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Viertes Kapitel.
Hinaus in die Welt

Die Kunde von dem Wiedersehen der Brüder war am nächsten Morgen schon durch das ganze Dorf verbreitet, und bei der allgemeinen Teilnahme, die man gegenseitig füreinander hatte, konnte es gar nicht anders sein, als daß sich zahlreiche Besucher im Leuchtturm einfanden, um Karl Kögge zu sehen und zu begrüßen. Es war schade, daß es kein Sonntag war, an dem man sich dem fremden Gaste hätte mehr widmen können – so kam und ging es immer nur »auf ein paar Worte« – nur ein Gast nistete sich nachmittags fester ein: Klaus Ordinger, der diesmal sogar seinen Besuch bei dem Kapitän versäumte, um sich ja nichts entgehen zu lassen von den zweifellos interessanten Erlebnissen des Steuermanns.

Er saß still in einen Winkel geschmiegt und freute sich an der kräftigen Gestalt des Seemanns, dem die Mühen und Gefahren der letzten Nacht auch nicht im mindesten anzumerken waren, und der nun, die kurze Thonpfeife im Munde, die Hände breitspurig in den Hosentaschen, dasaß vor dem Tische, auf dem das Seemannsgetränk dampfte, und nun mit Humor und Behagen erzählte. Er hatte viel gesehen und kam direkt von Cuba, wo er zwar das Gelbe Fieber gehabt, im übrigen aber sich wohl und behaglich gefühlt hatte. Bei der Erinnerung an die Stadt Habana ging ihm geradezu das Herz auf, wenn er sie im Geiste wiedersah im Abendlicht und durchflutet von einer buntfarbigen, überaus lebendigen Menschenmenge – nur die Moskitos, die fürchterlichen Moskitos, jene kleinen Blutsauger, die nirgends entsetzlicher sein konnten, als gerade dort, störten ihm einigermaßen die angenehme Erinnerung. Dann kam eine Geschichte von einer Fahrt nach den Bermudas-Inseln, nur ein Abstecher, so ein Hingondeln im Golfstrom, wo die Haifische nur so wie die Steinbutte wimmelten und fliegende Fische wie Fledermäuse über die Wellen wippten. Es ging durch die Sargasso-See, wo in der tiefen Salzflut riesenlanger unheimlicher Seetang wurzelt, der wie mit Polypenarmen heraufgreift nach den Schiffen, die Dampferschrauben umwickelt und oft die Fahrzeuge festhält wie mit eisernen Armen, indes in seinem Geflechtwerk das scheußlichste Getier wimmelt! Aber es ging gnädig! Schlimmer machte es der Sturm, der aber gottlob auf freier See abgewettert wurde.

Und nun kam eine Schilderung, wie sie lebendiger und derbkräftiger niemals vor den Ohren Klausens erklungen. Er sah und erlebte es ordentlich mit, wie die wilde See herangebraust kam, wie sich das Schiff ächzend auf die Seite legt, daß die Reeling bis an die Hängemattkasten eintaucht, wie das Wasser durch die Speigatten auf das Deck schießt und die Matrosen bis an das Bordgeländer gleiten, wie's dazu in den Lüften brauste und knatterte und eine prasselnde Regenbö, durchleuchtet von zuckenden Blitzen, niederging ...

Thomas Kögge war ganz bei der Sache und wurde ordentlich beweglich, und über sein Gesicht lief ein seltsames Zucken, als ob er alle Sprungfedern in demselben anspannte, und mitten in die Schilderung seines Bruders hinein warf er Kommandoworte, als ob er die Verantwortung für das bedrängte Schiff hätte: »Vorschoten backbord! – Bramgeitaue! – Kreuzbramraa in den Wind! – Gei auf Besan! – Fockschot anholen!« – und der Steuermann nickte zustimmend dabei.

In Klausens Gesicht waren die Augen immer größer geworden, und der Kopf neigte sich immer weiter vor, bis der ganze Bursche sachte aus seinem Winkel herankam, immer näher, ohne es selbst zu wissen und keinen Blick abwendend von dem lebhaften Erzähler.

