens die Brüder gedrängt, ihr Häuschen wieder wohnbar zu machen, und war glücklich, als sie ihren Einzug halten konnte, obwohl die Mauern noch nicht ganz trocken schienen.

Das aber wurde ihr verhängnisvoll und bereitete auch Wilm schwere Tage, und es war ein Glück, daß ihm dabei ganz besonders Frau Wencke zur Seite stand. Die aufregenden Ereignisse in den letzten Wochen, sein Schlicklaufen und die Sturmflut hatten Grete gewaltig angegriffen, und besonders seit der letzteren fühlte sie sich beständig müde und klagte über Kopfweh. Am heiligen Abend hatte sie sich zusammengerafft, um sich mit den Ihrigen zu freuen, oder jenen wenigstens nicht die Feststimmung zu verderben, aber bald nach den Feiertagen war es mit ihrer Kraft vorbei, und die ungesunde Luft in ihrem Häuschen hatte wohl das ihrige gethan, so daß sie zum Schrecken von Frau Wencke eines Tages, als Wilm eben abwesend war, ohnmächtig zusammenbrach.

Als ihr Gatte heimkam, fand er sie im Fieber, fröstelnd mit glühendem Kopfe und heißen Händen, und es ließ ihm keine Ruhe; er ruderte mit Knut hinüber nach dem Festlande, um den Arzt zu holen, und dieser erklärte denn auch mit ernster Miene, daß bei der jungen Frau ein Nervenfieber ausgebrochen sei, welches schon lange in ihren Gliedern lag, ehe es ihre Widerstandskraft völlig zu brechen vermocht hatte. Er gab seine Weisungen, verordnete in der Hauptsache kühle Bäder und milde, flüssige Nahrung und sprach die Hoffnung aus, daß bei der trefflichen Pflege Frau Wenckes die Kranke wohl wiedergenesen würde.

Wilm, der sonst so stark und willenskräftig war, ging an jenen Tagen herum wie ein Träumer, und die Leute, welche ihn sahen, hatten mit ihm Mitleid. Auch Knut, der sich seit der großen Flut in seinem Wesen recht geändert hatte, bekundete seine Teilnahme durch häufige Besuche und durch manches freundliche Wort, das er jetzt dem Bruder gönnte, wenn es auch noch immer schien, als ob er es seinem herben Wesen abzwingen müsse.

Auch er befand sich in fortwährender Unruhe und wartete von Tag zu Tag auf die Ankunft Klausens oder auf eine Nachricht von demselben. Er spähte oft stundenlang hinaus auf das Meer und verfolgte die fernen weißen Segel und die stolz vorübergleitenden Dampfer und gab sich stets aufs neue der Hoffnung hin, daß dort drüben sein Bruder der Heimat zuschwimme. Dabei versorgte er auf dem Leuchtturme nach wie vor fast völlig den Dienst des Wärtergehilfen, und Jürgen ließ sich das mit einer gewissen Behäbigkeit gefallen. Es war übrigens in den letzten Wochen, obgleich zweimal noch ein leichter Sturm über die Insel gegangen war, in dem Befinden desselben nicht die geringste Störung eingetreten, und er war ruhig mit Knut im Wärterstübchen gewesen, so daß sich seine Leute der Hoffnung hingaben, daß möglicherweise das Frühjahr eine Besserung in seinem Zustande bringen könne.

So verging der Februar, und der März trat die Herrschaft an. Mit Grete wollte es noch immer nicht besser werden, und an einem Mittwoch Nachmittag war es, als sie abgezehrt und matt mit den brennenden Wangen und den trockenen Lippen dalag und mit leiser Stimme nach Wilm rief.

