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Es war zu Anfang des November. Kalt wehte der Wind vom Meere her über die scharfkantigen, hohen Dünenhügel, welche der kleinen ostfriesischen Insel einigen Schutz gewähren gegen Flut und Sturm. Sie sind mit Sandhaargras bewachsen, das ihnen eine etwas größere Festigkeit gibt, trotzdem es das »Wandern« nicht ganz hindern kann. Im Sommer bieten diese zackigen, felsgratähnlichen Hügel dem zur See Heranfahrenden ein Bild von eigentümlichem Reiz, wenn die weißen Sandflächen im Sonnenstrahl flimmern und in wundersamen Beleuchtungen spielen, um gleich darauf, wenn sich das leuchtende Gestirn hinter einer Wolke birgt, in tiefem, samtartigem Dunkel zu erscheinen. Dann wandern wohl auch vereinzelte anspruchslose Badegäste zwischen den wehenden Gräsern nach dem Strande, und Fischerkinder treiben hier ihr Spiel – jetzt aber ist es einsam und still zwischen den Dünen, wie in dem kleinen Dorfe, das sich hinter ihnen ausbreitet.
Die Häuser sehen einander ähnlich wie leibliche Geschwister. Klein und wettergebräunt, halten sie mit ihren unregelmäßig angelegten Fenstern nach allen Seiten Ausguck, und die Thür scheint oft so schmal, daß man vermeint, die breiten ostfriesischen Gestalten könnten gar nicht hindurch gehen. Vor dem Hause ist ein unansehnlicher, dürftig eingezäunter Platz, der als ein Gärtchen gelten möchte und wo sich zur schönen Jahreszeit zwischen Bohnen und Kohl einige Malven und Georginen zeigen. Ein wenig erhöht liegt die Kirche, bescheiden und schlicht, und in dem höheren Holzgerüst daneben hängt die Glocke, die über die Lebendigen und Toten mit ihrem hellen Schall hinläutet, denn hart an dem Gotteshause ist der Friedhof mit seinen einfachen Holzkreuzen auf den kleinen Sandhügeln. Riesengroß aber, wie ein starker, treuer Wächter und Hüter, ragt an der Nordwestseite auf steinerner Mole der Leuchtturm empor.
In der Dorfgasse ist kein Mensch zu sehen, die tiefe Stille unterbricht nur ab und zu das heisere Bellen eines Hundes oder das Blöken eines Schafes, und aus den Essen steigt der Rauch, den der Wind mit lustigem Fauchen in Fetzen zerreißt und im wilden Spiele über die niedrigen Dächer hinbläst.
Am Ende des Dorfes, dem Leuchtturm zunächst, wohnt der Strandvogt Asmus Ordinger. Sein Haus ist etwas geräumiger als die andern; Stall und Schuppen sind daneben, zweifellos aus alten Schiffsrippen und Planken gebaut. In dem gutgehaltenen Garten befinden sich zwei verrostete Böller, die ehedem wohl auch Seedienste gethan, und über der Thür steht mit verwitterten Buchstaben der Name »Afra«; das ist das Namensbrett eines an der Küste gestrandeten Schiffes, das der Mann hier befestigte zu Ehren seines Weibes, welches den freilich wenig landesüblichen Namen geführt hatte. Sie war »eine Fremde« und wurde all ihr Lebtag so genannt auf der Insel, zumal sie mit ihrem dunklen Haar und ihren schwarzen Augen sowie mit ihrem lebendigen, ruhelosen Wesen nicht unter die blonden, ernsten Friesenweiber paßte. Sie war seit Jahren tot und hatte so auch die Ruhe gefunden, die ihr im Leben fehlte.
Asmus Ordinger war ein Mann von nahezu sechzig Jahren; das starre, strohfarbene Blondhaar war ergraut, aber sein Gesicht war noch frisch und rot, seine Brust breit und sein Nacken gerade. Aus hellen Augen sah er in die Welt und dachte sich manches, ohne viel zu reden, wie es eben Friesenart ist.
An diesem Novembernachmittage, als der Wind so durch die leere Dorfgasse fauchte, saß der Strandvogt, wie üblich, in seiner Küche. Sie lag, wie in allen Häusern, links im Hausflur. An der Mittelwand stand der gewaltige Feuerherd, dessen Rückseite mit blauweißem Estrich belegt war, und dessen Vertäfelung ostfriesische Fischer beim Angeln zeigte. Von einem eisernen Haken hing ein Kessel herab über das lodernde Feuer, das eine behagliche Wärme in dem Raume verbreitete, während der Flackerschein über die braunen Thürflügel rings an den andern Wänden zuckte, hinter denen sich die »Verschläge« mit den Betten befanden. Abends werden die Thüren geöffnet, und die Küche wird zum Schlafzimmer. Der Strandvogt saß am Herde, rauchte aus einem kurzen Pfeifchen und war damit beschäftigt, ein Schiffsmodell anzufertigen. Er war schweigsam und in seine Arbeit vertieft, so daß er sich um den etwa dreizehnjährigen Jungen, der in einer Ecke nahe bei dem Fenster kauerte, wenig kümmerte. Der Junge war blond und blauäugig und sah dem Alten ähnlich. Er war damit beschäftigt, aus einer kleinen Kiste die verschiedensten Gegenstände hervorzuholen und sie zu betrachten. In einem Bodenverschlage hatte er das verstaubte Behältnis gefunden, und es bot ihm für den unfreundlichen Tag eine willkommene Beschäftigung.
