Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.
Die Rettungsstation

Nach dem Sturme war Ruhe eingetreten; der nächste Morgen war klar und kalt und still, blau und freundlich spannte sich der Himmel über Meer und Land, und die Wellen kamen wie spielend an die Uferdünen mit leisem Klatschen.

Im Hause des Strandvogts war es noch ruhig; die beiden älteren Brüder schliefen nach der Anstrengung dieser furchtbaren Nacht trotz des schweren Verlusts, welchen sie erlitten hatten, und Klaus besaß die ganze Sorglosigkeit der Jugend, die auch ihn nicht eher erwachen ließ, als bis sich die Schatten der Dämmerung, die an einem Novembermorgen spät genug weichen, zerstreuten, und bis ein hellerer Schein durch die kleinen Fenster brach.

Nun rieb er sich die Augen, starrte nach dem Feuerherde und war verwundert, daß dort nicht die gewohnte Flamme loderte. Das schien ihm seltsam, ja beinahe unheimlich, und mit einem Male kam ihm die Erinnerung an den Sturm und daran, daß sein Vater und seine Brüder hinausgefahren waren, um Svanholt zu retten, wie ihm die alte Gred, die Nachbarswitwe, erzählt hatte, welche im Haushalte Ordingers mit aushalf. Den Knaben erfaßte bei dem Gedanken eine unbestimmte Furcht, er sprang aus dem Bette und eilte nach den Verschlägen seiner Brüder; sie schliefen beide, und Klaus atmete auf. Nun schaute er nach dem Lager seines Vaters – – es stand noch unberührt, und von einer entsetzlichen Ahnung ergriffen, schrie Klaus plötzlich auf:

»Wo ist der Vater?«

Der Ruf drang bis hinein in den tiefen Schlaf der Brüder, gleichzeitig fuhren beide empor, und mit erschrecklicher Klarheit kam ihnen zum Bewußtsein, was geschehen war. Beide wurden aber auch von demselben Gefühl erfaßt für den Jungen, der seines Vaters Liebling gewesen und der ihn am schwersten vermissen würde. Halbangekleidet, wie sie sich in der Nacht in ihrer furchtbaren Blödigkeit auf ihr Bett geworfen, sprangen sie auf und eilten zu Klaus hin, der bleich und entsetzt, mit großen, furchtsamen Augen dastand. Beide streckten sie die Hände aus, als wollte ein jeder den Knaben an sich ziehen, und so kam es, daß sie alle drei hart nebeneinander standen. Wilm aber sagte mit bewegter Stimme:

»Er schläft in unsres Herrgotts Keller!«

Klaus verstand das Wort sehr wohl; er schluchzte plötzlich laut auf und preßte sich fester an Wilm, der ihm die breite Hand auf den Kopf legte und, so weich seine rauhe Stimme es gestattete, sprach:

»Mein armer Junge! Nun will ich dein Vater sein!«

Da regte sich in Knut das heiße, südliche Blut der Mutter, auch daß Klaus in seiner Betrübnis sich mehr an den ältesten Bruder schmiegte, verdroß ihn, denn auch er liebte den Jüngsten auf seine Weise; erregt sagte er:

»Dann soll er ja wohl auch wieder Seemann werden?«

»Der Vater hat's so gewollt – aber davon reden wir später!« erwiderte Wilm ruhig.

»Damit er auch in des Herrgotts Keller kommt?«

Die Stimme Knuts klang höhnisch und scharf, aber der ältere Bruder ließ sich nicht erregen; er entgegnete:

»Wir stehen alle in der Hand Gottes!«

»Das ist ein ander' Ding, deswegen brauche ich das Unglück nicht jeden Tag herauszufordern – und mit meinem Willen wird der Jung' kein Schiffer!«

Klaus, der still vor sich hin geschluchzt hatte, ergriff mit einem Male die Hände der beiden älteren Brüder und legte sie ineinander, und in diesem Augenblicke war's, als ginge ein Engel durch den kleinen, niedrigen Raum. Sie standen jetzt alle drei umschlungen, den Jüngsten in der Mitte.

»Wir wollen Feuer machen und unsre Suppe kochen; dann gehen wir an den Strand hinab und sehen, ob ihn die Wellen uns wiedergeben!«

Dieses Wort Wilms brachte Bewegung in die kleine Gruppe; schweigend griff ein jeder zu, bald prasselte und knisterte es auf dem Herde, und Knut schnitt das Brot für die Morgenmahlzeit in die braune Schüssel. Währenddem hatten sich alle drei völlig angekleidet, und wie sie um das einfache dampfende Mahl saßen, legte der Knabe nach einigen Augenblicken seinen Löffel beiseite und sagte:

»Ich kann nicht – ich kann nicht schlucken!«

Dann liefen ihm die Thränen wieder über die Wangen. Wilm wischte sie ihm mit der rauhen Hand ab:

»Laß sein, Jung' – er ist in Ehren gestorben, und ich wünsch' mir keinen besseren Tod! Er hat's vorausgewußt!«

»Wieso?« fragte Knut.

»Er hat gestern einen Haarstrahn unsrer Mutter nach dreizehn Jahren unversehens zur Hand bekommen – das bedeutet nahen Tod; sie hat ihn heimgeholt.«

Knut warf unwirsch den Löffel weg und stand auf.

