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Elftes Kapitel.
An Bord der »Irene«

In einem der Hospitäler New Yorks schritt in dem sonnenhellen Korridor ein kräftig gebauter Knabe von etwa fünfzehn Jahren langsam hin und her. Er hatte strohblondes Haar und helle blaue Augen, aber die Wangen waren einigermaßen eingefallen und die Gesichtsfarbe fahl. Er war wohl kaum erst von schwerer Krankheit erstanden und machte vielleicht seinen ersten Gang am Arme eines Wärters, der ihm freundlich zuredete. Der Knabe ließ die Blicke immer wieder hinausschweifen durch die Fenster nach dem großen, sauber gehaltenen Hofe, der aber kahl und nüchtern aussah, und hinauf nach dem Stückchen blauen Himmels, das über Hof und Haus sich ausspannte.

»Sie möchten wohl hinaus?« fragte der Wärter in schlechtem Deutsch, und der blonde Junge seufzte und erwiderte:

»Mir ist's, wie es dem Vogel sein muß, wenn er den Frühling kommen sieht und wenn er daran denkt, in die alte Heimat zu fliegen.«

»Nur Ruhe und keine Aufregung!« mahnte der Wärter; »lange dauert's nicht mehr, und dann können Sie, wenn auch nicht fliegen, so doch auf einem schnellen Schiff hinüber nach Deutschland.«

»Ach, die Zeit geht so langsam. Karl Kogge ist gewiß schon daheim – wenn ich nur erst schreiben könnte!«

»Das wird auch bald werden, und ich möchte wohl für Sie schreiben, aber es geht nicht recht mit dem Deutschen bei mir.«

Jetzt kam ein Herr durch den Korridor, grauhaarig, mit freundlichem Ernst in dem ruhigen Gesicht, und an seiner Seite schritt eine junge Frauensperson. Sie war einfach, aber sauber gekleidet, hatte ein hübsches, gutmütiges Gesicht, das von blondem Haar umrahmt war, und aus welchem ein Paar treuherzige blaue Augen schauten. Der Knabe zuckte freudig auf, als er sie erblickte – das mußte eine Deutsche sein, vielleicht gar eine Ostfriesin, denn so kräftig und so blond sahen die Weiber und die Mädchen seiner Heimat aus.

Der Wärter und der Kranke grüßten, und der alte Herr blieb vor ihnen stehen und reichte dem letzteren die Hand.

»Gratuliere zum ersten Spaziergang!«

»Ich danke sehr, Herr Doktor!« antwortete der Junge.

»Na wie geht das Marschieren?«

»Langsam, und ich möchte am liebsten fliegen!«

»Das glaube ich, aber wir können keine Flügel wachsen lassen. Nur vierzehn Tage oder drei Wochen Geduld, dann werden Sie auch ohnedem flügge werden. Übrigens, Fräulein Strauß« – wandte sich der Doktor zu seiner Begleiterin – »empfehle ich Ihnen diesen jungen Mann besonders, denn er ist ein Landsmann von Ihnen, ein Deutscher, und wird sich gewiß freuen, wenn Sie ihm etwas von Ihrer freien Zeit gönnen wollen.«

Das Mädchen war an den Jungen herangetreten und hatte ihm herzlich die Hand geboten:

»Es ist auch für mich eine Freude, gleich bei meinem Eintritt in dies Haus einem Heimatsgenossen zu begegnen; ich komme, sobald ich kann, zu Ihnen, und dann reden wir von Deutschland.«

Der Kranke drückte warm ihre Hand, und bis ins Herz hinein ward es ihm sonnig: es war, als wehe ihn ein Hauch der Heimat an, als käme ihm von ferne her ein liebes Grüßen. Der Doktor nickte ihm freundlich zu und ging dann mit dem Mädchen weiter, der Junge aber sah den beiden nach, bis sie um die Ecke des Korridors bogen, dann stützte er sich lächelnd auf den Arm seines Wärters, welcher sagte:

»Da sind die Wangen mit einem Male rot geworden, und Sie sehen gar nicht mehr krank aus!«

Dem andern leuchteten die müden Augen heller auf, und er fragte:

»Wissen Sie, wer das Mädchen ist, und woher es stammt?«

»Ich vermute nur, daß es die neue Wärterin ist und daß sie aus Philadelphia kommt; sie macht einen recht freundlichen und hübschen Eindruck – woher sie eigentlich stammt und wer sie von Haus ist, weiß ich nicht zu sagen. Aber nun kommen Sie, damit es für das erste Mal nicht zu viel wird!«

Er führte den Kranken langsam in einen Seitengang und brachte ihn nach dem Saale, wo sich die Rekonvaleszenten befanden, und wo der Junge müde auf einem Sessel an seinem Bette niedersank. Über dem Bette aber stand auf einer Tafel geschrieben: »Klaus Ordinger aus ** in Deutschland« und darunter seine Krankheit und die vorgeschriebene Diät.