Jetzt sah dieser erst das vor Erregung bleiche Knabengesicht mit dem strohgelben Haarkranz, und er unterbrach sich:

»He, Thomas, was ist das für 'n Topgast?«

Der Turmwärter sah Klaus und zog ihn an der Hand vollends heran:

»Das ist Klaus Ordinger, der Bruder von Wilm Ordinger, dem Vormann der Rettungsstation, dem sein Vater ertrunken ist, wie sie Svanholten herüberbrachten!«

»Komm her, mein Jung'!« rief der Steuermann – »die Geschichte gefällt dir wohl? – Möchst auch 'n Seemann werden?«

Die Augen des Knaben blitzten auf, und er nickte heftig mit dem Kopfe.

»Na, das ist brav von dir! Ich sage dir, Jung', es geht nichts über 'n braven und tüchtigen Seemann, und 's ist lustig auf dem blauen Wasser, wenn's auch mitunter 'n bißchen rumort. Dein Bruder hat mir und Svanholten aus der Not geholfen, das vergess' ich ihm nicht, und wenn du einmal einen brauchst, der dich auf die Planken bringt, dann frag' bei Karl Kögge an!«

Er reichte dem Knaben treuherzig die breite Hand, und dieser schlug so fest ein, als ob's einen Pakt für Tod und Leben gälte. –

Als er an diesem Tage aus dem Leuchtturm kam, begegnete ihm Knut; dieser streifte ihn mit einem finsteren Blick, aber er redete kein Wort zu ihm, nur abgewandt murmelte er: »Das muß anders werden, und ich will den Jungen zu seinem Glücke zwingen.«

Daheim traf Klaus seinen ältesten Bruder; er trat zu ihm hin, und indem er seine Hand ergriff, sprach er:

»Wilm, ich will Seemann werden! Karl Kögge will mich mitnehmen auf die Planken, sagte er – darf ich, Wilm?«

Der Angeredete sah in seiner ruhigen, ernsten Weise den Jungen an:

»Ja, mein lieber Jung', du sollst Seemann werden, aber jetzt noch nicht; in einem oder in zwei Jahren, wenn du noch stärker und tüchtiger geworden bist; einstweilen fährst du mit mir auf den Fang, und wenn's Zeit sein wird, reden wir mit Karl Kögge.«

Klaus senkte den Kopf, er kannte seinen Bruder und wußte, daß sich an seinen Worten nichts ändern ließ; er bemerkte nur schüchtern:

»Aber wenn Knut nicht will?«

»Laß du Knut! Wenn du willst und ich will, und unser seliger Vater will auch, dann soll schon Knut ebenfalls wollen!«

Damit war das Gespräch erledigt; aber in Klausens Seele blieb eine unbezwingliche Unruhe. Er hatte am nächsten Tage noch einmal den Steuermann gesehen, der ihm freundlich zunickte, und hatte im Leuchtturm erfahren, daß er zunächst nach Bremen fahre, um dort – sobald ihn die Angelegenheit des gestrandeten Schiffes nicht mehr fesselte – eine andre Stellung anzutreten, was immerhin kaum vor drei Wochen geschehen würde.

Die nächsten vierzehn Tage vergingen; Klaus fuhr mit seinen Brüdern auf den Fang, und Knut war schweigsamer als je; er hatte kein Wort gesagt, als der Junge die Schaluppe mit bestieg, mit Ölpaktje und Südwester angethan, wie ein Alter. Da galt es, ein Geschäft in Emden abzuthun und einen Einkauf zu besorgen, der eben dort günstig gemacht werden konnte. Wilm ging nicht gern von seiner Insel, wußte auch, daß es Knut ein Vergnügen bereite, einmal nach einer größeren Stadt zu kommen, und so veranlaßte er diesen zu fahren. Derselbe ging mit einer gewissen freudigen Hast auf den Vorschlag ein und zeigte seit langem wieder einmal ein mehr heiteres Gesicht: er erklärte, er wolle auch Klaus mitnehmen, und da Wilm nichts einzuwenden hatte, war dieser mit größter Freude dabei, und bei dem Gedanken, einen Tag einmal in andrer Umgebung sein zu können, jubelte und sang er, wie es sonst eigentlich weniger seine Art war.