»Schwatze doch nicht wieder solche Dummheiten!« rief er und mit schweren Schritten ging er hinaus.

»Und ich werde doch ein Seemann«, flüsterte Klaus und neigte sich zu dem älteren Bruder, welcher ihm wieder leicht mit der Hand über den Kopf fuhr. Nach einer kurzen Weile erhob sich Wilm:

»Du magst Holz klein machen; Arbeit vertreibt die traurigen Gedanken – ich will nach dem Strande gehen, vielleicht – –« Er wollte hinzufügen: »Vielleicht gibt uns die See den Vater heraus!« aber er unterdrückte das Wort und wandte sich langsam ab.

Klaus ging nach dem Holzstalle. Die Thränen liefen ihm über die Wangen, während er mit dem Beile das Holz zerkleinerte, und ab und zu mußte er so laut aufschluchzen, daß er nicht weiter arbeiten konnte.

Indes schritt Wilm durch die Dünenhügel nach dem Strande. Die Sonne war hell am klaren Himmel aufgegangen und goß ihren Glanz über die leichtbewegte See, deren zornige Erregung von der vorigen Nacht ganz geschwunden war. Weit draußen zogen mit braunen Segeln die kleinen Fischerschaluppen zur Arbeit, und die leise rauschenden Wellen spülten wie mit verhallenden Klagelauten gegen die letzten Dünenausläufer. An dem Strande schritt Knut hin mit gesenktem Kopfe, und da ihn Wilm sah, wendete er sich nach ihm hin. Ein einziges Fahrzeug lag nahe dem Lande und wiegte sich träge auf den Wellen – es war das der Familie Ordinger.

»Heute fahren wir nicht aus, Knut, und unser guter Vater fährt gar nicht mehr!« sagte Wilm, der andre aber schwieg.

»Du suchst, ob die Wellen ihn uns wiedergeben? Ich fürchte, heute noch nicht ... vielleicht in zwei, drei Tagen!« sagte er wieder.

»Vielleicht!« erwiderte der andre, wie mechanisch das Wort nachsprechend.

»Immerhin könnten wir den Strand entlang suchen.«

Knut blieb stehen, er sah dem älteren Bruder fest und beinahe finster in das ernste, traurige Gesicht und fragte:

»Sprich, was soll mit dem Jungen, mit Klaus werden?«

»Laß das heute, Knut, das eilt nicht!«

»Doch – ich möchte es wissen.«

»Der selige Vater wollte, er soll Seemann werden, und Klaus will es auch!«

»Und ich sage, er soll nicht!« brauste der andre auf. »Wollt ihr ihn denn mit Gewalt umbringen? Ich habe auch meinen Teil an ihm und habe den Jungen so lieb wie du und vielleicht noch einen Teil lieber, aber ich will darum nicht, daß er täglich in Gefahr und Todesnot kommt. Er soll nach Emden und ein redlich' Handwerk lernen.«

»Sind wir Fischersleute nicht redlich?«

»Lege nicht jedes Wort auf die Wage – ich meine ein Handwerk, das ruhig nährt, wie Schreiner, Zimmermann – –«

»Willst du den Jungen zwingen, wenn er nicht Lust zeigt?«

»Der Junge hat keinen Verstand, wir müssen für ihn denken. Vor allem aber muß er fort, damit er andres sieht als nur Fischersleute. 's ist genug, daß mein Leben hier verfahren ist, seines soll's nicht auch werden!«

»Das muß aber doch nicht heute entschieden werden. Und sieh, Knut – der selige Vater hat mir erst gestern in Ahnung seines Todes den Jungen auf das Herz gebunden, und ich hab's ihm in die Hand versprechen müssen, daß er die Achtung behält vor dem Gewerbe seines Vaters und die Liebe zu unsrer kleinen Insel und zu dem blauen Wasser –«

»Ach so!« unterbrach ihn Knut höhnisch – »du bist also zum Vormund eingesetzt; wohl auch über mich?«

»Werde nicht unwirsch, Knut!«

»Ich weiß ja, daß du immer alles gegolten hast und ich nichts, denn du siehst herein in das friesische Fischergeschlecht, ich aber sehe meiner armen Mutter ähnlich, die sie hier auch nur als eine Fremde über die Achsel angeschaut haben; es soll mich gar nicht wundern, wenn du auch alles erbst und mich aus dem Hause hinauswirfst – –«

»Aber Knut, wie magst du so reden?« rief Wilm bewegt und griff nach der Hand des Bruders, die dieser ihm wieder entzog.

»Laß mich – – und wegen des Jungen reden wir noch weiter!«

Er rannte zornig fort, den Strand entlang, Wilm aber sah ihm einige Augenblicke ruhig und mit einer Wehmut nach, die seltsam zu seinen breiten, kräftigen Zügen paßte, dann schritt er in entgegengesetzter Richtung hin, die Augen nach der See gerichtet. Seine Gedanken wendeten sich fast augenblicklich wieder dem toten Vater zu, und er vermeinte bei jedem dunkleren Schatten, der in den Wellen trieb, seinen Leichnam zu sehen, den das Wasser heranspüle.