Noch am selben Nachmittage kam das blonde Mädchen und suchte ihn auf. Er hatte sich über Anordnung des Arztes wieder niedergelegt, aber sie setzte sich auf den Sitz an der Seite des Lagers und reichte ihm wie am Vormittage die Hand.

»Jetzt wollen wir aber ein Stündchen plaudern, das heißt, ich will plaudern, und Sie sollen zuhören, denn vieles Sprechen ist für Sie noch nicht gut.«

Da fiel ihr Blick auf das Täfelchen an dem Kopfende des Bettes.

»Wie, Sie heißen Ordinger und sind von der Insel **? – Gibt's da mehrere Familien dieses Namens?«

»Nur eine, aber wir sind drei Brüder!«

»Und der eine heißt Wilm? Nicht wahr?«

Klaus sah sie verwundert an:

»Ja – woher wissen Sie denn das?«

»Je, nun, weil dieser Wilm Ordinger der Mann meiner Schwester Grete ist!«

Der Kranke fuhr in seinem Bette in die Höhe, wie aufgeschnellt von einer inneren Kraft:

»Mein Bruder Wilm hat ein Weib?«

»Und das wissen Sie nicht? – Vielleicht ist's dann doch eine andre Familie Ordinger. Gibt's etwa noch eine Insel ** an der ostfriesischen Küste?«

»Nein, nein – da kann kein Zweifel sein – aber sagen Sie mir, wie das geworden, und wie mein Wilm Ihre Schwester gefunden hat, denn ich weiß ja von gar nichts; Sie müssen denken, ich komme aus Afrika und hab' seit Jahr und Tag nichts gehört von den Meinen.«

»Nun, das heiße ich doch ein wunderbares Zusammentreffen, aber nun, mein lieber Klaus – und fürs erste wollen wir als richtige Schwagersleute ›du‹ zu einander sagen – nun leg' dich schön aufs Ohr, und ich will dir die Geschichte erzählen, die ja wunderlich genug ist, denn der Wilm Ordinger hat sich sein Weib geradeweg aus dem Meere geholt, obwohl sie keine Seejungfer ist. Meine Schwester hat mir das lang und breit berichtet.«

Und nun vernahm der staunende Junge die ganze Begebenheit von der Rettung Gretes nach der Bake, vom Tode ihres Vaters, von der Liebe Svanholts und der Frau Wencke, und die Seele ging ihm auf vor Glück, als er so von den Lieben in der Heimat reden hörte. Er lag mit geschlossenen Augen da und ließ alle die Bilder, welche die Erzählung in ihm weckte, an seinem Geiste vorüberziehen und vergaß darüber ganz, daß er in einem amerikanischen Hospital im Bette lag.

Erst als die Erzählerin schwieg, schaute er auf und blickte fast verwundert umher und dann in das Gesicht des Mädchens; er fragte nach einer Weile:

»Ja, und wie kommen Sie – wie kommst du denn hierher? Und wie heißt du denn eigentlich?«

»Ich heiße Hanne Strauß. Als mein Vater und meine Schwester nach der Heimat zurückkehrten, blieb ich in Philadelphia bei einer alten Dame, welche mich liebgewonnen hatte und die ich in ihrer fortwährenden Kränklichkeit pflegte. Sie sagte, sie wolle meiner auch gedenken in ihrem letzten Willen, aber darum hab' ich's nicht gethan, das weiß Gott. Vor kurzer Zeit ist sie plötzlich gestorben. Habgierige Verwandte rissen ihr Besitztum an sich, ohne mir auch nur einen Dollar selbst meines rückständigen Lohnes zu geben. Das war bitter für mich, denn ich hatte gehofft, mit einigen Ersparnissen in die Heimat zurückkehren zu können. Statt dessen stand ich nun mit leeren Händen da und mußte die Sehnsucht nach Deutschland unterdrücken und mich nach einer Stelle umsehen, wo ich mir das nötige Reisegeld zu ersparen vermag. Da wurde mir durch Vermittelung des Arztes in Philadelphia, der meine kranke Herrin behandelt hatte, dieses Amt einer Krankenwärterin hier übertragen, und ich bin darüber doppelt glücklich und betrachte es als gutes Vorzeichen, daß ich dich hier gefunden habe.«

»Und mir ist's, als wäre ich heute schon gesund« – rief Klaus freudig, »und lange bleibe ich nun ganz sicher nicht mehr hier, denn mich zieht's heim zu meinen Brüdern, und ich muß Wilms Weib sehen. Aber du mußt mitkommen! Binde dich hier nicht fest, denn ich lasse dich nicht zurück!«

Hanne lachte halb heiter, halb wehmütig:

»Das ist leicht gesagt – aber ich habe nichts und du hast wohl auch nicht viel!«

»Oho! mir hat der Steuermann Karl Kögge sein ganzes Geld zurückgelassen, und ich kann damit machen, was ich will. Und dafür besorge ich dir eine Fahrkarte, Kajütte I. Klasse, und ich selber nehme auf dem Schiffe eine Heuer als Junge, und so wollen wir schon hinüberkommen nach der Heimat. Aber nun versprich mir eins – Hanne! Schreibe ihnen nichts davon, daß wir uns gefunden haben und gemeinsam zurückkehren, wir wollen sie überraschen, und du sollst mal sehen, was die für Gesichter machen! Das wird eine Freude geben!«