Er kam und ergriff ihre heißen Hände, sie aber sagte:

»Mein lieber Wilm, ich denke, es geht mit mir zu Ende! Sei stark, Wilm – ich weiß, daß du mich gern gehabt hast, und das Bewußtsein nehme ich in die Ewigkeit mit. Unser Kind wirst du auch zum braven Menschen machen, und mehr verlange ich nicht vom lieben Gott!«

Wilm fühlte, wie ein Schauer durch seinen Körper lief und wie seine Seele vor Angst erzitterte. Er bat:

»Rede nicht so, Grete, du brichst mir das Herz! Es ist gewiß nicht so weit, du bist nur schwach, und das kann ja nicht anders sein, doch der Doktor meint, das wird sich alles wieder geben, aber du darfst keine Unruhe und keine Sorge haben.«

Auch Frau Wencke trat jetzt leise heran; sie schaute mit unsäglicher Wehmut und Besorgnis auf die Kranke, aber auch sie bemühte sich, ihr die Todesgedanken auszureden. Die freundlichen Worte thaten Grete offenbar wohl; sie lag da mit einem müden Lächeln um die Lippen und mit geschlossenen Augen, aber Wilm fühlte den leisen Pulsschlag in ihrer Hand.

Da schlug ein Windstoß gegen die Fenster, daß sie zitterten und klirrten, und die Kranke öffnete angstvoll die Augen und umklammerte fester Wilms Hand. Dieser hatte rasch den Kopf erhoben und das Gesicht abgewendet, um ins Freie zu sehen; dann traf ein besorgter Blick Frau Wencke, und diese verstand ihn wohl. Er wollte sagen: »Da kommt ein Sturm, und wehe mir, wenn heute ein Schiff in Not gerät!«

Das zuckte durch die Seele Wilms mit unheimlicher Schnelligkeit, und heiß und stumm flehte er in dieser Minute den Himmel an, daß er gnädig sein und ihm und dem sterbenskranken Weibe diese Prüfung ersparen möge. Jetzt kam Knut leise bis an die Thür, und Frau Wencke ging zu ihm hinaus.

»Wie geht es Grete?« fragte er.

»Schlimm, wir fürchten beinahe, daß sie heute nicht mehr überstehen wird.«

Knut senkte das Haupt und schwieg einige Augenblicke. Dann sprach er:

»Es gibt einen Sturm – ich will nach dem Leuchtturm, und wenn ich dort nicht gebraucht werde, nach dem Stationshause. Wilm soll ja zu Hause bleiben – auch wenn es Not gibt, wir besorgen alles allein; laßt ihn nicht fort von seinem Weibe, wenn es so steht!«

Er ging und wendete sich nach dem Leuchtturm. Als er eintrat, traf er Thomas und Jürgen. Der letztere begrüßte ihn ruhig und freundlich, obwohl eben jetzt wieder ein heftiger Windstoß an den Turm prallte. Er hatte eine Laterne in der Hand und war eben im Begriff hinaufzusteigen und die Leuchte zu entzünden. Knut warf einen fragenden Blick nach dem Alten, der aber winkte behaglich und sprach:

»Laß ihn gehen, Knut; er mag die erste Wache nehmen, die zweite halte ich selber« – und leise fügte er bei: »Es ist heute nichts zu fürchten!«

Und Jürgen lächelte so vergnügt, rief Knut noch ein Scherzwort zu und ging dann mit seiner Laterne. Verwundert sah ihm dieser nach und sprach:

»Ich glaube selber, daß er jetzt ruhiger ist – denn sonst war er ja, schon ehe der Sturm kam, aufgeregt; ich kann dann wohl nach dem Stationshause gehn, wo ich um so mehr nötig bin, als der arme Wilm heute bei seinem Weibe bleiben möchte; Grete wird die Nacht wohl nicht mehr überstehen, meinte Frau Wencke.«

»Tröst' ihn Gott!« sagte der Alte – »es wäre schade um das junge muntere Blut!«

»Ja – na, gute Nacht, Thoms!«

»Gute Nacht, Knut!«

So gingen sie voneinander und Knut schritt nach dem Stationshause. Der Wind war heftiger geworden, und die Dunkelheit legte sich über Land und See. In dem Hause war bereits ein Teil der Rettungsmannschaften mit Keno Pinhagen versammelt, und der Wächter stand an dem hohen Fenster und lugte hinaus. Da trat noch einer ein mit dem Südwester im Nacken und rief:

»Was ist das heute? Die Laterne im Leuchtturm ist noch nicht angezündet.«

Knut fuhr auf:

»Herr des Himmels! das ist nicht möglich! Ich komme eben von dort und habe selber gesehen, wie Jürgen hinaufgestiegen ist, um Licht zu machen!«

