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Es folgte noch eine Reihe von trüben Tagen für die kleine Insel und ihre Bewohner. Der Winter stand vor der Thür, ja, er hatte schon seinen Einzug gehalten, indem ein leichter Schnee gefallen war, und dabei war mancher so hart von der Flut getroffen worden, daß er für einige Zeit des eignen Heims ganz entbehren mußte. Die Häuser, welche tiefer standen, waren sämtlich schwer von den Gewässern heimgesucht worden, und wenn auch kein Menschenleben zu beklagen war, so war es doch unmöglich, in den durchweichten Hütten, von welchen einige den Einsturz drohten, auszuhalten.
Einer solchen Flut konnten sich die wenigsten entsinnen; nur ältere Leute hatten in längst vergangenen Tagen einmal Ähnliches erlebt, aber wenn sie davon erzählt hatten, war es wie eine unheimliche Sage gewesen, an deren Wirklichkeit oder Möglichkeit niemand glauben mochte. Und nun war es doch über sie selber hereingekommen, sie hatten mit eignen Augen gesehen, mit eignen Ohren gehört, und in ihren Seelen zitterten die Schauer jener Nacht noch lange fort.
Auch Ordingers Haus hatte schwer gelitten, und da es jetzt fast unmöglich war, an den Verbesserungen zu arbeiten, und der Aufenthalt in den ungesunden und Gefahr drohenden Räumen mehr als bedenklich erscheinen mußte, sahen sich die Brüder genötigt, bis zum Frühling auszuquartieren. Wilm fand mit den Seinen eine mit Herzlichkeit gebotene Aufnahme bei dem Kapitän, der sich über den Familienzuwachs ungemein freute, und Knut wohnte bei Thomas Kögge im Leuchtturm.
Svanholts Haus hatte wenig gelitten. Das Wasser war allerdings auch über den Flur gelaufen und hatte dem Kapitän die Füße bespült, aber er war, wie er sagte, »auf dem Posten« geblieben und hatte immer wieder in seiner Besorgnis nach den andern, mehr Gefährdeten auszuspähen versucht. Schlimmer war die Nacht auf dem Leuchtturm vergangen. Mit dem Toben des Sturmes und dem Brausen der Flut war es wieder über Jürgen gekommen, und in seinem Anfall von Tobsucht schlug er in Trümmer, was er nur erreichen konnte. Die alte Magd war vor ihm in hellem Entsetzen geflüchtet, und Thomas mußte bei solchem Wetter im Wärterstübchen sein, denn erst kam die Pflicht und dann sein Vaterherz. Es waren für den alten Mann qualvolle Stunden, die er, hoch über den zornigen Wässern, umtobt von dem donnernden Getöse des Windes und der Flut verlebte, immer mit halbem Ohr hinablauschend, ob er nichts vernähme von dem Unglücklichen, der in seiner wahnsinnigen Erregung sich vielleicht selbst an das Leben ging. Nein, es war nicht anders möglich – er mußte sich einen andern Gehilfen erbitten für den Wärterdienst – und das wollte er schon morgen; wenn nur der Herrgott erst die entsetzliche Nacht noch vorüber ließe!
Nach einiger Zeit war es die Leiter heraufgekommen, und die alte Magd war in das Wärterstübchen getreten und meldete, daß Jürgen wieder wie tot auf seinem Lager liege, daß aber in der Stube alles kurz und klein geschlagen sei. Dem Alten war das gleichgültig, er freute sich, daß der Anfall vorüber war, und nun hielt er die ganze, lange Nacht getreulich aus auf seinem Posten, und erst mit dem beginnenden Morgen, und nachdem er seine Laterne in Ordnung gebracht, stieg er todmüde hinab, um nach seinem Sohne und nach dem Greuel der Verwüstung zu sehen, die dieser angerichtet hatte. Aber was wollte das bedeuten gegen die Verheerungen, welche die Flut so manchem andern gebracht!
Thomas war am Morgen durch das Dorf geschritten und sah hier erst, was geschehen war. Noch hatte sich das Wasser in den Vertiefungen und zwischen den Dünenhügeln nicht ganz verlaufen, aber überall standen Menschen mit bleichen, verwachten und bekümmerten Gesichtern, und trotz der eignen Not empfand jeder das Unheil mit, das die andern betroffen.