Die beiden Menschen schwiegen, und man hörte nur das Singen des Windes, ab und zu den Schall einiger Tropfen an den Fenstern – denn es hatte zu regnen begonnen – und dann und wann dumpfe Schläge, die wohl mit einem Hammer auf Holz geführt wurden. Da zog der Knabe ein vergilbtes, zusammengerolltes Papier aus dem Gerümpel in der Kiste hervor, und da er es auseinander schlug, hielt er eine dichte Flechte langen schwarzen Haares in der Hand.
»Sieh', Vater, was ich gefunden habe!«
Er war zu dem Alten getreten und hielt ihm den seltsamen Gegenstand dicht vor das Gesicht. Dieser sah auf, und über die braunen Wangen ging es plötzlich wie ein fahler Schein. Er griff nach den Haaren, und seine rauhe Stimme schien zu zittern, da er sagte: »Gib her! – das ist von deiner Mutter. Das habe ich ihr abgeschnitten, als sie im Sarge lag.«
Auch den Jungen überrann es wie ein Schauer, er trat dem Alten näher, und einige Augenblicke schwiegen beide. Dann fragte der Knabe:
»So schwarzes Haar hat sie gehabt?«
Der Strandvogt atmete tief, so daß seine breite Brust zu beben schien, und erwiderte:
»Ja, sie ist eine Südländerin gewesen, die der Sturm auf unsre Insel verschlagen hat und die sich nie recht heimisch hier fühlte. Gott gebe ihr die ewige Ruhe!«
»Und der Knut ist ihr wohl ähnlich?«
»Weshalb?« fragte der Alte beinahe rauh.
»Ich meine nur, weil er auch solche schwarze Haare hat und dunkle Augen.«
»Ja, das hat er von seiner Mutter und noch manches andre – auch das heiße Blut!«
Und abermals war es still. Der Strandvogt ließ die Flechte wie spielend und kosend durch seine Finger gleiten, und der Knabe sah ihm mit träumerischen Augen zu. Nach einer Weile sagte er wieder:
»Ich hätte auch gern meine Mutter gekannt!«
Da legte der Vater wie in plötzlicher Rührung ihm die Hand auf den strohblonden Kopf:
»Armer Bursche – du hast von deiner Mutter gar nichts gehabt; du hast noch nicht auf den Beinen stehen können, als sie starb!«
In diesem Augenblicke klangen schwere Tritte auf dem Flur, und der Alte schob rasch die Haarflechte in seine Jacke. Gleich darauf ging die Thür auf, und ein junger, hochgewachsener Fischer trat ein; er trug das »Ölpaktje« (die mit Öl getränkte Leinwandjacke) über dem Wollhemd, große Wasserstiefel an den Füßen und den Südwester.
»Guten Tag auch, Vater, guten Tag, Klaus!« sagte er rauh und treuherzig.
»'n Tag, Wilm!« war der Gegengruß, der Ankömmling aber nahm den Südwester ab, so daß man sein breites, von hellem Haar und Bart umrahmtes Gesicht und seine klaren, blauen Augen erst recht sehen konnte, und ließ sich auf einem Sitze nieder, der unter seiner Wucht krachte. Der Knabe eilte herbei und half ihm, die riesigen Stiefel abzuziehen, dabei sagte Wilm:
»Ein steifer Nordwest! Das gibt noch Sturm heut abend!«
»Gott behüte die Schiffe, die draußen sind!« sprach der Alte und schnitzte wieder an seinem Modell.
»Und Jürgen Svanholt soll in diesen Tagen einlaufen; sein Weib, die Wencke, sitzt unruhig am Strande draußen und ist in Sorgen!«
»Das ist bei einer Kapitänsfrau nicht anders!« erwiderte ruhig der Strandvogt, dann war es wieder einige Augenblicke still, bis der Alte sagte:
»Ich hab's gestern gedacht, daß der Sturm kommt; ich habe, als wir heimfuhren, Glocken aus dem Wasser klingen hören!«
Der Knabe horchte hoch auf.
»Kann das wirklich sein, Vater?« fragte er.
»Glocken bedeuten nichts Gutes!« erwiderte der Strandvogt, »und das haben viele schon gehört – – das Läuten, wie das Stundenschlagen. Auf dem Kirchhof von St. Lewen (Cornewallis) ›glast‹ eine Glocke die halben Stunden im Grabe eines Kapitäns, der in See gestorben ist!«
»Und die Glocken von Vineta läuten sehr hell!« bemerkte Wilm.
»Wo ist denn Vineta?« fragte der Knabe und sah mit erwartungsvollen, träumerischen Augen nach dem großen Bruder.
Der hatte sein nasses Ölpaktje abgeworfen und sich in die Nähe des Herdes gesetzt, er sagte: »Das war auf Usedom eine große und reiche Stadt, aber die Leute waren übermütig und hartherzig, verhöhnten unsern Herrgott und lebten in Lüsten und Schwelgerei. Da ist die Stadt in einer Nacht versunken im Meeresgrund, und dort kann man sie bei klarer See am Ostermorgen sehen. Die Leute gehen in ihren prächtigen Kleidern durch die stillen Gassen, oder sie fahren in goldenen Wagen, die von nachtschwarzen Pferden gezogen werden, und die Türme und Zinnen der Häuser blinken wie Metall. Dann hört man auch die silbernen Glocken klingen. Aber wehe dem Schiffe, das zur Nachtzeit den unheimlichen Ton vernimmt – das zieht es hinunter unter brüllendem Hohngelächter in die alte Gespensterstadt – –«
Ein lautes, rauhes Lachen unterbrach den Erzähler, und die drei, welche es hörten, wendeten sich nach dem Eingang. Dort stand ein Bursche von etwa vierundzwanzig Jahren in der gewöhnlichen Fischertracht, nicht groß, aber sehnig und geschmeidig, mit einem gebräunten, glatten Gesicht, aus welchem ein Paar dunkler Augen blitzte; sein schwarzes Haar war kurz geschoren, und die ganze Erscheinung nahm sich seltsam aus gegenüber diesen drei hellblonden Gestalten und den breitschulterigen beiden Männern, die in der Küche waren.