Sie hatten herrliches Wetter zu ihrer Fahrt; der Frühmorgen war wundersam-schön und klar; ein leichter Wind schwellte ihr Segel, und so fuhren sie ohne alle Fährnis ein in den Ratsdelft (Hafen) von Emden, und Klaus sah aufgeregt und verwundert die verschiedenen Fahrzeuge von der stolzen Brigg bis zum schlichten Ewer und Fischerboot hier nebeneinander. Die Brüder gingen über die massive steinerne Brücke, auf welcher Matrosen in bunten Trachten herumlungerten, und dann durch die altertümlichen Gassen mit ihren hohen spitzgiebeligen Häusern, die so recht altfriesisch trutzig und ehrsam dreinschauten.

Dem Knaben war es ganz gleichgültig, wie ihn sein Bruder führte, und nachdem sie erst in einer kleinen Herberge einen Imbiß genommen und Knut sein Geschäft glücklich abgewickelt hatte, schritt er langsam schlendernd mit Klaus durch einen stillen, abgelegenen Stadtteil, und hier sprach er:

»Höre, mein Jung', nun will ich dir sagen, warum ich dich eigentlich mitgenommen habe. Sieh, das ist hier ein ander Leben als zu Hause, und ich will nicht, daß du ein Strandhocker werden sollst. Du hast dir in den Kopf gesetzt, Seemann zu werden – das ist all dummes Zeug, und du verstehst nicht dein Glück. Ich hab's gut mit dir vor, Klaus, mein Jung', und darum will ich dich hier zu 'nem tüchtigen Meister bringen, daß du ordentlich ein Handwerk lernst, das dich nährt und ehrt, und wo du nicht jeden Tag in Gefahr bist zu ersaufen. Hast mich verstanden?«

Dem Knaben sauste es vor den Ohren, und ein banges, beengendes Gefühl beschlich ihn; er kannte Knut und seine Heftigkeit, und hier in der fremden Stadt war er ihm hilflos preisgegeben; er nickte darum nur mechanisch mit dem Kopfe, und der andre fuhr fort:

»Das ist gut. – Also du bleibst hier, auch wenn Wilm dich so oder so wiederheimholen wollte. Denn ich mein' es gut mit dir, und darum sage ich dir, wenn du dir einfallen läßt, hier fortzulaufen und zu uns zurückzukommen, so schlage ich dir den Rücken braun und blau, und wenn sich Wilm dazwischen legt, erwürg' ich ihn!«

Klaus warf einen scheuen Seitenblick auf den Sprecher, dessen Gesicht rot geworden war und dessen Augen unheimlich funkelten; der Knabe dachte unwillkürlich an den Abend, wo er seine beiden Brüder hatte voreinander stehen sehen und die Axt erblickt hatte in Knuts Hand. Ihn überlief ein leises Zittern, und zaghaft sagte er:

»Ich will schon, Knut!«

»Das ist recht von dir, und sollst sehen, wie dir's gut gehen wird und wie du mir's noch einmal danken wirst. Und wir vergessen dich nicht und schicken dir auch geräucherte Schollen und Flundern und Geld, daß du dir was ansehen und kaufen kannst. Und hier, mein Junge, sind wir an Ort und Stelle!« Sie standen vor einem kleinen freundlichen Hause, über dessen Thür zu lesen war: »August Liesegang, Schreiner«, und als sie in den Flur traten, hörten sie schon das Kreischen des Hobels und das Schnarren der Säge. Dem Knaben zog es das Herz zusammen, und in die Augen stieg es ihm wie heiße Thränen, aber er biß die Zähne aufeinander, und so trat er neben Knut in die Werkstatt.