Zu dem Hause der Brüder Ordinger hatten sich viele gedrängt und durch die tiefen Laken um dasselbe trug Wilm sein Weib, und Knut folgte mit dem Kinde auf dem Arme. Es war ein seltsam ergreifendes Bild und sprach deutlicher als alles dafür, daß sich in dieser Nacht und in der Stunde gemeinsamer Not die Brüder gefunden hatten, und aller Hände streckten sich ihnen entgegen. Wilm trug eine Binde um den Kopf von seinem nächtlichen Unfall her, aber auf seinem Gesicht lag der Ausdruck der Ruhe und eines stillen Glücks; ihm war nichts geraubt worden in dieser Nacht – nein, ihm hatte der Himmel gegeben, und selbst die Schrecknisse hatten ihren Segen gebracht. Die Nachbarn alle begleiteten die Geretteten nach dem Hause des Kapitäns, Thomas Kögge aber war an Knut herangetreten und schritt neben ihm her. Dabei sagte er:
»Jürgen hat heute nacht wieder seine Krankheit gehabt, ich muß einen andern Gehilfen haben!«
Über Knute Seele zog es wie ein Schatten, die That, die der Fluch seines Lebens war, tauchte wieder vor ihm auf, und der alte Mann, der an seiner Seite ging, hatte noch immer kein Wort des Vorwurfs für ihn. Er atmete mit einem Seufzer auf und erwiderte:
»Ich will mit dir gehen und für Jürgen einstehen, auf mich kannst du dich verlassen, und ich brauche nichts, als in einem Winkel ein Bett!«
Thomas war mit dem Vorschlage herzlich zufrieden, und so kam Knut auf den Leuchtturm und sorgte wie immer mit wahrer Brüderlichkeit für Jürgen und nahm dem Turmwärter selbst an Arbeit ab, was er nur vermochte: Er war thätig für zwei und glaubte damit einen Teil seiner Schuld abtragen zu können. Thomas und Jürgen ahnten das nicht, wenn sich auch beide des rührigen Genossen freuten. Eine aber sah es mit wärmstem Mitgefühl und inniger Teilnahme, wie er sich abquälte in Reue und Buße, und das war Frau Wencke. Sie sprach sich darüber auch daheim aus, und alle freuten sich über die Wandlung, die sich sichtbarlich mit dem wilden, trotzigen Burschen vollzog.
In Svanholts Haus kam Knut ab und zu, aber er hatte keine Ruhe, und es trieb ihn meist bald wieder fort, auch schien dann und wann das alte, gehässige Empfinden gegen seinen Bruder in ihm aufzutauchen, so sehr er sich auch dagegen anzukämpfen bemühte.
So kam der heilige Abend. Der Kapitän hatte Knut eingeladen, ihn in seinem Hause zu verleben, dieser aber hatte es abgelehnt. In ihm erwachte die Erinnerung an das vergangene Jahr, da er dort mit um den grünen, lichtglänzenden Baum saß, den Grete angeputzt hatte, und im Herzen eine leise Hoffnung hegte, die sich nicht erfüllen sollte. Sie würden auch heuer wieder alle glücklich sein – was sollte er da unter ihnen? – Besser er blieb in dem Leuchtturm und sah Jürgen ins Gesicht und in die müden, stieren Augen und ließ sich zu seiner Selbstqual immer wieder erinnern an seine Schuld.
Es war damals ein milder Winter. Der Schnee hatte zwar seine dünne, weiße Decke über die Dünen gezogen und die Dächer der kleinen Häuser verhüllt, aber die Tage waren fast ohne Frost, und das Meer flutete und ebbte in gewohnter Weise, und die Fischer konnten beinahe täglich ausfahren. Auch der Christabend war nicht kalt; der Himmel war leicht bewölkt, die Luft klar, und der Gottesfriede des heiligen Abends senkte sich auf das kleine Eiland nieder und auf seine schlichten, bescheidenen Menschen.
Bei Svanholt brannte diesmal nicht der Christbaum, denn es war kein Bäumchen zu beschaffen gewesen, aber Grete und Frau Wencke hatten Blumen auf den Tisch gestellt und brennende Lichter dazwischen, und alle hatten sich wieder beschenkt mit kleinen, freundlichen Gaben. Grete hielt ihr Kind im Arme, und der Kleine lachte und bewegte die Händchen nach dem Lichtglanz, und alle freuten sich, und ihnen war's, als sei das Christkind leibhaftig zu ihnen niedergestiegen.
Währenddem war Knut unruhig umhergestrichen und kehrte endlich nach dem Leuchtturme zurück. Thomas hatte die erste Wache, aber Knut und Jürgen stiegen mit hinauf nach dem kleinen Wärterstübchen, brannten sich ihre Pfeifen an, und so saßen sie bei einem Grog beisammen. Der Alte fühlte sich in seiner Art behaglich und begann seine Seemannsgeschichten zu erzählen. Knut war kein Freund von solchen, aber er hörte schweigend zu und dachte wohl auch mit stiller Wehmut an Klaus, dem solche Erzählungen den Kopf verwirrt und den sie in den Untergang getrieben hatten.