»Jürgen? – Bei dem Sturme?« riefen einige, und die Frage klang so verwundert und seltsam, daß es Knut kalt überrieselte. Ein Entsetzen packte ihn; wenn der Unselige dennoch wieder seinen schlimmen Anfall bekommen hätte – welch entsetzliches Unheil könnte da geschehen! Er war bereits hinausgeeilt vor das Haus, und die andern folgten. Es war kein Zweifel – die Blicke, welche sich nach dem Leuchtturm wendeten, sahen ihn fahl und düster in die Nacht hinaufragen, aber von seinen Häupten ging nicht der gewohnte, milde, segensvolle Schein aus.

»Ich muß hinüber«, schrie Knut, in demselben Augenblicke aber erscholl es neben ihm:

»Weißfeuer auf See – ein Schiff in Not!«

Gleich darauf klang schrill die Glocke von dem Stationshause durch die Luft und rief durch das Toben des Windes zur Rettung herbei. Noch einmal stieg es über dem Wasser mit leuchtendem Scheine auf, und Keno Pinhagen rief:

»Raketen auf! Da liegt ein Schiff auf der Roten Bank.«

Während nun vom Lande die Raketen zur Antwort stiegen, rannte Knut durch den wilden Sturm im rasenden Laufe nach dem Leuchtturm zu. Atemlos stürzte er in das Gemach, wo Thomas Kögge noch immer behaglich am Tische saß und sein Pfeifchen rauchte.

»Jürgen macht kein Licht – die Laterne brennt nicht!« keuchte Knut, der Alte aber fuhr erdfahl auf von seinem Sitze, die Pfeife entfiel seinen Zähnen, seine Kniee schlotterten, und mit Mühe brachte er das Wort heraus:

»Das kann nicht sein!«

Da stürzten aber schon andre herein, Männer und Frauen und schrieen durcheinander:

»Was bedeutet das? – Es ist kein Licht! – Das gibt ein Unglück! Schnell, es ist ein Schiff in Not!«

Als Knut die andern sah und darunter einige ältere besonnenere Männer, rief er diesen zu:

»Seht mit Thoms nach, was es gibt, vielleicht ist Jürgen krank geworden! Ich will Frau Wencke suchen, sie kann am besten mit ihm umgehen!«

Knut wußte, daß er jetzt hier nichts nützen konnte, und so rannte er wieder hinaus in die Nacht, durch welche noch immer die Glocke rief, und mit keuchendem Atem wandte er sich nach seinem Hause.

Im Leuchtturm hatte indes Thomas mit zitternden Händen eine Laterne entzündet, und nun stieg er mit den andern hinan über die enge steile Treppe, und trotz seiner schlotternden Kniee mit einer Hast, wie es noch nie in seinem Leben geschehen war. Niemand sprach ein Wort, aber allen pochten die Herzen vor banger Erwartung. Als sie höher hinaufkamen nach dem Wärterstübchen, glaubten sie, sie würden Jürgen hören, aber alles war totenstill, und man vernahm nur das verstärkte Brausen des Sturmes um die Mauern. Jetzt legte Thomas die Hand auf die Klinke der Thür; aber diese gab nicht nach, sie war von innen verschlossen. Da rief der alte Wärter:

»Jürgen! Jürgen!«

Drinnen antwortete eine ruhige Stimme:

»Was soll's? – Wer ist's?«

»Die Laterne brennt nicht, Jürgen!«

»Meine Laterne brennt!«

»Aber die große nicht, das Leuchtturmlicht brennt nicht!«

»Das brennt auch!«

»Nein, nein – mach' auf, Jürgen, um Gotteswillen mach' auf!«

»Nein, laßt mich – ich will allein sein, ganz allein!«

Jetzt schrieen auch die andern Stimmen:

»Mach' auf, Jürgen! Es muß Licht werden – ein Schiff ist in Not!«

»Es ist Licht!« klang es hartnäckig von drinnen, und nun stemmte sich der alte Turmwärter in seiner Verzweiflung mit der ganzen Wucht seines Körpers gegen die schmale Eingangsthür zum Wärterstübchen, hinter ihm drückten die andern, als ob sie seiner Kraft damit noch mehr Nachdruck zu geben vermöchten, und die Menschen standen wie ein dichter Knäuel auf der engen Treppe. Die Thür dröhnte und knackte, aber sie blieb fest, und aus dem Innern des Gemaches erscholl jetzt ein grauenhaftes Gelächter.