»Erzählt ihr schon wieder die dummen Seemärchen dem Jungen? – Laßt ihn lieber ein Handwerk lernen, das hat einen festeren Boden! – Da hab' ich den Stall wieder in Ordnung gebracht für den Winter, und das ist, denk' ich, mehr wert, als am Strande zu lungern und allerhand Schnickschnack zusammenzuträumen!«
Der Sprecher warf das Beil, welches er in der Hand trug, unwirsch hinter den Herd und spuckte in die flackernde Flamme, der Strandvogt aber sprach:
»Du sollst mir den Seemann nicht verachten, Knut – das hab' ich dir oft gesagt; unser Gewerbe ist ehrlich wie nur eins und es macht Männer voll Kraft und ohne Furcht!«
»Ohne Furcht? – Möchte wissen, wer sich mehr fürchtet vor der Seeschlange und dem Klabautermann und dem Fliegenden Holländer und wie all das dumme Zeug heißt, als die Fischer und Seeleute!« lachte Knut höhnisch.
»Darin besteht die Kourage nicht, daß man den Teufel leugnet!« sagte ruhig Wilm.
»Aber daß man an ihn glaubt, darin besteht die Dummheit, und ich will nicht, daß der Junge verdummen soll!«
»Ruhig!« rief der Alte – »du redest wie ein unvernünftig' Kind. Was weißt du von dem, was zwischen Meer und Himmel vorgeht?«
»Hm, Wilm soll wohl mehr wissen, weil er zwei Jahre älter und einmal durch den Kanal gefahren ist. Natürlich – er ist der Gescheite, und ich bin der Dumme, so ist's ja immer gewesen! Laßt mich in Frieden! Wenn ihr eure verrückten Geschichten hier erzählt, bin ich überflüssig!«
Gleich darauf schlug dröhnend die Thür hinter Knut zu, und einige Augenblicke war es still in dem verräucherten Raume. Der Strandvogt hatte die Hände mit dem Schnitzmesser sinken lassen, und der Knabe lehnte sich an ihn, während Wilm durch das kleine Fenster hinausstarrte in die grauen Dünen.
»Das wird nicht anders – das hat er von seiner Mutter!« sagte endlich halblaut und wie mit einen leisen Seufzer der Alte, dann machte er sich wieder an seine Arbeit, während Wilm ihm schweigend zusah. Dem Knaben wurde die Stille unbehaglich, und nach einer Weile schlich er sacht hinaus.
»Das hat er von seiner Mutter«, wiederholte jetzt der Strandvogt – »dieses heiße, unruhige Blut, das nicht verstehen kann, wie unsre Väter glücklich waren in ihrem schlichten und beschwerlichen Berufe, das ungestüm gärt und doch nicht weiß, was es will!«
»Er ist dabei gut im Herzen«, sagte Wilm.
»Das mag sein, aber er ist zu leidenschaftlich und kann sich nicht bezwingen; ich fürchte, das wird sein Unglück. Und daß er mir nur den Kleinen nicht verdirbt!«
»Na, da sind wir beiden auch noch da!«
Der Alte atmete tief:
»Auf mich wird nicht lange mehr zu zählen sein. Höre, Wilm – heute nach mehr als dreizehn Jahren habe ich plötzlich wieder eine Haarflechte deiner Mutter zu Gesicht bekommen.«
Der Vogt zog den dichten Strähn des langen, schwarzen Haares hervor und zeigte ihn seinem Sohne, indem er fortfuhr:
»Du weißt, was das zu bedeuten hat: die Toten geben uns damit das Zeichen, daß sie uns bald an ihrem Haar nachziehen wollen!«
Ein Schatten war über das Gesicht Wilms gegangen, so daß es ein wenig blässer erschienen war, dann sprach er:
»Aber, Vater, so ist das doch nicht gemeint; du hast ja selber das Haar aufgehoben, da muß dir's wieder in die Hände kommen, das Wort gilt nur von dem Haar, das von fremder Seite zu uns kommt!«
»Laß gut sein, Wilm – ich steh' in Gottes Hand und sehe den Tod jeden Tag auf dem blauen Wasser. Ich fürchte mich nicht – mir ist's nur um den Jungen und daß ihn mir Knut verdirbt. Höre, Wilm, auf dich hab ich mein Vertrauen: Versprich mir's in die Hand, daß du dem Klaus wie ein Vater sein willst, wenn ich nicht mehr bin, so daß er die Achtung behält vor dem Gewerbe seiner Väter und Liebe zu seiner armen Heimat und zu der blauen See und Ehrlichkeit und – und – du weißt ja selber, was ich meine.«
Der Alte hielt ihm die braune Rechte hin, und der Sohn legte die seine hinein, fest und wortlos. Die Sache war abgemacht, und auf dem Gesicht des Strandvogts lag es wie stiller Frieden.