Thomas war eben bei dem Kapitel der »Meermenschen« und versicherte, selbst ein solches Meerweib gesehen zu haben auf einer Fahrt an den norwegischen Küsten; dabei beschrieb er das Wesen, wie es sich eben in seiner Phantasie gestaltet hatte. Knut schüttelte zum erstenmal mit dem Kopfe. Der Alte bemerkte es und fragte beinahe unwillig:
»Das scheint dir wohl unglaubhaftig, Knut?«
»Jawohl, Vater Thoms, und ich begreife nicht, wie du selber solch dummes Zeug glauben magst.«
»Oho – dummes Zeug?!« polterte der Alte. »Du bist eben kein seebefahrener Mensch und kannst nicht mitreden, aber was ein richtiger Seemann ist, der weiß auch, daß es Meermenschen gibt. Das sind eigentlich Seehunde, aber sie haben ihre Augen mit einer wunderlichen Salbe eingerieben, und dadurch werden sie menschlich; jedoch sie haben keine Seele und können auch nicht selig werden, weil sie der Herr Christus nicht erlöst hat. Darum sind sie traurig. Ich hab' einen Maat gehabt, der hatte einen Vetter, und der war durch Zufall zu einem Stückchen von der Wundersalbe gekommen; der konnte die Meerleute auch erkennen, wenn sie in Tiergestalt waren, sobald er sich nur die Augen bestrichen hatte mit der Salbe. Derselbe hat auch von einem Meerweibchen eine Rute erhalten, die ihn vor jedem Schiffbruch bewahrte; er hat auch niemals einen solchen erlitten!«
»Da wollt' ich nur, mein Klaus und Karl Kögge hätten eine solche Rute gehabt« – bemerkte Knut – »dann lebten sie vielleicht auch noch.«
Thomas zog seine buschigen Augenbrauen hoch hinauf, blies einige schwere Wolken aus seiner Thonpfeife und sprach:
»Ich weiß nicht – aber ich meine, Karl ist gar nicht tot – ich hätt' ein Zeichen von ihm bekommen, wenn er ertrunken wär'.«
»Ja, was soll er denn für Zeichen geben?« fragte beinahe spöttisch Knut, der Alte aber sagte:
»Ertrunkene gehen um, das ist 'ne alte Geschichte, und das hab' ich selber oft erlebt; am Allerseelentage werden sie am unruhigsten und kündigen sich an, damit man auch an ihre armen Seelen denkt. Ich weiß noch, wie Jakob Siebinger ertrunken ist; in selbiger Nacht, wie ich die zweite Wache hatte, hab' ich hinausgesehen auf das Meer, das so ruhig lag, wie nur je. Und da kam ein Licht herüber – ich glaubte zuerst, es wär' ein Boot, aber es war keins. Es kam bis an den Strand und ging immer nickend weiter und erhob sich beim Leuchtturm, kam herauf durch die leere Luft bis beinahe hart an das Fenster, wo ich stand, und da ist's mit einem Male weggewesen, aber ein großer, weißer Vogel schlug klatschend gegen die Scheiben, daß ich erschrocken zurückgefahren bin. Das war die Seele Jakob Siebingers, der, wie sie mir später erzählten, in selbiger Nacht beim Segelreffen abgestürzt und ertrunken war. Er hatte mir es versprochen, daß er sich melden wollte. Ja, Knut, die Ertrunkenen kommen wieder. Da hat mir einer erzählt, daß einmal ein englisches Schiff ein andres in den Grund gerannt hat; die ganze Bemannung ist versunken, aber jede Mitternacht sind sie wiedergekommen und haben auf dem Schiffe, das ihnen das Unglück gebracht, die Runde gemacht, so daß zuletzt kein Matrose zu bewegen war, auf dem Fahrzeug eine Heuer zu nehmen. Und daß sich Ertrunkene zu Hause ankündigen, kommt fast immer vor. Sie kommen um die Nachtzeit mit blassen, traurigen Gesichtern, das nasse Haar in die Stirn hängend, den Mund voll Seetang, Sand in den Schuhen, und wo sie hintreten, bleibt eine nasse Spur. Das weiß ich von einem Bootsmannsmaat, dem sein Bruder ertrunken war. Der saß so einmal zur Nachtzeit allein zu Hause und hatte gerade recht an seinen Bruder gedacht, der nach Ostindien gefahren war und von dem er lange nichts gehört hatte. Da – es war alles still – vernahm er auf einmal einen Schritt, schwer und langsam. Das kam die Treppe herauf – – immer näher, immer näher – – horcht, was ist das?«
Die drei Männer fuhren auf und sahen sich mit entsetzten Gesichtern an – – es war ganz deutlich, draußen stieg jemand den Turm heran mit schweren Tritten, die immer vernehmbarer wurden, näher kamen ... und die drei überlief es wie ein kalter Schauer, und keiner vermochte ein Wort hervorzubringen. Nun griff es draußen an die Klinke, und die Thür ging auf. Im Rahmen aber stand einer, bei dessen Anblick den Anwesenden das Blut erstarrte, so daß sie sich mit den derben Fäusten an dem Tische festklammerten, dann schrie Thomas auf und schlug ein Kreuz:
»Alle guten Geister!«
»Loben Gott den Meister!« sagte tieftönig der in der Thür, und dann schlug er eine rauhe Lache auf.