Und seltsam – auch Knut vergaß, sobald er den Bruder verlassen hatte, seinen Groll, ja, es erfaßte ihn beinahe wie eine Reue über seine harten Worte und so überkam auch ihn etwas wie Sehnsucht nach dem toten Vater, der immer vermittelnd zwischen den ungleichen Naturen der Brüder gestanden hatte, und auch seine Augen suchten, über die Flut hinschweifend, ob er ihn nicht herantreiben sehe.

Es vergingen Stunden, und keiner von beiden kam nach Hause zurück. Klaus hatte lange Holz gespalten, dann war er in den Stall gegangen zu den Schafen, und hatte sich unter den Tieren, die ihn mit blöden Augen anglotzten, hingesetzt und hatte ihnen, wie mitfühlenden Wesen, das Leid und den Jammer seiner jungen Seele geklagt, und sie hatten ab und zu geblökt, als wollten sie ihn trösten. Endlich schlich er wieder nach der Küche zurück. Eben war die alte Nachbarin gekommen, um nach dem Rechten zu sehen und Ordnung zu machen; sie sah den stillweinenden Jungen und nahm ihn bei der Hand, aber bei der rauhen, ruhigen Art jenes Menschenschlags vermochte sie ihm nicht viel zum Troste zu sagen, und Klaus mußte sich daran gewöhnen, diesmal wie in seinem späteren Leben mit seinem Schmerze selbst fertig zu werden.

Er hatte sich an das Lager des Vaters gesetzt, indes das Weib das Feuer unter dem Kessel anzündete und Kartoffeln vorrichtete; lustig prasselte die Glut auf dem Herde, der Knabe aber hatte seine Hand auf das Deckbett gelegt und streichelte es, als ob es der Vater selbst wäre. Dabei aber wurde ihm das Herz so voll, als ob es zerspringen wollte, so daß er es nicht mehr daheim zu ertragen vermochte. Er riß seine Mütze vom Nagel, streifte seine Wolljacke über und unbekümmert um die Alte, die ihm unverständliche Worte nachrief, eilte er hinaus ins Freie.

Die frische Brise des Novembertages that ihm wohl; die Sonne, die vom tiefblauen Himmel leuchtete, schien dem verlassenen Knaben in die wunde Seele, und das leise Rauschen vom Meere her war ihm wie ein Gruß des toten Vaters. Ach, wenn er ihn nur wenigstens sehen, nur bei seiner Leiche sitzen könnte! Er war an den Strand gekommen und ging daran hin, unbekümmert um alle die schönen und interessanten Dinge, die er hundertmal gesehen, die ihn sonst aber immer wieder erfreut hatten. Unzählige, zierlich geformte, buntfarbige Muscheln hatte die Flut ausgeworfen, und sie glänzten und blinkten im Sonnenstrahl. Da lag das niedliche, spitzgewundene Gehäuse der Krullschnecke, dort die als heimische Leckerbissen beliebten Herzmuscheln, deren Schalen zu Mörtel verwendet werden. Daneben winkten mit ihren zarten roten und bläulichen Farbentönen die schönen schmetterlingsähnlichen Zellenmuscheln, viereckige Rocheneier, die feingezeichneten Zelte des Seeigels, zackige, zierliche Seesterne und dazwischen bewegte sich träge ein Einsiedlerkrebs, der sich seine Beute suchte.

Der Knabe trat unachtsam manches Schöne nieder oder drückte es mit seinem derben Schuh in den kiesigen Sand, seine Blicke aber gingen hinaus auf die See, die wie kosend und plaudernd heranrollte, und ihn erfaßte eine wundersame Sehnsucht, sich hinaustragen zu lassen von dem blauen Wasser in eine unbekannte, fremde Wunderwelt, und dem Knaben wurde die Seele so eng und bange. Daneben gedachte er des geliebten Vaters, den die schmeichelnde Flut im Zorne zu sich hinabgezogen, und die ganze Liebe seines jungen Herzens übermannte ihn aufs neue.

Da wurde seine Aufmerksamkeit mit einem Male von einem dunklen Gegenstand angezogen, der bald auf- bald niedertauchend von den Wellen herangerollt wurde. Klaus vermochte die Augen nicht abzuwenden, und wie es nun näher kam, da sah ihn mit einmal ein Menschenantlitz aus den Wogen her an, und wie die Sonne eben auf die Züge schien, die hell sich aus dem dunklen Wasser hoben, that der Knabe plötzlich einen lauten Schrei, als ob es ihm das Herz zersprengte, und ohne Besinnen lief er hinein in die Flut und eilte dem Körper entgegen, mit dem die Wellen spielten. Er hatte den Vater erkannt.

Jetzt warf eine größere Woge den Menschenleib näher zu ihm heran, er haschte danach mit seinen zitternden, aufgeregten Händen, er ergriff das rauhe Gewand und so zerrte er den Toten hinter sich her bis an den Strand. Mit der Kraft der Liebe und der Verzweiflung zog er den schweren Körper an das Gestade und jetzt erst sank er keuchend, stöhnend und schluchzend bei demselben nieder. Ja, das waren die geliebten Züge, so ruhig und friedlich, so unentstellt von dem Elemente, das der Tote so geliebt hatte und das ihm doch zum Verhängnis geworden war. Was kümmerten den Knaben die Nässe und die Starrheit der Glieder; er streichelte dem Teuren die Wangen und die Hände und redete zu ihm, wie wenn er ihn lebend wieder hätte.