»Er wird verrückt!« schrieen einige, und die Weiber kreischten angstvoll auf, die Männer aber riefen:

»Wir müssen die Thür einbrechen! Holt Werkzeuge!«

Jürgens Stimme aber erklang wild:

»Kommt mir nicht nahe! Kommt mir nicht nahe!«

Zugleich hörte man in dem kleinen Raume ein fürchterliches Poltern, Dröhnen und Schlagen – der Anfall von Tobsucht begann, und der Rasende zerschmetterte jetzt die Stühle und den Tisch und warf die Trümmer krachend an die Scheiben des Fensters und gegen die Thür, vor welcher sich noch immer die entsetzten Leute anstauten.

»Schafft Brechwerkzeuge!« schrie Thomas aufs neue, nachdem er noch einmal vergebens die feste Thür einzudrücken versucht hatte, und einige eilten jetzt die Treppe hinab, um dem Gebote Folge zu leisten.

Während das auf dem Leuchtturm geschah, saß Wilm in höchster Angst noch immer bei seinem Weibe, und während er zu ihr beruhigend redete, lauschte er hinaus auf den Sturm, ob er nicht irgend einen Notruf vernähme, und sein Herz litt fürchterlich unter dem Zwiespalt der Pflichten. Seine Liebe hielt ihn fest an dem Lager der todesmüden Gattin, sein Pflichtgefühl aber als Vormann der Rettungsstation drängte ihn dahin, wo sich in diesem Augenblicke die Genossen seiner menschenfreundlichen Thätigkeit hilfsbereit zusammenscharten.

Da hob er mit einem plötzlichen Ruck das Haupt höher und horchte – ihm war's, als höre er den Glockenruf – – jetzt war es ganz deutlich, er wußte, es war ein Schiff in Not – und mit blutendem Herzen stand er auf. Er beugte sich nochmals über Grete nieder und flüsterte:

»Grete, ich muß hinaus, es sind Menschenleben in Gefahr – willst du mich gehen lassen?«

Die Kranke that die Augen, die in dem schmalen Gesichte ohnehin größer erschienen, weit auf, starrte ihn einige Sekunden an, als verstände sie ihn nicht, dann aber nickte sie und sprach:

»Geh in Gottes Namen, mein Wilm – dort draußen kannst du helfen, hier kannst du nichts thun!«

Das Wort schnitt ihm ins Herz; er gab für Fremde sein Leben dran, sie zu retten – er hätte es gern für sein Weib gegeben, aber das ging ja nicht an. Frau Wencke trat in diesem Augenblick heran. Sie wußte auch, um was es sich handle, und sagte:

»Bleib heute hier, Wilm – es kann dir kein Mensch übel nehmen! Hier hast du auch Pflichten!«

»Nein, geh hinaus, Wilm!« rief die Kranke erregter – »nicht um meinetwillen sollst du zurückbleiben!«

Sie drängte ihn mit sanfter Gewalt fort, er aber küßte ihre heiße Stirn und ihre Augen, und mit einem tiefen Atemzuge sagte er:

»Frau Wencke, ich lasse Euch ja zurück! Grete ist in guter Hand, und der Herrgott sei uns allen gnädig!«

Mit diesen Worten eilte er hastig hinaus, indes Frau Wencke ihm folgte. In der Thür stießen sie auf Knut, der keuchend herangeeilt kam.

»Wohin willst du?« stieß er hervor, als er den Bruder sah.

»Nach der Station!«

Da faßte Knut seine Hände: »Wilm, laß sein! Bleib bei deinem Weibe – du darfst heute nicht hinaus!«

»Ich muß – zuerst kommt die Pflicht und dann mein Herz!« Und er riß sich los und eilte fort durch Nacht und Wind nach dem Stationshause, Knut aber keuchte wieder:

»O das ist ein Tag des Unglücks! Frau Wencke, lauft nach dem Leuchtturm, Jürgen ist toll – er ist in der Laterne und läßt keinen hinein – und es brennt noch kein Licht!«

Die Frau fühlte, wie alles Blut aus ihren Wangen wich und wie es gleich einer Ohnmacht sie überkam, aber mit übermenschlicher Kraft raffte sie sich zusammen:

»Was wird mit der Kranken?« stöhnte sie.