Dieser hatte wohl schon vordem mit Meister Liesegang gesprochen, denn er sagte nur kurzweg: »Da bring' ich den neuen Lehrjungen!«

Der Meister, ein hagerer Mann mit grauem Haar und freundlichem Gesicht, reichte ihnen beiden die Hand, und das Bangen Klausens wich einigermaßen. Was nun gesprochen wurde, hörte er nur halb, ihm kam aber die Geschichte in den Sinn von jenem Joseph, der von seinen eignen Brüdern verkauft wurde. Endlich war alles abgemacht, und der Meister sagte zu ihm:

»Du bist gesund und stark und hast wohl auch Lust zur Arbeit ich denke, wir werden gut miteinander auskommen!«

Klaus nickte still, und nun wendete sich Knut zu ihm:

»Na, dann halte dich brav und merk' dir's, was ich dir auf dem Wege gesagt habe; ich bin der Kerl, um das zu halten. Und jetzt weine nicht – ich will dein Glück – und hier hast du einige Mark, die ich erspart habe, und mache dir eine Freude dafür!«

Er drückte ihm hastig und als ob er selbst von Rührung übermannt würde, ein Beutelchen in die Hand und dann verschwand er. Der Meister aber nahm Klaus bei der Rechten und führte ihn hinüber in die Wohnstätte zu seinem Weibe und sagte:

»Da ist der neue Lehrling – heißt Klaus Ordinger und ist noch recht schüchtern! Gib der Meisterin die Hand, Klaus!«

Die Frau sah ihn gutmütig an, strich ihm über den blonden Kopf und sagte:

»Will dir gleich einen Imbiß geben und für ein Lager sorgen – du kannst mit dem Danziger schlafen!«

Damit war der Empfang vorbei, und Klaus trat wieder in die Werkstatt. – –

Als Knut spät abends heimkehrte, war Wilm noch wach. Verwundert sah er den Bruder allein kommen und fragte nach Klaus.

»Der ist in Emden geblieben!« erwiderte Knut lachend.

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, daß ich ihn zu seinem Glück gezwungen habe; er soll ein Handwerk lernen!«

»Du hast ihn doch nicht gezwungen, dort zu bleiben?«

»Gott bewahre – er ist ganz von selbst geblieben!«

»Das kann nicht sein – darüber muß ich klar sehen – sprich, bei wem ist er?«

»Das sag' ich nicht!« lachte Knut pfiffig höhnisch. In Wilms Gesicht stieg die Röte; er war nahe daran, von einer Wallung des Zorns übermannt zu werden, aber er bezwang sich gewaltsam.

»Ich werde ihn finden und zurückholen!« sagte er mit seiner gewohnten Ruhe.

»Der Junge wird nicht kommen, ich weiß; er hat 'nen guten Meister, und ich will ihn zu seinem Glücke zwingen!«

»Nicht gegen seinen Willen!« – Wilm nahm seinen Südwester und ging ins Freie; er fürchtete sich, daß sein Zorn dennoch losbrechen könnte; Knut aber pfiff drinnen am Herde ein lustiges Lied.

Am drittnächsten Morgen fuhr Wilm nach Emden; vergebens hatte er von dem Bruder zu erfahren gesucht, wo Klaus untergebracht worden war, dieser hatte die Antwort darauf verweigert und beigefügt, der Junge fühle sich wohl und werde nicht zurückkommen.

Wilm wußte nun freilich nicht recht, wie er seine Sache in der Stadt anfangen solle, denn er konnte weder in den Gassen herumfragen, noch von einem Handwerksmeister zum andern gehen, und so war er, nachdem er mit Unbehagen die Stadt durchwandert hatte, wieder an den Ratsdelft gekommen und stand auf der Brücke, um dem Treiben der Matrosen zuzusehen. Da kam vom Hafen her ein hagerer, ältlicher Mann, der blieb bei ihm stehen und fragte:

»Seid Ihr von der Insel **?«

Auf die bejahende Antwort Wilms fuhr der Fremde fort: »Da kennt Ihr ja wohl auch den Ordinger. Ihr thätet mir einen Gefallen, wenn Ihr ihm sagen wolltet, der Junge, den er mir gebracht, sei seit gestern aus meinem Hause verschwunden und – –«