So kauerte er noch lange bei dem Leichnam, bis ihn anfing zu frieren, trotz des Novembersonnenscheins. Jetzt sah er sich um, als ob er aus einem Traume erwache, das Bewußtsein der Sachlage schien ihm klar zu werden und er spähte um sich, ob er keinen Menschen sähe. Ringsum war alles einsam und ausgestorben, aber nicht fern ragte der Leuchtturm so weiß und groß – dort waren teilnehmende Herzen, und dorthin eilte er mit beflügelten Schritten. Die Eile that ihm wohl, der Frost, der ihn geschüttelt hatte, wich aus seinen Gliedern, und so trat er rasch atmend und ohne Gruß in die Wohnung des Leuchtturmwärters Thomas Kögge.

Dieser war ein grauhaariger, breitschulteriger Gesell mit einem beinahe finsteren Gesicht, in dem jedoch ein paar treuherzige Augen mit den wenig anheimelnden Zügen aussöhnten. Er saß mit seinem Sohne eben zu Tische bei dem dampfenden Alltagsgericht, einer Schüssel Kartoffeln und gekochtem Fisch, und eine Magd ging ab und zu. Da rief Klaus durch die geöffnete Thür:

»Mein Vater ist da! Helft, helft!«

Die beiden Männer erschraken nicht bei dem Rufe, denn sie wußten beide im Augenblicke, um was es sich handle; aber sie standen sogleich auf vom Tische, nahmen ihre Jacken und Südwester und traten in den Flur. Dann holten sie aus einem Raume, der die mannigfaltigsten Geräte barg, eine einfache Tragbahre, die wohl manchmal schon demselben traurigen Zwecke gedient hatte, warfen eine große, grobe Decke darüber und folgten nun dem Knaben, welcher ihnen rasch vorausgeeilt war. Bald standen auch sie bei dem Toten und sahen ihm einige Sekunden in das starre, braune Gesicht. Der alte Leuchtturmwärter faltete die Hände, und über sein finsteres Antlitz lief ein seltsamer weicher Zug.

»Gnad' dir Gott, Asmus Ordinger – du hast's überstanden!« sagte er tieftönig, und halblaut zu seinem Sohn gewendet fügte er bei: »Faß' an, Jürgen!«

Sie legten den Toten auf die Bahre und deckten ihn mit dem Tuche zu, dann schritten sie langsam durch die Dünen, und Klaus ging hinterdrein. Er weinte nicht mehr, er war ruhiger, nachdem er den Vater wiedergefunden. Vor den kleinen Häusern, vor welchen der Zug vorüberkam, stand hie und da ein Kind oder ein Weib, und wer die Bahre und den Knaben dahinter sah, wußte, was es bedeute, und so lief die Kunde bald von Haus zu Haus: »Der Strandvogt ist angespült worden!«

Die beiden Männer aber waren mit ihrer Last in die Wohnung Ordingers gekommen und traten in den Flur. Die alte Nachbarin, welche vergebens die Brüder erwartet hatte, deren Mahl bereit war – denn in dem Kessel über dem Feuer brodelte es – kam ihnen entgegen und stieß bei dem Anblick einen leisen Schrei aus. Die Bahre wurde im Vorgang niedergesetzt, und die alte Frau schlug das Tuch zurück. Dann trat sie schweigend zu Klaus und legte ihm wie mitleidig und teilnehmend ihre runzelige Hand auf den Kopf mit den Worten:

»Tröste dich Gott, mein lieber Junge!«

Der Knabe aber richtete sich auf und sagte merkwürdig fest:

»Laßt ihn nicht hier! Tragt ihn hinein in den Piesel!«

Der Piesel ist das Prunkzimmer des Hauses, und was der einfache Fischer an Seltsamkeiten und Kostbarkeiten besitzt, Erinnerungen an seine Seefahrten und Erlebnisse, wird hier aufbewahrt.

Die Männer gehorchten der Aufforderung des Knaben, und so ward der tote Hausherr hineingetragen in das freundliche Gemach, von dessen Decke Straußeneier niederhingen und in dessen breitem verglasten Wandschrank sich neben Kokosnußschalen und fremden Steinfrüchten schöne chinesische Tassen, spanische und portugiesische Flaschen und Nippsachen befanden. Das Wasser tropfte noch immer aus den durchnäßten Kleidern des Toten und bildete eine Lache auf dem blankgescheuerten Boden, aber darum kümmerte man sich heute nicht.

Nach und nach kamen Weiber und Männer, meist die älteren Leute, die nicht zum Fischfang ausfuhren, und sie standen still und teilnahmsvoll um die Bahre oder sprachen nur leise. Am Strande unten aber trafen sich an derselben Stelle, wo sie auseinander gegangen waren, ungefähr zur selben Zeit, Wilm und Knut.

»Es war umsonst!« sagte der ältere, und der andre nickte. Dann schritten sie schweigend nebeneinander nach dem Dorfe. Schon bei dem ersten Hause rief ihnen eine Stimme zu: »Euer Vater ist gefunden!« und mit beschleunigten Schritten gingen sie heimwärts.