Indes rückte der Nachmittag vor, und der Wind ward heftiger. Er sang nicht mehr, er heulte, und man hörte das stärkere Brausen der erregten See. Die Männer wurden unruhig, und es drängte sie hinaus an den Strand, denn es war zweifellos, daß manche von ihren Genossen auch an diesem Tage ausgefahren waren, und Gefahr und Not werden hier auf der kleinen Erdscholle teilnahmsvoll von allen gleichmäßig empfunden. Der Strandvogt und Wilm zogen ihre ölgetränkten Jacken an und setzten die Südwester auf, ohne zu sprechen, und schweigend gingen sie nebeneinander her nach den Dünen.
Am Strande, nicht weit vom Leuchtturm fanden sie Männer, Weiber und Kinder, und alle starrten hinaus auf die rollenden, mächtigen Wogen, die mit weißem Gischt heranbrandeten. Der Himmel war bleifarbig, nur am Horizonte zeigte er ein fahles Gelb, das unheimlich auf der wilden See zu lagern schien, und unmittelbar darüber vereinzelte tiefschwarze Wolken. Die Leute am Strande waren alle schweigsam, es lag nicht in ihrer Art, über Not und Gefahr zu reden, aber jeder wußte, was der andre dachte. Eingehüllt in grobe Wolltücher saßen die Frauen, zusammengekauert im Sturme, da, und die Kinder schmiegten sich an sie, und die heißen Augen aller gingen hinaus nach der zornigen Flut.
Es waren nur noch drei Schaluppen draußen, aber an ihrem Schicksal nahmen alle teil. Es begann zu dämmern, als endlich zwei der kleinen Fahrzeuge sichtbar wurden. Sie rangen mit dem entsetzlichen Elemente, und bald sah man sie hoch zwischen den schaumigen Wogenbergen, bald schwanden sie wieder im wilden weißen Gischt, und die am Strande folgten unverwandt dem furchtbaren Kampfe, in dem die Menschen doch zuletzt noch Sieger blieben. Von der dritten Schaluppe war nichts zu sehen – vielleicht hatten ihre Insassen an einer andern Insel Unterkunft gefunden: Das war der Trost, den man dem grauhaarigen Weibe gab, das, als die Spannung in allen Gemütern nachzulassen begann, noch allein mit fest ineinander gekrampften Händen und glühenden Augen stumm und bleich dastand.
Da erschien auf der Höhe draußen noch ein Punkt, der auf der Brandung zu tanzen schien – das mußte wohl die letzte Schaluppe sein. Die Männer traten näher zusammen und machten sich mit kargen Worten gegenseitig auf die Bewegungen des fernen Fahrzeugs aufmerksam. Da sagte der Strandvogt mit einer gewissen Heftigkeit:
»Das ist kein Fischerboot, ihr Männer – das ist Svanholts Schoner!«
Einige Sekunden schwiegen alle, dann erwiderte einer: »Der Strandvogt kann recht haben! – Da sei ihm Gott gnädig, denn er läuft in die Brandung!«
Wieder war es still, der Punkt draußen aber ward zusehends größer, und selbst durch die Dämmerung erkannten die scharfen Augen der Männer bald die Umrisse des Takelwerks.
Die Heftigkeit des Sturmes steigerte sich noch immer, die Wogen brausten und donnerten und schlugen hinan an den Leuchtturm, der wie ein vorgeschobener stolzer Posten dastand und mit seinem weißen Gemäuer sich beinahe schaurig von der Dunkelheit abhob, die sich mit einem Male verbreitete, so daß man das bedrohte Schifflein dort draußen nicht mehr zu sehen vermochte. – Jetzt rieselte es hell und schimmernd über die zornigen Wellen hin; vom Leuchtturm ging das Licht hinaus, das sonst dem Seemann freundlich winkt auf seiner Fahrt und ihm eine bekannte Landmarke bietet; dem Schiffe da draußen aber, das mit dem übermächtigen Wogenschwall verzweiflungsvoll rang, war es eine furchtbare Kunde von Klippen und Sandbänken und vernichtender Brandung, die an den Küsten des Eilands lauerten.
Fast zur selben Zeit, als der helle Strahl vom Turme fiel, kam durch die Düne von demselben her ein Weib; ihre hellen, langen Haare flogen aufgelöst im Sturme, der die kreischenden Angstworte, die von ihren Lippen kamen, hohnlachend in hundert Fetzen riß. Erst als sie hart vor den entsetzten Männern stand mit ihren rollenden Augen und gerungenen Händen, vermochten diese ihr lautes Aufschreien zu verstehen:
»O rettet, helft! Was steht ihr da so müßig – mein Mann geht draußen zu Grunde – o, um des Himmels willen, helft!«
»Ist's denn auch gewiß, Wencke, daß es Euer Mann ist?« fragte der Vogt.