Das Mädchen sah beinahe besorgt auf den aufgeregten Jungen, dessen Wangen glühten und dessen Augen leuchteten:

»Ja, ja, Klaus! Aber nun ist's gut für heute. Wir haben fast zu viel geredet, und ich fürchte, der Arzt wird uns beide schelten. Daß dir nur nicht wieder schlimmer wird nach der Aufregung.«

»Da sei unbesorgt. Ich habe eine gute Natur, wie wir Ostfriesen alle, und ich glaube, ich könnte heute schon wieder am Großmast hinaufklettern. O wie ich mich nach dem blauen Wasser sehne und nach meiner kleinen Insel. O, es ist hübsch dort, so still und friedlich, so – –«

Hanne legte ihm die Hand auf den Mund.

»Jetzt sprichst du kein Wort weiter! Und morgen komme ich wieder, und wir wollen beide recht vernünftig sein.« – –

Als am andern Morgen der Arzt zu Klaus kam, war dieser schon auf den Beinen.

»Hoho, das geht ja geschwinde. Und Sie denn nicht schwach und schwindlig?«

»O gar nicht, Herr Doktor – mir ist ganz wohl!«

»Das ist ja gerade zu unbegreiflich – da muß die neue Wärterin ein Wunder gethan haben!«

»Das hat sie auch, Herr, denn wir sind ja Verwandte. Und in acht Tagen geht's fort!«

Der Arzt lachte, drohte mit dem Finger und sagte:

»Das wollen wir noch abwarten, einstweilen aber versuchen wir's mit etwas kräftigerer Nahrung.«

Und es war tatsächlich wunderbar, wie schnell es jetzt mit der Genesung Klausens vorwärts ging. Dabei drang er unaufhörlich in Hanne, ihre Stellung nicht fest anzunehmen, sondern mit ihm zugleich nach Deutschland zu gehen, so daß sie endlich nachgab.

Auch der Arzt erkannte, daß der Junge sich nicht länger halten lassen würde, und überdies hoffte er von der Seeluft den günstigsten Erfolg für die Rekonvaleszenz, vorausgesetzt, daß Klaus nicht übermäßig angestrengt werde. Er hätte freilich gewünscht, daß sein Patient die Reise als Fahrgast zurücklege, aber das war nicht nach dessen Sinn, und er versicherte, das müßige Lungern an Deck würde ihn aufs neue krank machen.

Sobald er nur hinaus durfte, begab er sich nach dem Hafen und das Herz schlug ihm vor Lust, als er die Masten sah und die Takelagen der stolzen Schiffe der verschiedensten Nationen, welche hier vor Anker lagen. Die deutsche Flagge fehlte nicht. Es waren stattliche Passagierdampfer hier, aber auch schmucke Segelschiffe, Handelsfahrzeuge, und Klaus verstand es ganz geschickt, mit Matrosen anzuknüpfen, die am Hafen herumlungerten. Als er das zweite Mal dahinkam, fiel ihm ein breitschulteriger Geselle auf, der zweifellos ein Friese sein mußte, denn er sah aus wie Wilm. Der Junge ging auf ihn zu, grüßte ihn treuherzig in plattdeutscher Mundart, und der Mann lachte ihn vergnügt an. Auch er freute sich offenbar des jungen Landsmannes, der ihm hier in den Weg trat. Er war von der Insel Borkum, und es stellte sich heraus, daß er Wilm Ordinger kannte.

Jetzt war die Freundschaft bald fertig, und Klaus schüttete dem Manne, der ihn in eine Seemannsschenke nahm und ihm ein Glas Grog kommen ließ, sein ganzes Herz aus und legte ihm seinen Wunsch nahe, auf einem deutschen Schiffe nach der Heimat zurückzukehren, aber es müßte auf demselben auch ein Plätzchen sein für eine Verwandte, ohne die er nicht reisen könne.

Der Vollmatrose strich sich den blonden Bart, dann sagte er:

»Ich will Rat schaffen. Auf der ›Irene‹ selber wird sich's thun lassen. Ich rede mit dem Steuermann heute noch – aber die Sache hat Eile. Wir lichten in vier Tagen die Anker nach Bremen, mach' dich also immer mit dem Frauenzimmer fertig zur Abfahrt. Und daß dir's nicht zu schlimm gehen soll, dafür laß mich sorgen. Du bist ja 'n ganzer Kerl, der die Linie passiert und seinen Schiffbruch hinter sich hat und vor dem unsre Matrosen Respekt haben sollen.«

Der Mann, Bert Helmert war sein Name, gab Klaus noch einige Weisungen, versprach ihm für den nächsten Tag weitere Mitteilungen, und der Junge kam glücklich zu Hanne, um sie zu veranlassen, daß sie ihre Vorbereitungen zur Abfahrt treffe.