Als sie in den Piesel eintraten, machten ihnen alle mit einer scheuen und mitleidsvollen Achtung Platz, und so traten sie hart heran an den Toten; die andern aber reichten ihnen stumm die Hände und entfernten sich. Nach kurzer Frist waren die Brüder allein mit dem Vater.

»Laßt uns ein Vaterunser für ihn beten!« sprach Wilm nach einer Weile, und sie falteten die Hände und sprachen gemeinsam halblaut das Gebet des Herrn. »Und nun wollen wir ihn anders kleiden, damit er trocken gebettet wird!«

Schweigend fügte sich Knut, und kaum eine Viertelstunde später lag der Strandvogt in seinem besten Gewande so still und friedlich auf seinem letzten Lager, und Knut hatte ihm zwischen die übereinander gelegten Hände ein grünes Zweiglein geschoben von einem Rosmarinstöckchen, das an dem Fenster stand.

Gegen Abend kam Frau Wencke Svanholt und bat um Entschuldigung, daß sie nicht früher schon gekommen. Sie brach in ein lautes Schluchzen aus, als sie bei dem Toten stand und rief:

»Er ist für meinen Mann in den Tod gegangen, und ich bin schuld daran!«

»Laßt das, Frau Wencke« – tröstete Wilm – »Svanholt hätte dasselbe gethan, und es war so Gottes Wille!«

»Ja, ja« – weinte das Weib – »aber das vergesse ich euch nicht in alle Ewigkeit und besonders dir nicht, Knut, denn ohne dich – –«

»Schon gut!« knurrte der junge Fischer und reichte abgewandt seine Hand hin, nach welcher die Frau des Kapitäns haschte.

»Wie geht es Svanholt?« fragte Wilm.

»Ach Gott – er ist wenigstens bei Leben und Besinnung« – erwiderte das Weib – »aber er ist steif wie ein Stück Holz und kann kein Glied regen, auch die Zunge kaum bewegen. Vor einer Stunde war der Doktor da, er meinte, ganz wird es wohl kaum mit ihm wieder werden – – aber, wenn ich ihn wenigstens wiederhabe, wir werden uns schon durchschlagen, und vielleicht wird es nicht ganz so schlimm sein!«

Das Weib hatte festen Mut, und ihr Wesen wirkte trostvoll auf die Brüder. Beim Abschied sagte sie: »Und kommt auch einmal zu Svanholt – auch du, Klaus, wir haben wohl manches, was dich freuen könnte!«

Sie küßte den Jungen auf die Stirn und gab den beiden andern die Hand, dann ging sie.

Am übernächsten Tage wurde der Strandvogt begraben. Es war ein Sonntag, und das ganze Dorf gab ihm das letzte Ehrengeleite. Die kleine Glocke von dem Turmgerüste wimmerte, als der Zug durch das Friedhofsthor kam und zwischen den niedrigen, von Sand überwehten Hügeln hinschritt nach dem Grabe, das dem Toten bereitet war neben seinem längst heimgegangenen Weibe. Die ernsten Fischersleute standen ringsum mit gefalteten Händen und horchten auf die schlichten Worte des alten Pastors, der so recht aus warmem Herzen redete, wie der Verschiedene ein Opfer der Menschenliebe geworden und sein Tod ein schöner und ehrenvoller gewesen sei. Sie seien allzusammen nur arme Fischersleute auf einer kleinen, weltfernen Erdscholle, aber sie gäben mehr an Liebe als der Reichtum in seinen Palästen, und das würde ihnen gutgeschrieben werden im Himmel. Das sei ein Segen für den Toten und ein Trost für seine Hinterbliebenen.

Dann warfen sie Schaufeln voll weichen Sandes hinab in die Grube, welche sanft über das letzte Bretterhaus des Asmus Ordinger hinrollten, beteten mit rauhen Kehlen ein Vaterunser, drückten den Söhnen des Verschiedenen herzlich die Hände und verließen den kleinen, stillen Ort, wo manches schlichte Kreuz auf den verwehten Hügeln das Wort trug: »Er starb in den Wellen!« oder noch kürzer: »Er ist ertrunken.« So wird es auch an dem Erinnerungsmal für den Strandvogt zu lesen sein, und doch wird die arme Inschrift rühmlicher sein, als was vielfach von Großthaten auf Marmordenkmalen zu lesen ist.

Beim Weggange aus dem Friedhof hatte sich Klaus an seinen ältesten Bruder gedrängt, seine Hand ergriffen und ihm zugeflüstert:

»Ich will nichts anders werden als ein Fischer und ein Seemann, Wilm!«

Der erwiderte den Händedruck des Knaben, aber er schwieg.

Am Nachmittage besuchte Wilm den Kapitän Svanholt. Das Häuschen desselben war das freundlichste auf der ganzen Insel. Es stand auf hoher Düne, nicht fern vom Leuchtturm und sah mit seinen weißgetünchten Wänden hell hinaus auf die See. Im Sommer war das Gärtchen davor hübsch gepflegt, denn Frau Wencke hatte ihre Lust an den Blumen und den grünen Stauden, und selbst eine von großen Blättern umhüllte Laube fehlte nicht. Jetzt freilich war alles kahl und öde, und in dem Häuschen und um dasselbe war es still.