»Ob's gewiß ist? – O ich kenne den ›Sperber‹ von weitem – und ich habe ihn durch das Fernglas gesehen vom Turme, so fürchterlich nahe, mit seinen zerfetzten Stangen und seinem gebrochenen Klüverbaum – es ist Svanholt – o helft, helft!«
Jetzt kam vom Leuchtturm her noch ein Fischer, der Sohn des Wärters, Jürgen Kögge. Er rief: »Meine Schwester hat recht – 's ist der ›Sperber‹ – und er ist elend zugerichtet!«
Und wieder kreischte das Weib mit den angstvoll gerungenen Händen:
»Seid ihr denn von Stein? – Will sich denn keiner erbarmen? O daß euch Gott nicht auch einst verläßt in eurer Todesnot! Seht, seht!«
Und sie deutete hinaus nach der furchtbar tosenden See, und alle Augen folgten dem Winke. Draußen stieg ein Lichtschein auf, unheimlich und grell – ein rasches Aufleuchten und Flackern – ein Notsignal der vom Tode Bedrängten.
»Es geht nicht, wir können nicht hinaus – wir kommen nicht durch die Brandung! – Was meinst du, Jürgen?« fragte der Strandvogt.
»Er hat recht«, erwiderte der Gefragte und schaute traurig nach seiner Schwester, diese aber schrie wild und verzweiflungsvoll auf:
»So helf' mir Gott – dann thu' ich's allein, und wenn ich mit ihm sterben muß!«
Sie riß sich auf, und leicht gekleidet wie sie war, mit den langen flatternden Haaren, wollte sie fortstürzen nach einem Boote, aber starke Männerhände hielten sie fest:
»Seid vernünftig, Wencke – bedenkt, was sein kann – das heißt Gott versuchen!«
»Laßt mich los, laßt mich los!« kreischte sie dagegen und rang mit denen, die sie hielten – auf ferner See aber verlöschte der Feuerschein, und ein rasender Windstoß schien die Erde erbeben zu machen.
In diesem Augenblicke tauchte noch eine Gestalt auf bei der bewegten Menschengruppe, und eine Stimme rief rauh:
»Was geht da vor?«
Das Weib schrie wieder: »Mein Mann ist draußen in Not, und keiner will helfen! Da will ich selber –«
Aber die Männer unterbrachen sie:
»Sie ist verrückt – hier kann kein Mensch an gegen den Sturm – es geht nicht!«
Der eben Angekommene richtete sich trotzig auf:
»Was geht nicht? – Ihr wollt Seeleute sein und euch was zu gute thun auf eure Kraft und Tüchtigkeit? – Ja, wenn das Meer ruhig ist, ist die Kourage wohlfeil. Wer wagt's mit mir – ich fahre hinaus!«
Wencke hatte sich losgerissen von denen, die sie hielten, und war zu dem Sprecher hingeeilt. Sie ergriff wild seine Hände und rief:
»Das vergesse ich dir in meinem ganzen Leben nicht, Knut! Komm, und wenn es niemand wagt, ich fahre mit dir!«
Sie wollte ihn fortziehen, aber da erscholl laut und fest des Strandvogts Stimme:
»Halt! sage ich – und hier habe ich zu reden! Wenn's denn nicht anders sein kann, in Gottes Namen! Geht nach Hause, Wencke, und betet für Euern Mann und für uns, wir wollen's versuchen. Ich, meine beide Jungen und Jürgen Kögge sind genug für Leben und Sterben. Mit Gott – vorwärts!«
Weiter wurde nichts gesprochen. Die vier Männer wandten sich schweigend hinab gegen die brandende Küste, wo die Wellen sich bäumten wie zornige Rosse und hoch übereinander wegschlagend ihren weißen, wilden Geifer bis über die Dünenhügel warfen. Beim Lichtschein des Leuchtturms machten sie das Boot flott und mit dem Aufgebot aller Kraft legten sie sich in die Ruder. Die Zurückgebliebenen sprachen kein Wort, aber die Hände rauher Männer falteten sich still und fest ineinander, und die Blicke aus den wetterfesten Gesichtern folgten dem kleinen Fahrzeug, das sich dunkel abhob von der weißen Brandung.
»Sie kommen allzusammen nicht wieder!« sagte endlich ein alter Fischer, und die andern schwiegen, denn keiner hatte eine bessere Hoffnung.
Die Männer im Boote aber arbeiteten schwer gegen den brüllenden Sturm, der sie immer wieder zurücktrieb, und gegen die Wellen, die sich an den Untiefen brachen und mehr als einmal ein Kentern (Umschlagen) des Bootes herbeizuführen drohten. Klatschend schlugen die Wogen über dasselbe hin und durchnäßten nach wenigen Minuten die Männer vollständig, aber trotz der Nässe und Kälte des Novemberabends brach ihnen der Schweiß aus allen Poren, und unter unsäglichen Schwierigkeiten drangen sie vorwärts, bald tief hinabgleitend wie in einen grauenhaften Schlund, bald hoch auf schaumigem Kamme tanzend wie ein Spielzeug in leichtsinniger Kinderhand. – – –
Das Fahrzeug aber, das da draußen in Sturmesnot rang und bebte, war wirklich der kleine Schoner »Sperber«, und das Auge des liebenden Weibes hatte recht gesehen. Kapitän Svanholt führte Kohlen von England und gedachte in die Weser einzulaufen. Da geriet er nicht fern von seinem Ziele in den Sturm, nahezu im Angesichte seiner heimatlichen Scholle, wo sein Weib mit freudiger Sehnsucht ihn erwartete, und so sehr er sich sonst freute, wenn er von fern über die ruhige See hinschauend vom Decke seines schmucken Fahrzeuges die Küste des kleinen Eilands erblickte, diesmal erfüllte es ihn mit Entsetzen, denn er kannte die gefährlichen Untiefen und Klippen, die hier in der Nähe des Landes lauerten und einem Schiffe, das hineingetrieben wird, fast sicherlich den Untergang bereiten mußten.