»Na, was bedeutet denn das? – Ich bin's schon und bin leibhaftiges Fleisch und Bein! Thoms, alter Seebär, du denkst wohl, du siehst den Klabautermann?«
Jetzt sprangen die drei auf von den Sitzen.
»Karl – Vetter – Steuermann« – riefen sie und alle faßten ihn an, um sich zu überzeugen, daß es nicht ein Phantom, sondern ein wahrhafter Mensch sei. Und es war wirklich Karl Kögge.
»Um Gotteswillen, wo kommst du her?« rief Thomas wieder, und jener antwortete:
»Heute aus Aurich, aber zuvörderst gebt mir einen Schluck, denn ich sehe, daß ihr hier behaglich sitzt!« Er reichte allen die Hand mit kräftigem Drucke, dann ließ er sich schwer auf einem Stuhle nieder. Neben ihm aber stand, tiefatmend, bleich vor innerer Erregung, Knut; er preßte den Arm des Steuermanns und dabei stieß er mühsam die Worte heraus:
»Lebt mein Klaus?«
»Lebt – ist 'n ganzer Kerl!«
Knut atmete tief, und wie ein Jauchzen klang seine Frage:
»Ist er mitgekommen?«
»Nein, mein Sohn – der steckt noch in New York und kuriert sich aus, aber er kommt, das ist sicher, Mann!«
Knut sank jetzt auf seinen Stuhl zurück, Karl Kögge aber that einen kräftigen Schluck aus dem Glase, das ihm sein Bruder hingeschoben, und stopfte sich seine kurze Seemannspfeife. Dabei stürmten die andern mit allen möglichen Fragen auf ihn ein. Er ließ sich nicht aus der Fassung bringen, brannte den Tabak an, drückte ihn mit den Fingern nieder, sog einigemal bedächtig an dem Rohr, daß es blau und dicht um seinen Bart wirbelte, und dann sagte er:
»Nur ruhig, Kinder, und hübsch eins nach dem andern. Die Feiertage bleib' ich bei euch, und da können wir uns noch genug erzählen. Für jetzt will ich nur so in Bausch und Bogen berichten. Von Dominica aus hat euch Klaus geschrieben, und ich vermeine, den Brief habt ihr wohl gelesen. Also die Sache war gut. Wir hatten unsre Havarie ausgebessert – viel hat der Kasten von ›Orion‹ freilich überhaupt nicht getaugt, wie sich später herausstellte – und gedachten nun, da wir unsre Ladung schon geborgen hatten, frisch der Heimat zuzusegeln. Anfangs ging alles hübsch und gut, der Wind that uns den Gefallen und blies in die Segel, daß es nur so eine Art hatte, aber das Vergnügen dauerte nicht lange. Erst gab es Windstille, und dann die denkbar widrigste Brise. Wir kreuzten und kamen dabei immer mehr ab von unsrer Richtung, so daß wir immer weiter nach Südosten gelangten. Der Kapitän hatte die Absicht, die Kap Verdischen Inseln anzulaufen, statt dessen aber trieb's uns noch weiter gegen den Äquator. Und dann kam eine Sturmnacht! Ich habe manches erlebt auf dem Wasser, aber damals war's außer allem Spaß, und noch dazu auf einem verlotterten Schiffe, das notdürftig zusammengeflickt worden war – Gott verzeih's dem Reeder! Das war schon kein Sturm mehr. In einer undurchdringlichen Finsternis rangen wir eine ganze Nacht mit dem Orkan und meinten, der Morgen müßte uns Hilfe bringen. Ja, der Morgen! Die Luft war schmierig, und die Wolken hingen am Himmel wie schmutzige Fetzen herum, und wo die Sonne sein sollte, war ein schwefelgelber, unheimlicher Fleck. Und jetzt begann der Sturm erst zu rasen, die See brüllte, und unser Schiff ächzte und stöhnte in allen Planken. Wir hatten alles gethan, was geschehen konnte, jeden Fetzen Segel bis auf ein kleines Sturmsegel, das uns ein wenig Halt geben sollte, gerefft, Stengen und Raaen doppelt gestützt und alles auf Deck mit Tauen festgebunden. Der Kapitän – und 's war bei Gott 'n ganzer, furchtloser Seebär – hatte unsre zwei Boote mit Proviant und Kompaß für alle Fälle ausrüsten lassen und die Weisung gegeben, daß sobald er das Kommando gebe, zuerst das Großboot klar gemacht und außer mir und Klaus mit drei Matrosen bemannt werden sollte; in das zweite Boot wollte er selber mit den andern vier Leuten! So weit war alles richtig, und die Boote hingen auch bald fertig zum Klarmachen, und ich hatte trotz