Wilm griff nach den beiden Schultern des andern und legte schwer seine Hände darauf:

»Was sprecht Ihr da? – Wer seid Ihr?«

»Mann, schüttelt mir nicht die Seele aus den Knochen! Ich bin der Schreinermeister Liesegang, und der Junge – Klaus hieß er – war von seinem Bruder als Lehrjunge zu mir gebracht worden. Vorgestern machte sich alles ganz hübsch, der Bursche war ruhig und ziemlich anstellig, gestern früh aber war er weg, als wir aufstanden, und der Danziger hat keine Ahnung, wie das zugegangen ist. Nun habe ich hin und her gefragt, habe mir gestern den ganzen Tag verlaufen, aber kein Mensch weiß von dem Jungen!«

Wilm stand starr, und es rieselte ihm seltsam durch seine starken Glieder; er brachte nur mühsam heraus:

»Ich bin sein Bruder Wilm und bin seinetwegen gekommen. Und er hat gar nichts zurückgelassen?«

»Gar nichts, sage ich Euch – und er hatte es gut bei mir, das mögt Ihr wohl glauben!«

»Glaube ich – aber ich weiß, warum er gegangen, er wollte Seemann und nicht Schreiner werden!«

»Das habe ich mir auch gedacht, und darum bin ich immer wieder nach dem Hafen gegangen und habe gefragt, aber kein Mensch weiß von ihm zu sagen!« – –

Wilm litt es nicht mehr in Emden; vielleicht war der Knabe, von Heimweh getrieben, doch auf irgend eine Weise mittlerweile nach der Insel zurückgekehrt, und so zog es auch ihn nach der Heimat. Er traf Knut am Strande.

»Ist Klaus zurückgekommen?« war sein erstes Wort.

»Nein!« lachte der andre, »und er kommt auch nicht!«

Wilm packte in ungewohnter Erregung den Bruder an der Brust und schrie:

»Der Junge ist weg von Liesegang und aus Emden, und niemand weiß, wohin er gekommen ist!«

Alle Farbe wich aus Knuts Wangen, und seine Kniee wankten einen Augenblick; Wilm hatte ihn losgelassen, und nun standen sie nebeneinander, schweigsam, und doch in heftiger Erregung. Endlich bezwang sich der Ältere und sprach:

»Ein Ostfriese läßt sich nicht zu seinem Glücke zwingen, und ich hoffe noch immer, daß er wiederkommt; wenn's aber nicht geschieht, dann hast du ihn auf der Seele!«

»Ich?« schrie der andre und fand seinen ganzen alten Trotz wieder – »nein, nicht ich, sondern du und Thoms Kögge und Svanholt, die ihr ihm den Kopf voll Dummheiten gesetzt habt – ich hab's gut mit ihm gemeint!«

Und wieder gingen sie schweigend ihrem Hause zu, an dem Herde aber erneute sich der alte Streit, und keiner wollte die Schuld an dem Verschwinden Klausens haben.

Wohin aber war der Junge geraten?

In den ersten Stunden seines Aufenthalts im Hause Liesegangs war er ganz trostlos, und nur die Scham vor dem Meister und den Gesellen hielt ihn ab zu weinen; als er aber sich zur Ruhe begab mit dem Danziger, wollte dieser, um ihn aufzuheitern, etwas von seinen Wanderfahrten erzählen. Er war zuletzt in Bremen gewesen, und davon berichtete er. Bei dem Namen dieser Stadt fiel es aber wie eine Erleuchtung in die Seele des Knaben; dort lebte ja Karl Kögge, der wohl noch nicht zu Schiffe war und der ihn ja seines Schutzes und seiner Beihilfe versichert hatte, wenn er einmal auf das große Wasser wollte. Der Steuermann wurde jetzt sein Hoffnungsanker; hier in Emden konnte er nicht bleiben, das wäre sein Tod gewesen, nach Hause durfte er auch nicht gehen, wenn er nicht für sich und Wilm Schlimmes zu fürchten hatte – so blieb ihm nur Bremen.