Svanholt sah wohl, daß der Sturm kommen werde, aber er hatte gehofft, vor seinem Ausbruche noch irgend einen geschützten Landungsplatz erreichen zu können, doch das Unwetter kam wider Erwarten schnell, und mit Bangen sah der Kapitän, wie er trotz aller Bemühungen gegen das Land getrieben wurde. Die vier Matrosen, welche mit ihm an Bord des Schoners waren, waren brave Burschen, die sich von dem schnaubenden Sturme nicht so leicht einschüchtern ließen und jeden Befehl ihres Führers rasch und gewandt vollzogen.
Das Senkblei wurde ununterbrochen ausgeworfen, und die Miene des Kapitäns wurde immer ernster. Da sausten die ersten Windstöße heulend heran, und im nächsten Augenblicke flatterten zerfetzte Segelstreifen, und ein Krachen und Knattern verkündete, daß das Takelwerk gelitten habe. Alle Leinwand war lange schon gerefft, und das Schiff lief, trotzdem der Mann am Steuer nach Kräften abhielt, vor dem Winde und trieb gegen die Küste. Und wieder warf sich der Sturm in das Takelwerk, und Vorstenge und Klüverbaum stürzten prasselnd auf das Deck, über welches gleichzeitig eine wilde Sturzsee brandete.
Zornig tobte jetzt der weiße Gischt an die Planken und gab den furchtbaren Beweis, daß der Schoner in seichteres Wasser gekommen war, wo jeden Augenblick ein Aufrennen erfolgen konnte. Der Kapitän erkannte, daß Menschenmacht hier nicht zu nützen vermöge, aber er wußte, daß in dieser Stunde drüben an der heimischen Küste besorgte und teilnehmende Menschen standen, und er vermutete, daß sein Weib seine Gefahr ahnen könnte. Er wollte wenigstens ein Zeichen seiner Not geben. Er gebot, ein in Terpentinöl getränktes Segel zu einer Fackel zusammenzudrehen und es in Brand zu setzen.
Ein Matrose machte sich sofort an die Ausführung des Befehls, aber ehe er noch völlig vollzogen werden konnte, erhielt das Schiff einen furchtbaren Stoß, der es in allen seinen Planken erzittern ließ und ihm das Steuer zerbrach: Es war aufgefahren und saß nun fest inmitten der tobenden, rollenden Wellen. Die Sturzseen schlugen heftiger auf das Verdeck, so daß es nicht möglich war, auf demselben zu weilen, und die fünf bedrängten Menschen, die wehrlos der Gewalt des Sturmes und der Wogen preisgegeben waren, kletterten in die Masten und hielten sich dicht an die Wanten.
Jetzt brach der Fockmast mit zornigem Krachen – ein Matrose, der sich an denselben geklammert hatte, stürzte hinab in die sausende See und verschwand augenblicklich in dem wilden Gischt. Die andern konnten nichts thun zu seiner Rettung, sie vermochten kaum das eigne Leben zu fristen und hielten sich krampfhaft an den Stengen. Der treue Bursche aber, welcher das Feuersignal geben sollte, hatte sein zusammengedrehtes Segel nicht losgelassen; es in den Zähnen haltend, hatte er es hinaufgezogen nach dem Mast und mit unsäglicher Mühe gelang es ihm endlich, die seltsame Fackel zu entzünden. Mit grellem Scheine leuchtete das Licht auf und warf seinen unheimlichen Schimmer über das furchtbare Chaos und auf die fahlen Gesichter der todgeweihten Männer.
Der Matrose schwang das brennende Segel, daß die Flamme im Sturme ängstlich zuckte und loderte – da traf eine neue, furchtbare Sturzsee das Fahrzeug, und so groß war die Gewalt der Erschütterung, daß der Mann mit dem Feuersignale im Bogen herabgeschleudert wurde auf das Deck, und im nächsten Augenblick hatten ihn die Wellen hinweggespült in sein unermeßliches Grab.
Durch das grauenhafte nächtliche Dunkel stieg jetzt fern am Strande eine Rakete und gleich darauf eine zweite, ganz in der Nähe des Leuchtturmes, dessen Licht wie ein müder Stern leuchtete. Das waren Signale, welche die Fischer dort drüben gaben, nachdem das Boot in See gegangen war, und die Schiffbrüchigen riefen durch das Toben und Heulen es einander zu, und ein Strahl von Hoffnung begann in ihre Herzen einzuziehen. Kapitän Svanholt hatte sich mit einem schwachen Tau an der Marsstenge festgebunden, die beiden andern klammerten sich mit den halberstarrten Händen an die Wanten, und in dieser Lage harrten sie wohl eine Stunde lang, die ihnen aber eine Ewigkeit dünkte. Das Fahrzeug begann heftig zu schlingern, und den Mast schüttelte und beugte der Sturm – wenn die Hilfe nicht bald eintraf, waren die Armen dennoch verloren.
Mit glühenden Augen starrten sie hinein in die Brandung, ob sie nicht auf ihren weißen Schaumkämmen das rettende Boot sehen könnten, aber vergebens. Da wurde das lecke Wrack plötzlich emporgerissen, mit furchtbarer Schnelle trieb es vorwärts, dem Lande entgegen, aber nur wenige Augenblicke – dann scholl selbst durch das Toben des Meeres vernehmbar der entsetzliche Krach, welcher verkündete, daß es neuerdings auf den Grund geraten, und beinahe gleichzeitig brach der Hauptmast und warf die letzten drei von der Bemannung dem wilden Element in die gierigen Arme. Aus der blitzenden Brandung sah nur ein schwarzer, unheimlicher Rumpf hervor.