aller Not meine Lust an dem Jungen, dem Klaus, der ohne alle Furcht und mit einer Geschicklichkeit hantierte, die einem Vollmatrosen Ehre gemacht hätte. Na, daß ich's kurz mache: die Sache wurde immer toller; das Schiff lag schräg im Wasser, und die Wogen rollten nur so darüber weg, eine um die andre. Zuletzt sahen wir nicht mehr recht, was Himmel und was Meer war. Wir waren zusammengekrochen auf Hinterdeck um den Kapitän, und auch damit wir besser seine Befehle vernehmen konnten. Das Querschott der Back war schon weggerissen, die Reeling im Lee lag unter Wasser, und jetzt knatterte und prasselte es – heidi – das war der Fockmast, der überging, und daß der Großmast nicht zu halten war, war allen klar. Wenn wir nicht kentern wollten, mußten wir ihn kappen, aber wir hatten kaum die Wanten und die Taue zerhauen, als er auch schon wie ein Spazierstock umknickte und über Bord ging, wobei er in die Deckplanken noch ein ganz respektables Loch schlug. Zwischen Tauwerk und Stengen, mit denen alles bedeckt war, kletterten wir herum, um alles wieder möglichst klar zu kriegen, und waren noch froh, daß unsre Boote nicht gelitten hatten, und daß keiner von uns mit über Bord gegangen war. Und immer aufs neue dröhnten die Wellen, und der Sturm schrie wie ein Toller; da drückte eine ungeheure Woge das Schiff an der Steuerbordseite ein, das Steuer selber wurde weggerissen, und nun war nichts mehr zu halten. »Großboot klar!« erscholl die Stimme des Kapitäns, und nun ging's hinab – ich mit dem Jungen und drei Mann, und nach wenigen Minuten tanzte unsre Nußschale auf dem rasenden Wasser. Wir schrieen unsern Abschiedsgruß nach den andern hinüber, und es war wohl ein Abschied fürs ganze Leben, denn wir haben vom Kapitän und von seinen vier Leuten nie mehr etwas gehört, noch gesehen.«
Der Steuermann nahm einen tiefen Zug aus seinem Glase, sah die drei aufgeregten Gesichter an, die sich voll Spannung ihm zuwendeten, und fuhr fort:
»Ja, Kinder, die Sache hört sich soweit wohl ganz gut an, wenn sie als Geschichte erzählt wird, beim heißen Grog – aber durchmachen, Kinder, das ist 'was anders. Was nun kommt, war erst das Schlimmste. Erzählt ist's in einer Viertelstunde, aber wir haben vier Tage gebraucht, um damit fertig zu werden, und 'nen fünften hätten wir vielleicht nicht ausgehalten. Wir waren froh, als der Sturm gegen Mittag sich legte und die Sonne 'nen kleinen Versuch machte, durch das Gewölk zu kommen. Von unserm Schiffe war nichts mehr zu sehen, von Kapitän und unsern Kameraden auch nicht. Wir nahmen den Kurs östlich und hofften so irgendwo an die afrikanische Küste zu kommen und hatten anfangs ganz leidlich guten Mut. Wir hatten einige Fäßchen gepökeltes Fleisch und Zwieback sowie eine Tonne Trinkwasser in unserm Fahrzeug verstaut und hofften auf irgend eine glückliche Fügung des Himmels. Da trat nach dem Sturme mit einem Male wieder Windstille ein und dazu eine sengende Hitze. Mit den Segeln kamen wir nicht vorwärts, wir mußten rudern und dabei wechselten wir immer zu zwei ab. Aber das war ja bei der furchtbaren Glut tagsüber gar nicht zu ertragen, und so blieben wir während des Tages liegen und suchten bei Nacht weiter zu kommen. Unser Fleischvorrat war etwas scharf gepökelt und erhöhte nun den Durst, der ohnehin nicht fehlte, denn die Hitze machte, daß die Zunge am Gaumen klebte. Dazu kam, daß unsre Wassertonne, als wir sie aufschlugen, sich nur als halbvoll auswies – und was für ein Getränk gab das! Ein Wasser, faulig, voll zähen Schlammes – Kinder, solche Tage wünsche ich meinen schlimmsten Feinden nicht. Aber alle Hochachtung von dem Jungen. Damals habe ich erst gesehen, was Klaus für 'n ganzer Kerl ist, und habe ihn noch mehr lieb gehabt, als bisher. Er war der einzige von uns, der sogar den Humor nicht verlor und der uns alte Seebären über Wasser hielt, wenn wir einmal zusammenschnappten wie alte