Als Wilm kam, war eben der Doktor aus der Stadt sowie der alte Pastor bei dem Kranken. Svanholt war noch immer steif und fast unbeweglich, nur die linke Hand rührte sich leicht, und in den Augen stand es freudig und dankbar geschrieben, daß er den Kommenden erkannte; er wollte auch sprechen, aber die Worte kamen nur schwer und fast unverständlich von seinen Lippen, und der Arzt gebot ihm freundlich zu schweigen.

Dr. Bender, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, war Menschenfreund von ganzer Seele und sprach Wilm seine Freude aus, ihn als einen mutvollen Helfer kennen zu lernen; zugleich bekundete er ihm die herzlichste Teilnahme am Tode seines Vaters. Dann kam das Gespräch auf die gefahrvolle ostfriesische Küste, und der Doktor betonte namentlich angesichts des letzten schweren Unglücks, das vier Menschenleben gefordert hatte, die Notwendigkeit der Anlegung einer Rettungsstation auf der Insel.

»Wäre schon gut, aber wer soll die Sache in die Hand nehmen und wer soll sie errichten?« fragte Wilm.

»In die Hand nehme ich's, und errichten wird sie die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger«, entgegnete der Arzt.

»Ja, gibt es denn eine solche?« fragte verwundert der junge Fischer.

»Und davon wißt Ihr nicht einmal etwas? – Na, das muß anders werden. Freilich gibt es eine solche, und sie hat in der kurzen Zeit ihres Bestandes schon viel Segen gebracht und viele Menschenleben gerettet. Der Ausgangspunkt dieser humanen Bestrebungen war England, wo in dem unseligen Kanal die Schiffbrüche zeitweilig zur Tagesordnung gehören. Dort haben sich zu Ende des vorigen Jahrhunderts kleine Vereinigungen gebildet, um den Schiffbrüchigen beizustehen, dieselben haben sich 1824 aneinander angeschlossen und ungefähr seit dem Jahre 1850 einen stattlichen und sehr leistungsfähigen Verein gebildet (› Royal National Lifeboat Institution‹), der an der ganzen großbritannischen Küste seine Stationen angelegt und trefflich ausgerüstet hat. Er hat in den ersten fünfzig Jahren, wenn man von 1824 ab rechnet, rund 23 000 Menschenleben gerettet.«

»Das ist ein Wort!« sagte Wilm, und der greise Pastor nickte verwundert mit dem Haupt; selbst die Augen des Kranken leuchteten verständnisvoll, der Doktor aber fuhr fort:

»Bei uns in Deutschland ist die Sache schon seit 1860 in Fluß. Im Herbste dieses Jahres versank bei Borkum, wie euch vielleicht erinnerlich ist, das hannoverische Fahrzeug ›Alliance‹, und die ganze Bemannung ist ertrunken, zehn brave Männer, das griff an die Herzen, zumal alte ähnliche Erinnerungen wieder wach wurden, und in verschiedenen deutschen Seestädten, zuerst in Emden, dann in Bremen, Hamburg, Kiel, Lübeck, Rostock und Danzig bildeten sich Rettungsgesellschaften, die sich im Jahre 1865 in Kiel zu der ›Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger‹ vereinten und unter dem Vorort Bremen gemeinsam die Sache der Nächstenliebe in die Hand nahmen. Und der Himmel hat das Werk gesegnet. Jetzt schon nach wenigen Jahren rührt es sich allerorten, und die Menschen im Binnenlande haben auch ein Herz für den Seemann in Not und steuern als Mitglieder der Gesellschaft ihr Scherflein bei zur Errichtung von Rettungsstationen und Beschaffung von Material. Viel ist schon geschehen, aber es ist ein großes Stück Arbeit zu thun. Von Memel bis Borkum ist eine lange Strecke, die mit Stationen besetzt werden soll, und die Gesellschaft bedarf nicht bloß der opfermütigen Bereitwilligkeit der Küstenbewohner, die für fremdes Leben das eigne in die Schanze schlagen wollen, sondern der regen Unterstützung der ganzen deutschen Nation. Dann erst kann die Küste in ausgiebiger Weise mit Stationen versehen, können die Mannschaften ausgerüstet und besoldet, die Verunglückten unterstützt, die Witwen und Waisen der im Dienste der Menschenliebe Umgekommenen ausreichend versorgt werden.«

»O welch ein schönes Werk!« sagte der Pastor. »Und wir sitzen hier und wissen von nichts, und erst ein großes Unglück muß uns damit bekannt machen. So hat auch das vielleicht seinen Segen. Sehen Sie, Herr Doktor, ich bin nun dreißig Jahre hier und bin alt geworden nicht in Glück und Herrlichkeit, aber ich bin verwachsen mit dieser armen Scholle und mit diesen braven Leuten so sehr, daß ich mich ganz von aller Welt abgesondert habe. Ich verlasse die Insel nicht und lese keine Zeitung, um mir den Frieden meines Herzens nicht zu trüben, so daß beinahe die großen Ereignisse des Jahres 1870 mich nicht gefunden hätten. Das ist vielleicht doch nicht recht – das merke ich heute, denn ich hätte vielleicht an diesem Strande für das Rettungswerk wirken können. Betrachten Sie mich von heute an als Mitglied Ihrer Gesellschaft, zu der ich mein Scherflein gebe, so reichlich ich nur kann, aber sagen Sie uns, worin besteht eine Rettungsstation?«