Schon am nächsten Tage kam Bert Helmert selbst nach dem Hospital und berichtete, daß er alles in Ordnung gebracht habe, und von da ab bemächtigte sich Klausens eine leicht begreifliche Erregung. Der Arzt hätte ihn jetzt nicht mehr zurückzuhalten vermocht, auch wenn sein Gesundheitszustand dies erheischt hätte. Hanne, welche bis dahin ruhig gewesen war, wurde von seiner Aufregung angesteckt; sie hatte ihre Beziehungen zum Hospital gelöst, wo man sie trotz ihres kurzen Aufenthalts nur ungern scheiden sah, aber sie zurückzuhalten ging, wie die Dinge einmal lagen, nicht an.

Wieder zwei Tage später war es, als die beiden Deutschen in einem Mietswagen an den Hafen fuhren. Es war Abend, aber Klaus kannte sich bereits aus; er wußte, wo er das Boot der »Irene« zu suchen hatte, und Bert Helmert war selber noch mit einem Matrosen gekommen, um ihn abzuholen. Die Ruder schlugen ein, und nun ging es durch das Gewirr des Hafens, und nach kurzer Fahrt legte das Boot bei einem schmucken Schiffe an. Sie stiegen an Bord, und Bert Helmert stellte die beiden Ankömmlinge zuerst dem Kapitän vor, einem alten Burschen mit braunen und verwetterten Zügen, aus dessen Augen aber gutmütige Ehrlichkeit leuchtete, und der den Burschen und das Mädchen mit festem Handschlag begrüßte. Dasselbe that auch der Steuermann, und nun erhielt Klaus seine Koje, Hanne eine kleine, saubere Kajütte angewiesen.

Die Nacht verging ruhig, und beim Morgengrauen rasselten die Anker aus dem Grunde, und mit geschwellten Segeln zog die »Irene« hinaus aus dem Hafen. Erst als New York wie in einem Nebel versank, ward es Klaus wohl. Mit tiefen Zügen atmete er die frische Luft ein, und mit leuchtenden Augen sah er hinaus in die See, die leicht bewegt war, und über welcher ein blauer, sonnendurchleuchteter Himmel lag. Auch Hanne war an Deck und blickte auf die Wellen, und das Heimatgefühl in ihrer Seele wurde wieder stärker, als es seit langer Zeit gewesen war.

Klaus fühlte nichts mehr von seiner Krankheit; mit erstaunlicher Sicherheit und Gewandtheit versah er seinen Dienst, so daß die Mannschaft ihre Freude an dem lebendigen und allezeit heiteren Burschen hatte und sich abends oft um ihn scharte und zuhörte, wenn er, der Jüngste unter ihnen, von seiner letzten abenteuerlichen Fahrt erzählte. Selbst der alte Niels Springgut, ein wunderlicher Kauz von einem Matrosen, der schon in allen Weltteilen gewesen war und alles kannte, nahm es nicht übel, daß man sich dem jungen Blut zuwendete und seinen Erzählungen lauschte. Er lehnte selbst mit dabei am Mast und warf sein Priemchen Kautabak behaglich aus einer Backe in die andre.

Außer Hanne Strauß befand sich noch ein Passagier an Bord, ein hagerer, langweiliger Gesell, der auch in Deutschland daheim war. Er war in jungen Jahren ausgewandert, hatte sich im »Lande der Freiheit« ein kleines Vermögen erworben und gedachte jetzt nach der alten Heimat zurückzukehren, um in seinem Geburtsstädtchen, einem bescheidenen mitteldeutschen Flecken, als Rentier zu leben und – worauf er sich besonders freute – den Neid seiner ehemaligen Jugendgenossen zu erwecken. Er war ein gelber, gallsüchtiger Bursche, erfüllt von großem Selbstbewußtsein, und war besonders deshalb mit der »Irene« gefahren, und nicht mit einem Hamburger oder Bremer Schnelldampfer, weil er meinte, auf einem Segelschiffe eine Rolle spielen zu können als vornehmer, vielleicht als einziger Passagier. Er hieß Lebrecht Werner.

Er hatte sich gleich anfangs an Hanne angeschlossen, aber sein gespreiztes Wesen stieß das Mädchen ab, und sie begegnete ihm nicht unhöflich, aber sehr kurz angebunden. Und als er erst bemerkte, in welcher Weise sie mit dem Schiffsjungen verkehrte, kümmerte er sich weniger um sie, denn sie schien kein Verständnis für bessere Gesellschaft zu besitzen. Dann hatte er versucht, sich an den Kapitän heranzumachen, aber der alte Knabe schien an seinem Passagier auch kein besonderes Gefallen zu finden und schüttelte ihn mitunter ziemlich grob ab, so daß Herr Lebrecht Werner auf der »Irene« nicht jenes Vergnügen, noch weniger aber jene auszeichnende Behandlung fand, welche er gehofft hatte.