Die Männer in dem Boote aber arbeiteten indessen mit Riesenkraft gegen die Gewalt des Sturmes und der Wellen. Es waren erprobte Fäuste und ruhige Seelen, und sie hatten ähnliche Kämpfe wohl schon manchmal durchgemacht, aber so heiß hatten ihnen die Elemente noch niemals zugesetzt. Auf ihr kleines Fahrzeug konnten sie freilich im allgemeinen sich verlassen; es war für solche Fälle eingerichtet und das Untersinken dadurch erschwert, daß leere, fest verspundete Tönnchen unter die Duchten gelascht waren – aber trotzdem galt es Kraft, Ausdauer und Vorsicht. Schwierig war es vor allem, vom Lande abzukommen und die Brandung für das kleine Fahrzeug unschädlich zu machen, indem man so geschickt manövrieren mußte, daß sich die See jedesmal vor dem Boote brach, aber der Strandvogt und Wilm vor allen besaßen äußerste Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit.
Es wurde kein Wort in dem Fahrzeug gewechselt, jeder wußte, was er zu thun hatte, und was auf dem Spiele stand. Aber trotz aller Anstrengungen kam man nur langsam vorwärts, bis endlich etwa nach einer bangen schweren Stunde, während welcher das Boot öfters nahe am Kentern war, bei dem helleren Aufleuchten der Brandung das Wrack sich deutlich von dem weißen Grunde abhob. Es lag mit der Breitseite gegen die See und der umgekappte Hauptmast lief wie ein schwarzer, linienhafter Schatten über den glänzenden Schaum.
»Wir kommen zu spät!« sagte dumpf der Strandvogt, und Jürgen Kögge fügte bei:
»Wir können nicht heran, denn entweder zerschellen wir an der Schiffswand, oder wir werden durch treibende Spieren vernichtet. Dort lebt keiner mehr!«
»Wir versuchen es!« rief Wilm, und auch der Alte kommandierte: »Vorwärts!« und der Kampf begann aufs neue.
Es war die gefährlichste Arbeit, dem Wrack näher zu kommen, da das Boot entweder an seinen Wänden zerschmettert oder von der zurückprallenden See vollgeschlagen werden konnte. Man mußte versuchen, vom Heck aus demselben beizukommen, und die braven Männer setzten aufs neue ihre ganze Kraft ein. Da sah Knut in nächster Nähe des Bootes etwas Dunkles treiben, und gleich darauf schrie er:
»Hier ruft einer um Hilfe!«
Schwach und matt klang es wie eine Menschenstimme durch das Brausen der Gewässer – es war einer der Matrosen, der sich mit verzweiflungsvoller Kraft an einer treibenden Spiere anklammerte, fast erstarrt und nahezu bewußtlos. Mit schwerer Mühe galt es, ihn zu retten, aber es gelang, und bald lag der Mann, bedeckt mit Segelwerk auf dem Boden des Fahrzeugs, und wie ein belebender Feuerstrom rieselte der Schluck Branntwein, den man ihm eingeflößt, durch seine Glieder. Auf Befragen konnte er nur stammeln:
»Alle tot – ertrunken!«
Auf das hin gedachten die vier Männer wieder umzukehren, als sie, nun näher noch an das gescheiterte Fahrzeug herangetrieben, bei einem helleren Aufschäumen der Wellen dasselbe ganz deutlich vor sich sahen und der Strandvogt und Wilm fast gleichzeitig riefen:
»Da hängt noch einer!«
Und in den Wanten des gestürzten Mastes hing thatsächlich noch Kapitän Svanholt, zu seinem Glücke festgebunden, aber durch den Sturz am Kopfe verwundet, blutig, besinnungslos und erstarrt, denn immer aufs neue schlugen die Wellen über ihn weg. Der Mast ragte über das Wrack heraus, und sein Druck hatte im Verein mit dem eingeströmten Wasser es völlig auf die Seite gelegt, so daß der Zeitpunkt nicht mehr fern sein konnte, da es völlig bersten und sinken mußte. Der Mast aber mit dem angebundenen Manne schwankte und hob und senkte sich unheimlich in der Brandung. Es war nicht möglich, mit dem Boote dorthin zu halten, man mußte vielmehr eine solche Richtung nehmen, daß man unter Lee des Wracks kam und dieses so einigermaßen als Wellenbrecher benutzen konnte, zur Rettung des bedrängten Kapitäns aber war es nötig, daß einer sich bis zu ihm hinarbeitete und ihn so aus seiner furchtbaren Lage freimachte. Das war allen vier Männern klar, und Wilm und Knut sprangen gleichzeitig auf. Doch der erstere sagte mit ungewöhnlicher Festigkeit und Bestimmtheit:
»Laß, ich bin der ältere!«
Im nächsten Augenblicke hatte er ein lose um den Bootsmast geschlungenes Tau ergriffen, es um seinen Leib festgeknüpft und gleich darauf verschwand er in dem Gewässer. Keiner von den andern sprach ein Wort, aber jeder von ihnen wußte, was zu geschehen hatte. Der Strandvogt und Jürgen regierten das Boot, damit es nicht gefährdet werde, Knut aber hatte das abrollende Tau erfaßt, und der gerettete Matrose, der sich aufgerafft hatte und dessen steifen Gliedern die Arbeit erwünscht war, unterstützte ihn.