»Zunächst in einem festen Hause und einer sicheren Besatzung von zehn bis zwölf Mann unter einem Vormann. Die müssen bei stürmischem Wetter zur Stelle sein, damit, sobald sie Kunde von einem Schiffbruch haben, sogleich eingegriffen werden kann. Sie geben dem bedrängten Fahrzeug Raketensignale und gehen unverzüglich an die Rettungsarbeiten. Dabei bedienen sie sich je nach den Umständen entweder des Rettungsbootes oder der Rettungsgeschosse, Rettungsringe u. dergl. Die Deutsche Gesellschaft hatte anfangs hölzerne Boote mit Selbstentleerung und Selbstaufrichtungsfähigkeit, aber sie waren für unsre flachen Küsten weniger verwendbar und sind darum durch leichte Boote aus kanneliertem Eisenblech ersetzt worden. Das Nähere sollen Sie sehen, wenn Sie erst ein solches Boot hier haben. Die Rettungsgeschosse, vorwiegend Raketen, haben den Zweck, Leinen hinauszuwerfen über das bedrängte Schiff und so eine Verbindung zwischen diesem und dem Lande herzustellen, durch welche es entweder dem Boote möglich wird, näher an das Wrack heranzukommen oder die Schiffbrüchigen mittels Bojen und andrer Apparate zu retten. Und Rettungsringe und Korkjacken haben den Zweck, die Mannschaft eines Rettungsbootes vor dem Ertrinken zu sichern. Die Jacken sind gut, das versichere ich Ihnen, denn sie müssen 10 kg Eisen 24 Stunden lang im Wasser tragen können und dürfen in dieser Zeit nicht mehr als höchstens 500 g Wasser aufnehmen. Eine solche Jacke hält den schwersten Mann mit seinem dicksten Wollzeug und seinen derbsten Wasserstiefeln einen Tag lang über Wasser.«

»Und Sie wollten uns hier zu alledem verhelfen?« fragte der Pastor wieder.

»Ich hoffe es zu erreichen und habe auch schon einen Vormann für die Station in Aussicht«, entgegnete der Doktor, »nämlich unsern Wilm Ordinger hier!«

»Mich?« fragte erstaunt der junge Fischer; der Pastor aber sagte:

»Einen besseren könnte ich Ihnen auch nicht nennen – er ist mutig und kaltblütig, und das ist's wohl, was gebraucht wird – und daß er die See kennt, dürfen Sie glauben.«

Wilm wehrte bescheiden das Lob des geistlichen Herrn ab, aber er erklärte sich bereit, wenn man auf ihn zählen sollte, und der kranke Kapitän stammelte mit lallender Zunge einige Worte, die wohl freudige Zustimmung ausdrücken sollten. – –

Es war ein schönes Weihnachtsgeschenk für die Insel, als die endgültige Nachricht von der Errichtung einer Station hier eintraf, und der Bau des Wachthauses sollte beginnen, sobald es die Witterung nur einigermaßen gestatten würde. Es sollte seinen Platz möglichst frei und hoch erhalten, und Wilm war bereits zum Vormann der Station ernannt worden. Knut sprach nicht weiter über die Sache, aber als man die Mannschaft zusammenstellte, meldete er sich freiwillig.

Noch ehe der Frühling recht gekommen war, stand das kleine feste Haus auf der Düne fertig, und daneben erhob sich der Mast, welcher die Glocke trug, welche den Sturmruf ergehen lassen sollte, und dessen Spitze die Flagge der Rettungsgesellschaft, das rote Kreuz auf weißem Grund mit schwarzem Rande, zeigte. Die notwendigen Gerätschaften waren herbeigeschafft worden, und man hatte sie unter der neugierigen Teilnahme der Bewohner wohlgeordnet untergebracht. Da gab es Segel und Taue, Ruder und Anker, Raketen und Signallaternen, Bojen u. a. m. Auch eine kleine Apotheke fehlte nicht, ebensowenig wie Unterweisungen über den Gebrauch der Gerätschaften, Anwendung der Hilfsmittel, Verfahren bei Wiederbelebung Ertrunkener, und all das war an den Wänden oder an dem Thore deutlich lesbar angeschlagen. Das meiste Interesse hatten freilich das Boot und der Raketenapparat.

Es war ein freundlicher Märztag, als die feierliche Einweihung der Station erfolgte, und ein Festtag für die Bewohner der kleinen Insel. Fremde Gäste von dem Festland, darunter ein Inspektor der Gesellschaft und Doktor Bender waren gekommen, und um das mit Kiefergezweig geschmückte Wachthaus drängte sich das Volk. Selbst Kapitän Svanholt hatte sich in einem Fahrstuhl von seiner Frau heranrollen lassen; er sah wieder wohler aus, hatte auch den Gebrauch seiner Sprache, aber seine rechte Seite blieb wie gelähmt, und seine Beine versagten ihm den Dienst.