Am meisten glaubte er sich noch an dem Schiffsjungen reiben zu können, und Klaus ließ sich in seiner Gutmütigkeit und in der Herzensfreude, die ihn erfüllte bei dem Gedanken an die Heimat, auch alles ruhig gefallen. Als er sich aber durch sein ganzes Wesen bei der Schiffsmannschaft Liebe und Respekt erworben hatte, fanden sich unter dieser Leute, welche sich seiner annahmen und der Anmaßung Werners ihm gegenüber einen Damm setzten. Dazu gehörte vor allen der alte Niels Springgut. Der war dem gallsüchtigen Passagier auch sonst nicht grün, besonders seit er einmal mit seinem überlegenen Lächeln eine der Geschichten des alten Matrosen begleitet hatte.

Und Niels steckte voll von solchen Geschichten, die er teils selbst erlebt haben wollte, teils von ganz glaubhaften Leuten, deren Namen er stets zu nennen wußte, erfahren hatte. Eines Sonntags nachmittags bei prächtigem Wetter und günstigem Winde hielten die Matrosen auf dem Deck eine gemütliche Unterhaltung. Werner stand in einiger Entfernung von ihnen und hörte ihren Reden zu, stets mit dem blasierten, überlegenen Lächeln eines Mannes, der all das für leeres Geschwätz hält. Da ging Niels an ihm vorüber, und weil sich der Passagier leutselig zeigen wollte, sagte er herablassend:

»Prächtiges Wetter, Niels – wie? – Und eine Brise, wie wir sie besser nicht wünschen können.«

Der Alte drehte sich um und sah den Sprecher mit einem fürchterlichen Blicke an, so daß es schien, als hätte er ihn am liebsten über die Schanzbekleidung in die Wellen geworfen, dann spie er ingrimmig aus, schob seinen Kautabak aus der linken in die rechte Backe und ging, ohne Werner eines Wortes zu würdigen, weiter zu den Matrosen.

Herr Lebrecht rief ihm nach, daß ein Fahrgast doch wohl etwas mehr Rücksicht verdiene, und daß er als gebildeter Mensch gewohnt sei, wenigstens eine Antwort auf eine Anrede zu erhalten, indes der erboste, alte Matrose gab ihm eine solche nur indirekt, indem er bei seinen Genossen angekommen mit lauter Stimme lospolterte:

»Dem Kerl muß der Teufel die Segel spannen. Paßt auf, der laviert uns alle noch ins Unglück. Preist mir da ins Gesicht die gute Brise – und das bringt doch Sturm, Jungens!«

Er schob aufgeregt sein Priemchen wieder aus der rechten in die linke Backe hinüber und ließ einen Blick unsäglicher Verachtung über den unglücklichen Reisenden schweifen, der halb geärgert, halb belustigt über den »dummen Aberglauben« an dem Bordgeländer lehnte.

»Die Sache gefällt mir so nicht recht!« fuhr der Alte fort – »mir hat heute nacht von Fischen geträumt, und das gibt Regen.«

»Ärger' dich nicht, Niels – was kann die Landratte dafür, daß sie nicht gescheiter ist!« besänftigte Bert Helmert. »Ein Matrose, der wie du auf der ganzen Erde herumgekommen ist und alle fünf Weltteile gesehen hat, muß sich darüber nicht aufregen.«

Der Alte fühlte sich offenbar geschmeichelt; er setzte sich behaglich auf eine Rolle Tau und wurde nicht einmal grob, als einer der Matrosen gegen den Wind ausspuckte; er begnügte sich nur damit, ernst zu sagen:

»Das darf man nicht, Robert – gegen den Wind spucken, bringt Unglück – aber ihr junges Volk wißt den Teufel von den alten, guten Regeln und müßt erst ein paarmal zuviel Salzwasser geschluckt haben, eh' ihr vernünftig werdet. Ihr seid im stande und lacht auch einen alten seebefahrenen Menschen aus, denn ihr glaubt überhaupt nicht mehr an Gott, noch an den Teufel!«

»An Gott schon«, rief der eine – »aber an den Teufel nicht!«

»Na, hab' ich's nicht gesagt? – Freilich gibt's den Teufel, und ich hab' ihn selber gesehen, als wir in dem Stillen Ozean kreuzten mit der ›Malwine‹.«

»Erzählen, erzählen!« riefen die Burschen rauh und lustig, und selbst Herr Lebrecht Werner rückte noch immer mit seinem spöttischen, überlegenen Lächeln auf den Lippen näher.