Ganz unverfänglich fragte er den Gesellen, wie er von Bremen nach Emden gekommen sei. »Du Narr, mit der Eisenbahn geht es sehr geschwinde – aber ich habe den Weg meistens zu Fuße zurück gelegt über Oldenburg und Leer, und bin nur die letzte Station von Oldersum aus gefahren, um doch nobel hier einzuziehen!«

Der Geselle schwatzte, bis er selbst darüber einschlief, der Knabe an seiner Seite aber blieb noch lange wach, und war zuletzt sich ganz klar darüber, wie er verfahren wolle, um dem verhaßten Handwerk zu entgehen. Am andern Morgen zeigte er ein fröhliches Gesicht, machte nach Unterweisung des Meisters kleinere Handgriffe, redete zutraulich, wenn man ihn ansprach, und ließ sich auch zu Wegen in die Nachbarschaft verwenden. Auf einem solchen fragte er einen größeren Knaben, wo wohl die Straße nach Oldersum hinausführe, und der wies ihn freundlich zurecht.

Die nächste Nacht schlief Klaus wenig, und als kaum der Morgen graute, erhob er sich leise von der Seite seines Schlafgenossen, kleidete sich rasch an, steckte sein kleines Geldbeutelchen ein und huschte aus der Kammer und die Treppen hinab. Im Hause war alles tiefstille. Er zog den Riegel an der Thür zurück und trat in die menschenleere Gasse hinaus. Ganz Emden ruhte noch, in einen leichten grauen Nebel gehüllt, und durch den kühlen Morgen schritt der Knabe fröstelnd und aufgeregt und wandte sich auf die Straße gegen Oldersum. Als er die Stadt hinter sich hatte, atmete er tief auf, blickte noch einmal zurück nach ihren halbverschleierten Türmen, und dann setzte er rasch seinen Weg fort, dem matten, rötlichen Schein entgegen, der am östlichen Horizont heraufdämmernd das Nahen der Sonne verkündete.

In Oldersum fragte er nach der »Eisenbahn«. Er hatte sich glücklicherweise an einen Bahnwärter gewendet, und der Mann forderte ihn auf, mit ihm zu gehen. Auf die Frage desselben, woher er komme, nannte er ein Dorf, dessen Namen er beim Durchwandern gelesen, und erzählte, daß er nach Bremen wolle, um einen Verwandten aufzusuchen. Der Bahnwärter gab ihm die nötigen Weisungen, und nachdem Klaus wohl noch länger als eine Stunde in dem kühlen Wartezimmer gesessen hatte, kam der Zug.

Zum erstenmal in seinem Leben saß der Junge in einem Eisenbahnwagen und gab sich mit Bangen und Vergnügen zugleich dem neuen Genusse hin. Er sah das Land an sich vorüberfliegen, und die Bäume und Telegraphenstangen schienen sich vor ihm zu neigen. Dann kamen kleine Orte im Morgensonnenschein auf brauner Heide, endlich die Residenzstadt Oldenburg, wo etwas länger angehalten wurde. Der Knabe spürte Hunger, und da er sah, daß auf dem Perron mancherlei Eßbares feilgeboten wurde, faßte er Mut, einen der befrackten Kellner, die ihm als sehr vornehme Herren erschienen, anzureden und eine belegte Semmel zu kaufen. So gut hatte ihm selten eine Speise gemundet, und er fühlte sich ordentlich frischer, lebensvoller und unternehmungslustiger, als die Fahrt weiterging durch das sonnige Flachland, und fast zu früh für sein Behagen kam man in Bremen an. Er hatte in seiner Unkenntnis eine Fahrkarte nach dem Hauptbahnhof gelöst, und so fuhr er durch den Weserbahnhof und die Albertstraße entlang und stieg nun erst aus.