»Ruft eine Nachbarin – aber eilt um Gotteswillen nach dem Turme – Ihr allein könnt ihn ruhig machen! Ich muß fort – nach der Station!«

Und schon rannte er in wildem Laufe seinem Bruder nach, indes Frau Wencke sich einen Augenblick an den Thürpfosten anhielt und einen entsetzten Blick hinüberwarf nach dem Leuchtturm, der wie ein blinder Riese aufragte in die sternlose Nacht. Das Weib wußte, daß sie auch nicht anders konnte, daß auch sie die höhere Pflicht trieb, und so flog sie zu Grete und flüsterte ihr mit erzwungener Ruhe zu:

»Ich muß einen Augenblick nach Hause, ich habe etwas Notwendiges vergessen, bleib nur ruhig, ich bin bald wieder da und schicke dir einstweilen die Nachbarin!«

Die Kranke nickte müde, und die Frau eilte fort. Im Nachbarhause war nur ein altes lahmes Weib daheim; mit fliegendem Atem bat Frau Wencke dasselbe, für kurze Zeit zu Grete zu gehen, und dann lief sie weiter nach dem Turme. Ihre Seele war erfüllt von Angst und Grausen – was konnte jetzt nicht alles in diesen Minuten geschehen? – Der wahnwitzige Bruder konnte sich und andre vernichten, und in Wilms Hause konnte das todkranke Weib sterben, während der Gatte mit den Elementen rang, die auch ihm den Untergang zu bereiten vermochten. –

Beim Stationshause war indes alles für das Rettungswerk vorbereitet, und der Bootswagen rollte eben hinab nach dem Strande, als Wilm und Knut anlangten; mit fieberhafter Schnelle legten sie die Korkgürtel an und eilten dem Wagen nach. Da wo das Meer gegen die Küste brandete, war der Raketenapparat aufgestellt worden. Da das Wrack, soweit man es nach den Raketen beurteilen konnte, die von demselben aufstiegen, nicht allzuweit draußen lag, glaubte man, zum erstenmal auch einen Versuch damit machen zu sollen, und Keno Pinhagen hatte in Stellvertretung Wilms bereits seine Weisungen gegeben, als dieser selbst ankam.

»Halt, Freunde! Sollen wir nicht doch lieber mit dem Boote hinaus? Wer weiß, ob jemand an Bord ist, der den Gebrauch der Raketen versteht?«

»Wilm hat recht!« rief ein andrer – »wer weiß auch, ob es noch möglich ist, das Rettungstau an dem Wrack zu befestigen!«

»Da gilt kein Überlegen, Freunde!« sagte Keno Pinhagen ernst. »Ich schwimme hinüber und leite die Befestigung des Taues, ihr aber macht zugleich das Boot flott und versucht mit demselben anzukommen! Vorwärts mit Gott!«

Und ehe noch die andern sich recht zu besinnen vermochten, hatte der mutige Mann sich in die Wellen geworfen und arbeitete sich nun, getragen von seiner Korkjacke, rüstig fort. Die noch immer ab und zu steigenden Raketen gaben ihm Sicherheit betreffs der Richtung, und glücklich langte er auch bei dem gestrandeten Schiffe an. An den Resten des Takelwerks der gebrochenen Maste, welches tief über Bord hing, arbeitete er sich empor und stand plötzlich an Deck.