Niels setzte sich behaglicher zurecht und begann:

»Wir hatten damals 'nen Kapitän, 'nen findigen Kerl, der auf Usedom zu Hause war und Jochen Kehlbrand hieß. Er war wie 'n Riese, aber dabei 'n merkwürdig fahles Gesicht mit einem schwarzen, zottigen Barte und 'n Paar Augen – na Jungen's, so was von Augen hab' ich mein Tag nicht gesehen; die waren richtig grün und funkelten bei der Nacht. Aber er konnte keinen Menschen recht anschauen damit, und wenn einer das Wort »Gott« sagte – so spuckte er aus. Wir gingen ihm aus dem Wege, wo's nur sein mochte, nur einer aus uns – wir hießen ihn den Roten Brun, weil er 'nen richtigen Fuchskopf hatte – der schwänzelte so bei ihm herum bei Tag und Nacht. Der Kerl war uns unheimlich, denn er verstand allerlei Kunststücke, fraß Feuer und soff flüssiges Blei, ohne die Fratze zu verziehen – und dabei machte er nur spielend die schwersten Arbeiten und lachte uns wohl auch aus, wenn's uns nicht von der Hand gehen wollte. Einer von uns aber sagte, das wäre der Teufel, und wir haben dann die Probe gemacht und verlangt, er solle 'mal ein Kreuz schlagen. Da grinste er anfangs dumm und zog 'ne Fratze, als aber einer nun selber ihm ein Kreuz mit dem Daumen über die Nase machte, da spie er aus und wuchs mit einem Male großmächtig über unsre Köpfe weg, und das Gesicht sah schwarz aus. Wir dachten, er würde einem den Kragen umdrehen, aber er schrumpfte wieder ein, knirschte mit den Zähnen und drehte sich um. – Jetzt wußten wir's ganz gewiß, mit wem wir's zu thun hatten, und gingen ihm aus dem Wege. Seitdem aber steckte er nur noch mehr mit dem Kapitän zusammen. Wir haben damals eine so ruhige Fahrt gehabt, wie ich sie niemals mehr im Leben durchgemacht habe, so zwei-, dreimal zogen wohl Wetter auf, aber dann kletterte der Rote Brun auf den Großmast und machte dort verrückte Zeichen nach dem Himmel, und die Wolken zogen vorbei, ohne uns zu schaden. Die Sache war zu unheimlich, und als wir in den Hafen kamen, verließ ich mit sechs andern das Schiff, und wir sagten's dem Kapitän, wir wollten nicht mit dem Teufel zusammenfahren. Zuerst war er springgiftig, dann lachte er höhnisch auf und warf uns hinaus. Später hab' ich den Steuermann der ›Malwine‹ nochmals gesehen, der hat mir's auch erzählt, daß es kein gutes Ende genommen. Der wußt' es auch ganz genau, daß der Kapitän sich dem Teufel verschrieben hatte auf fünfundzwanzig Jahre, und so lange fuhr der Rote Brun mit ihm, ohne jemals älter zu werden, und mußte alles thun, was der Kapitän verlangte. Sobald er etwas nicht vollführte, war der Pakt aus. Die fünfundzwanzig Jahre waren bald herum, und der Kapitän war 'n schlauer Kerl. Er befahl eines schönen Tages dem Roten Brun, er solle die See aussaufen. Na, der legt sich denn auch ins Zeug, und die andern standen dabei und schüttelten sich vor Grausen, wie er immer einen gewaltigen Schluck nach dem andern nahm und das Wasser auf das Deck spie, wo es unheimlich anfing zu steigen, so daß dem Kapitän selber Angst zu werden schien. Da kam ihm ein glücklicher Gedanke; er stellte die Pumpe so, daß er das Wasser, welches der Teufel herausgebracht, wieder ins Meer hineinpumpte, so daß die See gar nicht abnahm. Der Teufel mühte sich fürchterlich ab, während der Kapitän grinsend an der Pumpe stand. Endlich aber schien jener den Betrug zu wittern. Er drehte sich mit einem Male ab, sprang vom Bugspriet, worauf er gesessen, herüber, und es war, als ob ihm eine Flamme aus den Augen und aus dem Munde schösse – und im Nu war er bei den Matrosen vorüber und stand neben dem Kapitän bei der Pumpe. Und mit einer fürchterlichen Stimme hörten sie ihn schreien: ›Schandkerl, du willst mich um deine Seele betrügen?‹ und im nächsten Augenblicke flog ein großer roter Vogel mit einem schwarzen flatternden Fetzen in den Krallen an dem Großmast in die Höhe, in den Lüften pfiff und sauste es – und wie die erschrockenen Leute nach dem Kapitän suchten, lag er bei der Pumpe mit blauschwarzem Gesichte tot. So hat mir's der Steuermann erzählt!«

»Na, und Ihr habt doch die ungeheure Lüge nicht geglaubt, Niels?« fragte jetzt die spöttische Stimme Lebrecht Werners, der um einige Schritte näher getreten war, aber da fuhr der Alte auf:

»Herr, wer hat Euch um Eure Meinung gefragt? – Ich weiß, was ich weiß, und lasse mir nicht von 'nem Dummerjahn dazwischen reden. Und wenn Ihr mir etwa sagen wollt, ich hätte hier nicht die Wahrheit erzählt, dann setzt mal schnell alle Segel bei und macht Euch fort, sonst renn' ich Euch ein Leck in Eure dürren Planken! – Na, was denn, so 'n Fliegenfresser will mich lehren, was wahr ist!«