Taschenmesser. Und dabei war er unermüdlich! Am dritten Abend waren wir so ziemlich fertig mit unserm Wasser, trotzdem wir die Rationen beinahe fingerhutweise verteilt hatten, und wir lagen im Boote wie die Fliegen. Die Hoffnung, Land zu finden, hatten wir fast verloren, nur der Junge griff wieder zu den Rudern, obwohl ihm die Haut in Fetzen von den Händen hing, und wie wir das sahen, griffen wir gleichfalls wieder an, und in Angst, Verzweiflung und Todesmattigkeit brachten wir, unausgesetzt gegen Osten rudernd, die Nacht zu. Am Morgen blieben zwei Matrosen liegen vor Entkräftung, und uns andern drohte wohl dasselbe. Unser Wasservorrat war zu Ende, und dabei ging die Sonne wieder so goldig auf, und der Himmel war so blau, und kein Lüftchen ging über die See. Wir ließen die Hände sinken und ergaben uns in unser Schicksal – nur der Junge nicht, der uns Männer beschämte. Der hielt scharfen Ausguck; mit einem Male schrie er laut auf: »Dort, dort!« Wir sprangen auf und sahen nach der Richtung, wohin er zeigte und nun sahen wir's alle bei der klaren Luft – das war ein Schiff! – Kinder, den Augenblick vergesse ich nicht. Ich hab' den Jungen erst an mich gerissen und abgeküßt, und dann ging's wieder an die Ruder, selbst unsre zwei Halbtoten rafften sich wieder auf. Es galt die letzte Kraft, die Kraft der Verzweiflung. An unserm Maste hißten wir einen wehenden Fetzen auf, und wer nicht ruderte, winkte mit seiner Jacke oder einem Tuche, um das Schiff auf uns aufmerksam zu machen. Und Gott sei Dank, wir kamen ihm näher, wir sahen die Rauchwolke, welche aus seinem Schlote stieg, und hatten die Überzeugung, daß wir seinen Kurs kreuzen mußten. Und so war's auch. Sobald sie uns dort bemerkten, stoppten sie die Maschine, setzten selber ein Boot aus und holten uns an – aber wie wir an Bord gekommen sind, das weiß vielleicht keiner von uns genau zu sagen.
Es war ein englischer Dampfer, der nach Kapstadt ging, und ich kann versichern, er hat mit aller Liebe uns aufgenommen und mit aller Sorgfalt uns gepflegt, so daß wir recht wohlbehalten an der Südspitze Afrikas ankamen. Ich nahm mit Klaus eine Heuer auf einem holländischen Schoner, der zunächst nach New York ging, unsre Kameraden aber fuhren wenige Tage später als wir nach Brasilien auf einer Brigg. Die ist gescheitert, und die armen Teufel haben doch noch ihr Seemannsgrab im Atlantischen Meer gefunden, und so ist vom ›Orion‹ niemand übriggeblieben als ich und Klaus. Wir kamen glücklich in New York an, und da erkrankte der Junge an einem Fieber. Wir waren beide auf einem deutschen Schiffe untergebracht, das schon nach einigen Tagen in See gehen mußte und an bestimmtem Tage in Bremen eintreffen sollte. Einen Aufschub konnte es nicht geben, und loslassen mochte mich der Kapitän nicht, weil er dringend einen erfahrenen Steuermann brauchte. Den kranken Jungen aber konnten wir nicht an Bord nehmen, weil ihm da die rechte Pflege gefehlt hätte, und so habe ich ihn – ihr könnt mir's glauben – mit schwerem Herzen zurückgelassen, aber in guter Hand. Er liegt in einem Hospital, und ich habe ihn einer Krankenwärterin ganz besonders auf die Seele gebunden, außerdem aber auch von dem Arzte die Versicherung erhalten, daß eine Gefahr für ihn nicht vorhanden sei. Dann habe ich ihm all mein Geld zurückgelassen, so daß er mit dem besten Dampfer herüberfahren kann, sobald es nur einigermaßen besser geht. Also, Knut, du darfst glauben, daß er kommt, und wohl auch bald kommt! – Aber nun, Thoms, fülle mir nochmals das Glas, mir ist die Kehle trocken vom vielen Reden!«
Knut erwachte wie aus einem Traume; die Arme auf den Tisch gelegt, beugte er sich mit glühendem Gesichte weit vor gegen Karl Kögge und fragte:
»Und es ist wirklich wahr und keine Seemannsgeschichte, daß Klaus noch am Leben ist?«
»Als ob ich jemals flunkerte, und noch dazu in so ernster Sache«, sagte der Steuermann.