Durch die zerrissenen Wolken fiel jetzt ein Strahl des Mondlichts, der erste in dieser Nacht, und bei seinem Scheine tauchte mit einem Mal ein triefendes, fremdes Gesicht über dem Bordrande auf. Der erste, welcher es sah, war Niels Springgut, und er schrie entsetzt auf: »Der Klabautermann!« Noch erschreckter aber war Herr Lebrecht Werner, der mehr tot als lebend sich an dem Überrest des abgeknickten Großmastes festgebunden hatte und mit bebenden Lippen betete. Der erste, der die Sachlage richtig erkannte, war Klaus. Er schrie freudig auf:

»Keno Pinhagen! – O jetzt wird's gut!«

Verwundert blickte der Fischer zur Seite, woher der Ruf kam, auch er erkannte Klaus, aber er nickte ihm nur freundlich zu; ein Wiedersehen zu feiern, dazu war jetzt keine Zeit. Pinhagen rief nach dem Kapitän, der sofort zur Stelle war und mit Freuden vernahm, um was es sich handle. Er erklärte, sich allen Anordnungen Kenos bereitwillig fügen zu wollen, und dieser, dessen Erscheinen, sobald man erst wußte, wer es war, den Schiffbrüchigen Mut und Hoffnung wiedergegeben hatte, gab jetzt mit einer mehrmals rasch gehobenen und gesenkten brennenden Laterne das Zeichen, welches man am Strande wohl verstand.

Dort war das Rettungsboot bereits abgegangen, und mit gewohnter eiserner Kraft arbeiteten die braven Männer gegen die Brandung, welche sie stets aufs neue mit den rollenden Seen überschüttete. Als sie das Rettungsboot bestiegen, war Knut ganz nahe an Wilm herangekommen; er sah ihm in das Gesicht, das keine Röte zeigte, und in welchem die Augen mit einem seltsam feuchten Glanze schimmerten, als ob in ihnen verhaltene Thränen blinkten. Das griff Knut an das Herz, an welchem heute ohnehin so vieles rüttelte. Das Unheil auf dem Leuchtturm, von welchem noch immer kein Licht zu erblicken war, drückte ihn nieder, denn es war eine Folge seiner Schuld, und die Hochherzigkeit Wilms, der sich von dem Todeslager seiner Frau losriß, um wildfremden Menschen das Leben zu retten, überwältigte ihn. Von seinem Gefühle übermannt, streckte er dem Bruder die Hand hin, und leise, so daß dieser allein es vernahm, bat er:

»Verzeih mir Wilm, wenn ich dich oft gekränkt habe, du bist der Beste von allen!«

Da floß es durch die Seele Wilms wie ein goldener Sonnenstrahl, und indem er stumm und heiß die Hand Knuts drückte, hatte er ein Empfinden des Glückes, vor dem aller Jammer, der bis jetzt auf ihm lag, zurücktrat. Ihm war, als könne ihn nun kein Unheil mehr treffen, als habe mit dieser Versöhnung der Himmel selbst ihm ein Zeichen geben wollen, daß er es wohl mit ihm meine, und in wahrhaft gehobener Stimmung that er heute seine Pflicht. Und das Boot schnitt geschickt durch die Kämme der Brandung hinüber nach der Roten Bank, wo man nun beim Aufleuchten des Mondschimmers das gestrandete Fahrzeug mit unheimlichen Umrissen liegen sah.

Die am Strande Zurückgebliebenen aber hatten Pinhagens Zeichen gesehen, und da das Mondlicht ein sicheres Zielen möglich machte, wurde keinen Augenblick gezögert, den Raketenapparat in Thätigkeit zu setzen. Die Metallhülse der Rakete lag auf ihrem Gestell, an ihr befand sich ein Stock, welcher die Richtung genauer einzuhalten bestimmt war, und daran die in Achterlinien leicht aufgerollte Leine. Ringsum drängten sich Leute, die mit begreiflicher Erregung zum erstenmal die Wirkung des neuen Apparats beobachten wollten, aber der gewaltige Ruf: »Zurück!« ließ sie rückwärts weichen, um dem Geschosse volle Freiheit zu geben.

Ein heller Blitz zuckte durch die Nacht, Rauch umhüllte den Apparat, dann sauste und zischte es zornig und schrill, und weit hinaus sprang eine leuchtende Kugel, und wie eine glühende Flammenlinie glänzte es, wo sie ihren Weg nahm. Die Leute am Strande wußten, daß sie gut gezielt hatten, denn sie sahen die Rakete über das Wrack wegfliegen, und sie durften auch sicher sein, daß auf dem Schiffe alles in richtiger Weise geschehen würde.