»Na, menagiert Euch, Niels!« lenkte Werner ein, »ich hab's nicht schlimm gemeint –«

»'s ist Euer Glück, daß Ihr das behauptet!« sagte der Alte knurrend, aber einigermaßen besänftigt, zumal ihm ein Matrose seinen Kautabak hinreichte, von welchem er sich ein kräftiges Priemchen abschnitt, das er behaglich zwischen seine braunen Lippen schob. Dann fuhr er fort:

»Aber gegen den Teufel hilft niemand besser, als Sankt Michael. Der kann ihn bannen, und Swen Helmgast, ein Norweger, mit dem ich auf dem ›Seelöwen‹ fuhr, hat's als wahr erzählt, daß Sankt Michael einmal, um den Bösen von einem Schiffe fortzubringen, mit ihm eine Wette machte, wer am tiefsten tauchen könne. Der Teufel war dabei und fuhr unters Wasser, daß es nur so klatschte und spritzte. Sankt Michael aber schlug ein großes Kreuz über die See, und mitten im Sommer geschah jetzt ein mächtiges Wunder. Über das ganze Meer, soweit man nur schauen konnte, legte sich Eis, und wie der Teufel in die Höh' kam nach einer langen Weile, rannte er sich den Schädel an die Eisdecke, daß es nur so krachte und dröhnte. Da tauchte er wieder unter und stieß wieder herauf, aber das Eis hielt fest, und der Teufel verlor zuletzt die Besinnung und blieb auf dem Meersgrunde liegen.«

»Na, dann gibt's aber doch keinen mehr«, rief der eine, ein andrer sagte aber: »Die See muß doch wieder aufgetaut sein.« –

Der Alte aber fand keine Zeit zu antworten. Er sprang auf und stürzte zu Lebrecht Werner hin, der sich eben eine Zigarre angebrannt und das verkohlte, noch glühende Streichholz über Bord geworfen hatte. Niels faßte den Passagier an beiden Schultern und schüttelte ihn, als ob er ihm die Seele aus dem Leibe rütteln wollte, so daß jenem das eben angebrannte Rauchkraut aus dem Munde fiel. Dazu schrie er:

»Was zu toll ist, ist zu toll! Wirft der Kerl 'ne glühende Kohle über Bord! Unglücksmensch, wißt Ihr denn nicht, daß das einen ungeheuren Sturm bringt? – Aber weh Euch – wenn er kommt – mit meinen Händen werf' ich Euch in die Wellen, elende Landratte!«

Werner wand sich in den starken Armen und schrie dazu laut um Hilfe, so daß die andern herbeieilten und ihn befreiten. In diesem Augenblicke kam auch der Kapitän, und der Gemißhandelte beklagte sich bitter bei diesem über Niels' Brutalität. Als der Kapitän erfahren hatte, um was es sich handle, zuckte er die Achseln und sagte:

»Ja, das sind Seemannsbräuche, Herr, und ich möcht' Euch doch raten, lieber auf Achterdeck zu bleiben, wenn Ihr solchen Sachen aus dem Wege gehen wollt!«

Herr Lebrecht Werner rieb sich seine schmerzenden Schultern und entfernte sich brummend, indem er seinen Plan, auf einem Segelschiff in die Heimat zurückzukehren, hundertmal verwünschte. Von da an hielt er sich einsam auf Hinterdeck und wechselte höchstens einige Worte mit dem Kapitän oder Steuermann oder auch mit Hanne, die ihm, wenngleich zurückhaltend, doch freundlich begegnete.

Niels' Besorgnis wegen eines Sturmes schien sich indes nicht zu erfüllen. Die »Irene« hatte gute Fahrt, und ein günstiger Südwest kam ihr außerordentlich zu statten. Alle Segel waren gehißt, und das schmucke Fahrzeug lief behaglich und glatt vor dem Winde. Hanne hatte einen leichten Anfall von Seekrankheit gehabt, indes das war schnell überwunden, und bald war sie gewohntermaßen wieder an Deck und hörte auf das eintönige Klappern der Flaggenleinen an dem Maste und auf das Knarren der Raaen, oder sie lehnte sich an den Bordrand und lauschte, wie die Wellen um den Bug sangen, und sah mit Vergnügen zu, wie der feine Wasserstaub aufstäubte und sich der Sonnenstrahl buntfarbig in ihm brach. Dann ging sie wieder vor an das Roof, wo sich in einem Käfig eine Anzahl Tauben befanden, die sie fütterte und welche ihr gurrend das Futter aus der Hand nahmen, und wenn es ihr kühl wurde, Saß sie in ihrer kleinen freundlichen Kajütte bei einer Handarbeit, mit welcher sie die Schwester zu überraschen gedachte.

Eine besondere Freude jedoch war es ihr, wenn sie mit Klaus ein Stündchen zusammensitzen konnte, und wenn er ihr von seiner kleinen Insel erzählte, die nach seiner Schilderung das schönste Fleckchen auf Gottes weiter Erde sein mußte, und von seinen beiden Brüdern, dem starken, ruhigen, blonden Wilm und dem heißblütigen, aber herzensbraven Knut, und bei seinen Erzählungen wuchs die Sehnsucht des Jungen selbst immer mehr und mehr.