»Aber weshalb hat er niemals geschrieben?«
»Na, das ist klar. In Kapstadt haben wir die Zeit nicht gefunden, so schnell ging's mit dem Einschiffen, auch vermeinten wir, daß der Brief nicht viel schneller gehen würde, als wir selber. Und in New York ist der Junge krank geworden, sobald wir an Land kamen, und von mir ist kein Brief so leicht zu bekommen, auch hoffte ich bald genug, selber eintreffen zu können. Und da bin ich, und nun wißt ihr ja alles, und ich meine, es dauert keine vier Wochen, so kommt der Junge auch heil und ganz wieder, und ihr sollt 'mal sehen, was für 'n stattlicher Kerl der geworden ist. Dem kommt nicht so leicht einer über. – Na, aber jetzt möcht' ich auch wissen, wie's bei euch geht; es will mir scheinen, als wenn Jürgen so ein seltsames Gesicht machte, als ob er nicht ganz klar' Fahrwasser hätte!«
Über Knuts gehobene Seele flog wieder der alte Schatten; er sah Jürgen an mit seinen müden, starren Augen, und es gab ihm einen Stich ins Herz. Dann erhob er sich schwerfällig, reichte dem Steuermann die Hand, und auf dessen verwunderte Frage, warum er schon die Anker lichte, gab er keine Antwort, sondern sagte nur:
»Zur zweiten Wache bin ich wieder da!«
Dann ging er hinaus, stieg langsam die vielen Stufen hinab und trat ins Freie. Erde, Meer und Himmel waren ruhig und lagen im Gottesfrieden der Christnacht, und die Seele des einfachen Fischers empfand beinahe einen heiligen Schauer. Ihm war,, als hätte sich ein Wunder vor ihm vollzogen, als seien wirklich Tote auferstanden aus ihren Gräbern und hätten zu ihm geredet. Selbst der Fluch seines Lebens trat zurück, als er nicht mehr Jürgens fahles Gesicht vor sich schaute, und wie er an dem Leuchtturm hinaufblickte und dessen friedliches, mildes Licht niederfließen sah, da schien es wie ein Gnadenstrahl, der vom Himmel kommt und ihm Vergebung und Versöhnung bringt.
Langsam, tief die kühle Nachtluft einatmend, schritt er dahin, hinüber nach dem Häuschen des Kapitäns. Es drängte ihn, auch dort ein Wort des Glücks hineinzurufen als die herrlichste Weihnachtsgabe. Aus den Fenstern blinkte der Lichtschein: sie saßen wohl noch gemeinsam um den Tisch und freuten sich des heiligen Abends. Er trat näher und stand vor dem Gartenzaun, von wo er hinüberschauen konnte in die freundliche Stube. Von der Decke herab hing die Lampe, welche ihren milden Schein über den Tisch ausgoß und über die Menschen, welche um denselben saßen. Svanholt lehnte behaglich in seinem Stuhle, die Pfeife im Munde und vor sich das Glas mit dem dampfenden Getränke; ein breites Lächeln lag auf seinem gutmütigen Gesichte, das seinem Weibe zugekehrt war, das eine Kinderklapper in der Hand hielt, die es hin und her bewegte vor dem kleinen Wesen in Gretes Arm, das die Händchen danach ausstreckte und lachte. Wilm aber hielt sein Weib umschlungen und sah mit dem Ausdrucke vollsten Glückes auf das Liebste, was ihm der Himmel geschenkt. Auf dem Tische standen grüne Pflanzen und brennende Lichter.