Indes verhüllte der Mond aufs neue sein Gesicht, und wieder schwebte Dunkelheit über den schäumenden Wässern. Aber Keno Pinhagen hatte schon die Leine, welche über seinen Kopf hinsauste, erfaßt, und um dies denen am Strande anzuzeigen, gebot er dem ihm zunächststehenden Bert Helmert, eine Laterne zweimal schnell zu heben und zu senken. Gleich darauf bemerkten die Schiffbrüchigen, wie von der Küste ein rotes Licht flüchtig aufglänzte, und nun holte Keno die dünne herübergeschossene Leine an, so lange, bis an derselben befestigt ein Steertblock vom Lande herüberkam, durch welchen ein endloses Tau (Jolltau) geschoren war. Pinhagen erfaßte den Block und befestigte ihn an dem Reste des Großmastes, worauf auf seinen Wink Bert Helmert wieder ein Zeichen gab durch Heben und Senken der Laterne. Auf dies hin wurde an der Küste drüben an dem Läufertau das eigentliche starke Rettungstau angebunden und rasch nach dem Wrack hinüberbefördert, wo es nach Anleitung Pinhagens ein Stückchen oberhalb des Steertblocks festgemacht, und dann von dem Läufertau befreit wurde.

Wiederum folgte ein Zeichen mit der Laterne, die Leute am Strande hielten das Tau straff an und zogen nun mittels des Läufers eine sogenannte Hosenboje an Bord. Das ist ein an drei Stricken an einem Kinnbackblock befestigter Sitz, an welchem sich zwei offene Verlängerungen zum Durchstecken der Beine befinden. Sobald dieselbe ankam, rief Pinhagen:

»Zuerst die Passagiere!«

»Hier!« rief eine erbärmliche, kreischend angstvolle Stimme. Es war Herr Lebrecht Werner, der nun losgebunden wurde, und den Bert Helmert am Arme herbeiführte.

»Hier hinein, Herr – und dann laßt Euch in Gottes Namen ans Land ziehen!« rief Keno.

Werner zitterte und bebte:

»Hier hinein? Und durchs Meer? – Wenn ich aber herausfalle?« schrie er.

»Keine Umstände, Herr!« drängte Pinhagen, aber der Geängstigte wand sich und zog sich zurück.

»Und mein ganzes bißchen Hab' und Gut, das ich am Leibe trage – das wird ja alles durchnäßt ... Du mein Heiland – – nein, nein – ich kann nicht!« rief er.

Aber schon hatte Niels Springgut den Jammernden ergriffen, ihn wie ein Kind trotz seines Sträubens auf den Arm genommen, ihm die Beine durch die Öffnungen gesteckt, und nun hielt sich Herr Lebrecht krampfhaft an der Boje fest. Der alte Matrose sagte:

»Seid froh, daß ich Euch nicht ersaufen lasse, verdient hättet Ihr's um uns!«

Das war das letzte, was der unselige Passagier vernahm, er sah noch einmal die Laterne blinken an Bord, dann glitt sein Fahrzeug durch die Luft, daß ihm beinahe die Besinnung schwand, um ihn brauste und sauste es, und nach einer Weile tauchte er unter, die Wellen gingen wild über ihn weg, aber nur fester umklammerte er mit Beinen und Armen seinen Sitz, bis er stöhnend und prustend wieder in die Höhe kam und nun fühlte, wie er mit einem Male wieder fest auf seinen Füßen stand. Sein erster Griff war nach dem Gurte, den er um seinen Leib gebunden, und der all sein Besitztum barg, und er fühlte, daß die Brieftasche, welche er hier geborgen, noch vorhanden sei, dann schaute er verwundert umher und blickte in die braunen Gesichter mit den strohblonden Haaren. Kräftige Arme faßten nach ihm und halfen ihm aus der Boje, er aber schüttelte sich und besann sich noch ein Weilchen, dann fragte er:

»Wo bin ich denn eigentlich?«

»Auf der Insel ** an der ostfriesischen Küste!« war die Antwort.

»Gott sei Dank – wenigstens wieder in Deutschland!« sagte Herr Lebrecht aufatmend, die Fischer aber gingen daran, die Boje unverweilt wieder nach dem Schiffe zu befördern.


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