Jetzt sank ihm der Mut mit einem Male wieder. Das Menschengewühl auf dem Bahnhofe, das Durcheinanderhasten und Rufen, Pfeifen und Läuten verwirrte ihm beinahe die Sinne, so daß er stehen blieb und nun manchen Puff und Stoß erhielt, bis er so allgemach von den andern mit fortgeschoben wurde und auf die Straße hinauskam. Er sah mit Verwunderung die großen schönen Häuser am Breiten Weg und ging aufs Geratewohl die Bahnhofstraße hinein über den Stadtgraben bis an das Herdenthor. Hier wurde ihm noch mehr bange. Die Stadt wurde immer größer und weiter; jetzt stand er in schönen Anlagen, aber jenseit derselben waren immer wieder Häuser und Häuser, aber von Wasser war nichts weiter zu sehen, als der überschrittene Stadtgraben. In seiner Angst fragte er den ersten besten, wo der Hafen wäre, denn nach seiner Meinung konnte sich Karl Kögge nur in dessen Nähe aufhalten und mußte auch dort zu erfragen sein, denn ein Steuermann war in seinen Augen kein gewöhnlicher Mensch mehr, sondern eine Respektsperson. Er erhielt die erwünschte Auskunft, und nun eilte er »Am Wall« entlang und beim Stephanithor vorbei und hätte beinahe laut aufgejauchzt, als er Masten und wehende Wimpel und bald darauf auch den glitzernden Wasserspiegel der Weser sah, über welchen er bereits rasch hinweggefahren war. Nun erblickte er auch Matrosen und Hafenarbeiter und begann nach dem Steuermann Karl Kögge zu fragen, aber niemand konnte ihm Auskunft geben. Die einen fertigten ihn kurz und barsch ab, andre fragten, auf welchem Schiffe der Gesuchte sein sollte, und darüber vermochte Klaus freilich nichts anzugeben, und noch andre rieten ihm, nach Bremerhaven zu fahren, wo er seinen Steuermann leichter finden dürfte; dem Knaben wurde das Herz unendlich schwer, und es beschlich ihn beinahe etwas wie Reue, daß er aus Emden fortgelaufen war.

Er irrte wohl zwei Stunden schon am Wasser entlang und war müde und hungrig. Er fragte nach einem Bäckerladen und kaufte sich einige Semmeln. Mit diesen setzte er sich wieder in der Nähe des Wassers auf einen Stein und aß in Aufregung und Angst, so daß ihm trotz seines Hungers jeder Bissen in der Kehle quoll. Bei den Werften sah er Matrosen in einem Wirtshause aus- und eingehen; dorthin begab er sich und fragte schüchtern bei dem Wirte an, ob er nicht wisse, wo Karl Kögge sei.

Der Wirt, ein breitschulteriger Mann, der auf dem rechten Beine hinkte, war wohl selbst vordem Seemann gewesen; er schaute dem Burschen in das ängstliche Gesicht und erwiderte:

»Ja, der Steuermann Karl Kögge! Gestern ist er dagewesen und hat seinen Grog getrunken. Der hat eine Heuer angenommen auf 'nem Kauffahrer und geht wohl in zwei bis drei Tagen in See – den Namen von dem Schiffe hab' ich vergessen, ich höre allzuviel solch Zeug. Kann sein, er kommt nochmals vor!«

Das war doch ein Lichtstrahl für den armen Jungen, aber der Wirt hatte nicht viel Zeit, sich mit ihm zu befassen, seine Gäste riefen, und so stand Klaus bald wieder allein auf dem Flur und hörte aus der Wirtsstube das Lärmen und Singen der angeheiterten Matrosen. Er dachte nun, nicht von dem Hause zu weichen, in der festen Zuversicht, daß sein Mann noch einmal wieder hierher kommen werde. Wenn er aber nicht kam? – Die Frage erfüllte Klaus mit Entsetzen, und die Brust zog sich ihm aufs neue zusammen.