Erst nahm der Inspektor das Wort und sprach schlicht und einfach über die Bedeutung des Werkes und über die Pflichten der Mannschaft, dann redete der greise Pastor in seiner treuherzigen Art und gab den Geräten und jenen, die sie gebrauchen sollten, seinen Segen.

Das gleichfalls geschmückte Rettungsboot stand auf dem von zwei kräftigen Pferden gezogenen Wagen, mittels dessen es nach dem Strande befördert wurde. Es hatte 7½ m Länge, ein Gewicht von 1100 kg und einen Tiefgang von 26 cm, gehörte also zu der kleinsten der drei gebräuchlichen Bootsklassen, deren erste Fahrzeuge von 9½ m Länge 1600 kg Gewicht und einen Tiefgang von 30 cm enthielten. Es war aus kanneliertem Eisenblech, mit hinten, vorn und an den Seiten angebrachten Luftkasten, und eingerichtet zum Segeln wie zum Rudern.

Dem Bootskarren folgte der von einigen Leuten der Mannschaft gezogene Kastenwagen, auf welchem sich die mannigfaltigsten Gegenstände, wie Taue, Korkjacken, Rettungsbojen, Leinen und der Geschoßapparat befanden. Dahinter schritt Wilm mit dem Reste der Mannschaft, die sich vorschriftsmäßig gekleidet hatte, und endlich kamen die Fremden und Einheimischen. Jürgen Kögge rollte den Fahrstuhl seines Schwagers, der sich in einer seltsamen, freudigen Aufregung befand und immer wieder seiner nebenher schreitenden Frau, deren rotes, frisches Gesicht merkwürdig von dem weißen Haar abstach, freundlich die Hand drückte.

Am Strande fand zunächst das Ablaufen des Bootes statt. Die Bemannung hatte Schwimmgürtel und Korkjacken angelegt und kletterte auf das Fahrzeug, das sich noch auf dem Wagen befand, der seine Hinterseite dem Wasser zukehrte. Er besteht im wesentlichen aus einer der Länge des Bootes entsprechenden Helling, auf welcher das Fahrzeug auf Rollen steht. Nun wurde an dem Gestell ein Bolzen verschoben, infolgedessen sich die Vorderräder des Wagens lösten und sich die Helling vorn hob; dieselbe senkte sich nun hinten, und auf der schiefen Ebene glitt das Boot langsam und sicher herab und schoß in das Wasser, während die Bemannung ihr lautes »Hurra!« ausstieß und das Volk am Strande hellauf jubelte.

Die Ruder schlugen in die Wellen, die Bootsfahne flatterte lustig im leichten Winde, und mit ungeheurer Schnelle durchfurchte das zierliche Fahrzeug die wenig bewegten Wogen. Auch die Korkgürtel wurden probiert, indem sich einige freiwillig in die Fluten warfen und sich mit Leichtigkeit darin bewegend erst nach einiger Zeit sich wieder von dem Boote aufnehmen ließen.

Ebenso wurden die Rettungsgeschosse erprobt und die Mannschaft geübt. Solcher Geschosse sind dreierlei in Gebrauch; die Rettungsraketen, welche eine Leine 300-400 m weit schleudern, so daß sie wohl über das Takelwerk des gestrandeten Schiffes wegfliegt, von der bedrängten Mannschaft aufgefangen und mittels derselben nun eine Verbindung selbst mit dem Strande hergestellt werden kann, durch welche stärkere Rettungsleinen oder Rettungsbojen nach dem Wrack gezogen werden können; ferner die Handgewehre, deren Wurfweite etwa 70 m beträgt, und welche besonders dazu dienen, eine Verbindung zwischen dem Schiffe und dem Rettungsboot zu schaffen, und endlich die Ankerraketen, welche vorn am Verschluß vier Ankerhaken haben und hauptsächlich dem Zwecke dienen, bei hoher See das Abkommen des Bootes vom Strande zu ermöglichen, indem der Anker in See geschossen wird und an der durch ihn festgehaltenen Leine die vordersten Männer im Boote dasselbe fortziehen.

Mit den letzteren wurde auch die neue Station versehen, und die Versuche wurden mit Interesse gemacht und erfreuten durch ihre Erfolge. Eine gehobene Stimmung bemächtigte sich der schlichten Inselbewohner, und ein alter Fischer sprach in rührend einfachen Worten der Rettungsgesellschaft und ihren Vertretern den Dank aus.

Es war ein Tag, der vielen lange in Erinnerung blieb; am meisten ergriffen aber war der wackere Kapitän Svanholt, der nur eins bedauerte: daß er nicht selbst, wenn es gelten würde, hinausfahren könne zur Rettung andrer – und Klaus. Der Knabe lag lange schlaflos auf seinem Bette in jener Nacht und hörte das leise Rauschen der Wellen, und seine Phantasie malte ihm lebhaft die Thätigkeit seiner Brüder vor bei Sturm und Not; in seiner Seele aber lebte nur ein Wunsch, der, einst ein thätiges Mitglied der Rettungsmannschaft werden zu dürfen. Erst lange, nachdem die alte Wanduhr Mitternacht geschlagen hatte, schlief er ein.


 << zurück weiter >>