Wilm jedoch arbeitete sich mit seiner ganzen zähen Riesenkraft vorwärts, und es gelang ihm, den schwankenden, im Wasser treibenden Mast zu erfassen, an welchem Svanholt hing. Vorsichtig kroch er bis zu dem Bewußtlosen hin, den er jetzt erst erkannte und der ihm wie ein Toter erschien mit seinem fahlen, blutbefleckten Gesicht. Aber Wilm wollte selbst die Leiche retten und sie dem trostlosen, geängstigten Weibe heimbringen, und so begann er, sich mit den Füßen festklammernd, den Leblosen loszubinden und ihn an seinem eignen Leibe zu befestigen. Dann wartete er den Augenblick ab, da die Wellen zurückrollten von dem Wrack, und stürzte sich mit seiner Last hinab in die grauenvolle Tiefe.
Das Tau erhielt einen starken Ruck und die beiden Männer zogen an. Jetzt tauchte der Kopf Wilms aus dem Schaum und daneben noch ein zweiter. Der Schwimmer hatte seinen leblosen Genossen an den Haaren und zog ihn neben sich her, indes er mit dem freien Arme die Wogen durchschnitt. So kamen beide bis heran an das Boot, und mehrere Hände streckten sich aus, sie hereinzuziehen.
»Erst den da!« schrie Wilm, und der Kapitän ward unbehilflich und schwer über den Bord gebracht, aber bei seinem Anblick entsetzten sich alle, so daß für einige Sekunden nur die Aufmerksamkeit von dem Elemente abgeleitet wurde. In ebendemselben Augenblicke, da Wilm in das kleine Fahrzeug eingestiegen war, erhielt dasselbe einen furchtbaren Stoß, der es nahezu zum Kentern brachte, von dessen Wucht aber auch der am Steuer sitzende Strandvogt, der eben sich halb erhoben hatte, um einen Blick nach Svanholt zu werfen, jäh über Bord geschleudert wurde, so daß er auch im Augenblicke in dem schwarzen Abgrund versank.
Ein Schrei des Schreckens erscholl, aber selbst in diesem furchtbaren Momente verließ Wilm nicht seine Ruhe und Fassung. Er saß schon am Steuer und gab mit laut vernehmbarer Stimme seine Befehle – – das Boot mußte vor allem vor dem Untergang bewahrt werden, denn hier galt es noch mehr Menschenleben. Die zornigen Wellen hatten in einem Augenblicke das Fahrzeug hinabgeworfen in ein Wellenthal, und als es sich wieder hob, war es weit weg von der Stelle, wo der Strandvogt versunken war. Hier traf niemand eine Schuld, das wußten sie alle – es war eben ein grauenhaftes Verhängnis.
Stumm und von Entsetzen durchschauert, thaten die braven Männer ihre harte Arbeit weiter, und es war, als wären die Elemente mit dem letzten schweren Opfer, das ihnen geworden, für diesmal besänftigt. Der Sturm ließ nach, so daß sich Jürgen Kögge mit seinem anscheinend leblosen Schwager beschäftigen konnte, welchen er und der Matrose rieben und dem sie Branntwein einflößten, bis ein leises Zittern durch den starren Körper ging – für das verlorene Menschenleben war den Wellen ein andres abgerungen worden.
Am Strande loderte ein Feuer, um das die Zurückgebliebenen saßen, die nun mit freudigem Zuruf die Wiederkehrenden begrüßten, aber dieser verstummte, als die Männer ernst und wortlos aus dem Boote traten, einen leblosen Mann mit sich trugen, und als man vergebens nach der hervorragenden breiten Gestalt des Strandvogts spähte. Und während ein in Lust und Jammer aufschluchzendes Weib bei dem noch immer beinahe bewegungslosen Svanholt niedersank, umringten die rauhen, friesischen Fischer Wilm und Knut und streckten ihnen zum Zeichen ihrer herzlichen Teilnahme ihre braunen Hände entgegen mit treuem Drucke. Sie wußten, ohne daß gesprochen wurde, was geschehen war – und ein solch jähes Ende trat manch einen hier an: Schon morgen konnte der und jener nicht heimkehren, und die kleinen Holzkreuze auf dem Kirchhofe erzählten in wenig Worten ganz ähnliche Geschichten.
Still, begleitet von den andern, gingen die Brüder heimwärts, wo der jüngste schlief, der keine Ahnung hatte, daß er in dieser Nacht verwaist war, und keinem der Brüder fiel es ein, den Schlaf des Knaben zu stören: er würde zeitig genug das Unheil vernehmen.
In dem Wohngemach des Leuchtturmwärters Thomas Kögge aber lag auf dessen Bette der Kapitän Svanholt und schlug eben die Augen auf und wollte die Arme erheben nach seinem Weibe, aber er vermochte es nicht – seine Glieder waren schwer und steif; auch konnte er nicht sprechen oder lächeln. Aber Frau Wencke war dennoch glücklich; sie kniete an dem Lager und küßte die rauhe Hand des Gatten, und aus ihren Augen leuchtete eine Fülle von Glück und Liebe – niemand aber fiel es bei dem schwachen Lichtschein der kleinen Öllampe auf, daß ihr blondes langes Haar in dieser Nacht fast völlig weiß geworden war von der entsetzlichen Seelenangst.