Der Tag verging langsam. Der Hunger zwang Klaus noch einigemal, sein frugales Mahl vom nächsten Bäcker sich zu versorgen, aber auch seine geringe Barschaft, welche durch die Eisenbahnfahrt sehr angegriffen worden war, schmolz ganz bedenklich zusammen. Er schlich wiederum, als es anfing zu dämmern, nach der Schenke, wo der Wirt, den er nun schon zum vierten Male an diesem Tage nach Karl Kögge fragte, unwirsch ihm zurief, der Steuermann sei nicht da und werde wohl schon im Bremerhaven sein, um sich dort einzuschiffen.

Da ging der Junge fort, wie gebrochen in innerster Seele. Es kam der Abend, die Gaslaternen brannten, es funkelte von Lichtern auf dem Strome, und die Sterne glitzerten über der ernsten Stadt und über dem geängstigten, verlassenen Knaben, der nicht wußte, wo er die Nacht zubringen sollte. Ermüdet und ganz mutlos sank er endlich auf einer Bank nieder, nicht weit vom Weserbahnhof. Das Geräusch des Verkehrs störte die Stille, schrill pfiffen die Lokomotiven, die Züge rasselten, vom Strome herauf tönte Singen, ihm aber war zum Sterben weh; er legte die Hände über das Gesicht und schluchzte laut und bitterlich und dazu begann er im stillen inbrünstig zu beten.

Da sprach eine rauhe Stimme plötzlich neben ihm:

»Was weinst du denn, mein Junge?«

Klaus fuhr bei dem Klange zusammen und sah auf; vor ihm stand eine breite, behäbige Seemannsgestalt und schaute ihn treuherzig an, der Knabe aber rief – und seine Stimme durchklang es wie ein helles Jauchzen:

»Ihr, Karl Kögge? – Gott sei Dank!«

»Top und Takel, kleine Kröte, wer bist du denn, daß du mich so vertraulich ansegelst?«

»Ich bin ja Klaus Ordinger!« schluchzte und lachte in einem Atem der Knabe und umklammerte mit seinen beiden Händen den Arm des Mannes.

»O, verlaßt mich nicht und nehmt mich mit aufs Meer, hinaus in die Welt!«

»Potz Bugspriet – du hast aber die Sache eilig, mein Jung'!

Aber nun erzähle mir vorerst, wie du hierher kommst und was die ganze Geschichte bedeuten soll?«

Und der Knabe erzählte nun treuherzig alles, wie es ihm in Emden ergangen, wie er bei dem Schreiner hätte umkommen müssen, wie er sich aber auch Knuts wegen nicht heimgetraut habe; seine ganze Hoffnung sei der Steuermann Karl Kögge gewesen – und zuletzt bat er wieder, ihn mitzunehmen, sein Bruder Wilm und sein seliger Vater seien ja auch damit einverstanden, daß er ein Seemann werde.

»Na, denn in Gottes Namen! Wir wollen die Sache schon in den rechten Pott bringen!« sagte der Mann; »jetzt komm' du mit in die Herberge, denn ich meine, du hast heute nicht viel Warmes im Magen!«

Bald darauf saßen sie in der Schenke, in welcher Klaus heute so oft vergeblich Nachfrage gehalten hatte, und der Knabe ließ sich das dampfende Mahl, das der Wirt ihm vorsetzte, wohlschmecken. Der dunst- und qualmerfüllte, verräucherte Raum, mit den lärmenden und zechenden Matrosen, dünkte ihm schön und herrlich, und der sonst ruhige und stille Junge wurde gesprächig, so daß der Steuermann seine wahre Freude an ihm hatte.

»Morgen früh schreibst du an deine Brüder, damit sie wissen, wo du bist, und ich will ein paar Zeilen dazuthun, daß sie keine Sorge zu haben brauchen, und übermorgen lichten wir die Anker nach Westindien. Ja, mein Jung', es geht weit in die Welt! Und jetzt such' deine Koje auf, du wirst müde sein; morgen weck' ich dich beizeiten!«

Bald darauf lag Klaus in einem guten Bette, das der Wirt besorgt hatte, und schon nach kurzer Frist war er in tiefen, traumlosen Schlaf versunken.


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