Dem einsamen Manne am Gartenzaune zog es das Herz wieder zusammen, und ihn fröstelte vor innerer Erregung. Düster begann es aufzusteigen in seiner Seele wie Neid und Haß gegen jene Glücklichen da drinnen, und er legte den heißen Kopf wieder auf die Latten des Zaunes. Da hörte er singen – eine Frauenstimme war's, und er wußte, daß es Grete sei. Er mußte wieder des vorigen Weihnachtsfestes denken, wo sie ihm bis in die Seele hineingesungen hatte, und auch diesmal vermochte er sich dem Zauber dieser volltönigen, reinen Altstimme nicht zu entziehen.
Seht, die Liebe ward geboren
Heute in der heil'gen Nacht;
Wer da liebt, ist nicht verloren,
Menschenherzen, auf, erwacht!
Lasset Zorn und Haß verschwinden
Und vom Christkind laßt euch finden!
So klang es herüber, weich und rein, mahnend und lockend, und wie Knut das Haupt wieder erhob, fühlte er eine Thräne in seinem Auge. Fast unmutig wischte er den fremden, seltenen Gast heraus aus dem Gesichte, richtete sich dann hoch auf und ging nun langsam, aber fest nach der Thür des kleinen Hauses. Er trat in den Flur und gleich darauf stand er in dem erleuchteten und durchwärmten Zimmer, wo die Anwesenden verwundert nach ihm herschauten. Statt des Grußes aber sagte er:
»Ich bringe euch eine Christnachtfreude! Klaus lebt!«
Da fuhren sie an dem Tische in die Höhe, und selbst der Kapitän stellte sich einen Augenblick auf die Füße, Wilm aber war an Knut herangesprungen, hatte ihn an den Schultern ergriffen, und indem er ihm tief in die Augen schaute, rief er:
»Knut – redest du irre – oder ist ein Wunder geschehen?«
»Keins von beiden, aber Karl Kögge sitzt drüben im Leuchtturm leibhaftig, und der hat's erzählt. Klaus liegt noch krank in Amerika drüben, aber in vier Wochen kann er bei uns sein.«
Jetzt gab's ein Durcheinanderrufen und Fragen, und im nächsten Augenblicke saß Knut mit an dem Tische, hatte ein mächtiges Glas vor sich und mußte erzählen, was er von dem Steuermann wußte. Der Kapitän blies die dichtesten Wolken aus seiner Pfeife, und die Frauen hielten die Hände ineinander geschlungen wie zum Beten. Als Knut zu Ende war, atmete Svanholt tief auf und sagte:
»Ja Kinder, Respekt vor Klausen, und ich hab's immer gesagt, der Jung' kann's zum Admiral bringen. Das Zeug hat er dazu, denn wenn einer erst so 'nen Schiffbruch überlebt, dann hat ihn der Herrgott zu was besonders Großem aufgespart. So was kann ja keiner von uns erzählen, und der Jung' wird ja der Stolz von der ganzen Insel. Grete, bring' das lütte Gör' zur Ruh' und dann setz' dich wieder her, heute können wir nicht so bald zu Bette gehen. Mir ist die Sache in die Glieder geschlagen, aber angenehm, Mutting, und ich muß erst so zehnmal durch die Kajütte laufen, um mich wieder klar zu kriegen, aber dann sorg' man für einen steifen Grog, aber vom allerbesten, denn dat 's 'n Weihnachtsfest, wie ich's all mein Lebtag nicht gesehen habe.«
Er erhob sich an seinem Stocke, Frau Wencke griff zu, und nun stapfte er vergnüglich durch die Stube und pfiff dazu eine alte Seemannsweise – er mußte seinem Herzen Luft machen. Knut aber war aufgestanden und schickte sich an zum Fortgehen. Da rief Svanholt:
»Das geht nicht, Knut – heute bleiben alle Mann an Deck und fassen doppelte Rationen!«
»Kann nicht, Kapitän!« entgegnete der junge Fischer, »ich hab' für Jürgen heute die zweite Wache im Leuchtturm, und Ihr wißt ja, daß es für den Wachtmann keinen Feiertag gibt.«
»Ja, das ist wahr – dann hilft das nicht, denn Ordnung muß sein!« sagte Svanholt – »aber morgen mittag bist du bei uns und sag' mal Karl Köggen, daß er auch mitkommt. Na, gute Nacht auch und schön' Dank, Knut!«
Knut grüßte und trat wieder hinaus ins Freie und ging mit ruhiger Seele nach dem Leuchtturm; hinter ihm aber glänzte freundlich noch das Licht aus den Fenstern des kleinen Hauses, in welchem glückliche Menschen noch lange fröhlich beisammen saßen.