So war das Schiff in den Kanal gekommen und noch immer war es von gutem Winde begünstigt, so daß Niels Springgut beinahe unmutig den Kopf schüttelte in der Befürchtung, daß seine Prophezeiung und die Richtigkeit seiner Schifferregeln fraglich werden könnten, denn lieber wollte er einen regelrechten Schiffbruch erleiden, als daß sein Ansehen einen Stoß erhalten sollte. Die See war belebter, Segelschiffe zogen vorüber, die Rauchlinien der Dampfer zeichneten sich von dem Grunde des Himmels ab, und die Küste Englands trat mitunter mit bläulichem Schein heraus aus dem leichten Dunst, der sich wie ein Schleier um sie wob.

Nun war man schon ganz nahe an der Heimat, und Klaus freute sich schon darauf, von Bord hinüberschauen zu können nach seinem kleinen Eiland, von dem er wenigstens den ragenden Leuchtturm zu sehen hoffte.

Da schlug das Wetter plötzlich um. Der Wind frischte auf und sprang nach Nordwest um, und Niels rieb sich halb ingrimmig, halb vergnügt die Hände. Als er an Herrn Lebrecht Werner vorüberkam, murrte er: »Das Wetter kommt – ich hab's ja gesagt – und Ihr seid schuld daran.«

Dem Passagier wurde es bei den wilden Augen und den zornigen Gebärden des alten Matrosen höchst unbehaglich, und ihn überkam eine Angst, so daß er sich in die Kajütte verkroch. Man hatte die Segel zum großen Teile gerefft, und der Kapitän hielt mit besorgtem, finsterem Gesicht Ausguck.

»Das wäre hier 'ne böse Geschichte, wenn uns ein Wetter packte – die See hier ist heimtückisch, die kenn' ich«, sagte er zu dem Steuermann, und auch dieser wiegte bedenklich den Kopf.

Gegen Abend machte der Himmel eine recht besorgniserregende Miene; zerrissene graue Wolkenfetzen jagten sich auf dem fahlen Grunde, und der Wind kam stoßweise, so daß nun die Segel festgemacht wurden und die »Irene« nur noch unter gerefften Sturmsegeln ging. Die graugrünen Wellen waren schon längst unruhig geworden, auf ihren zornigen Häuptern trugen sie leichten Schaum, und in wilder Hast begannen sie übereinander hinwegzurollen.

Es kam die Nacht, dunkel und unbehaglich, und der Kapitän spähte nach einer Landmarke. Nach einer Weile rief er den Steuermann und sagte:

»Ich weiß nicht, was das ist? Ich bin doch nicht blind, und Kurs haben wir auch gehalten. Von rechtens muß doch da drüben der Leuchtturm auf der Insel ** stehen – könnt Ihr etwas wie ein Licht entdecken in dieser verd... Finsternis?«

Auch der Steuermann lugte scharf aus.

»Kann nichts sehen, Kapitän!«

»Na, das ist ja eine ganz verwetterte Geschichte! Wo zum Teufel sind wir denn da eigentlich hingeraten, Lars?«

»Je, das kann kein Irrtum sein, Kapitän, wir sind zwischen 53. und 54. Grad Breite und zwischen 4. und 5. Grad Länge (von Paris), und mit dem Leuchtturm von ** muß irgendwas passiert sein!«

Der Kapitän schüttelte wieder ärgerlich den Kopf. Und nun setzte der Sturm mit einem plötzlichen Toben und Rasen ein, so daß das Schiff sich auf die Seite legte und die Wellen zornig über das Deck schlugen. Die Mannschaft war vollzählig oben, und man hörte den alten Niels, der fluchend und wetternd, dabei aber wie mit unverkennbarem Triumphe sprach:

»Ich hab's ja gesagt! Das hat die Landratte gemacht, wie sie die glühende Kohle über Bord warf! Aber wenn ich den Kerl zwischen die Finger kriege!«

Der Unselige, dem diese Worte galten, kroch eben langsam und angstvoll die Kajüttentreppe empor, und sein weißes Gesicht tauchte nahe bei der Kommandobrücke auf, wo der Kapitän stand. An diesen trat Herr Lebrecht Werner jetzt heran und rief mit den Zeichen höchster Angst:

»Herr Kapitän – wir werden doch nicht Schiffbruch leiden? Ich hab' all mein bißchen sauer erworbenes Gut bei mir und wäre ein Bettler ...«

»Herr«, schnob ihn der Angeredete an – »es geht uns einem wie dem andern, und noch sind wir nicht am Ersaufen. Die ›Irene‹ ist ein braves Schiff, und wir thun, was wir können – aber Sie gehen jetzt in Ihre Kajütte, damit Sie mit Ihrem Leichenbittergesicht mir nicht meine Leute kopfscheu machen! – Vorwärts!«

Herr Lebrecht fühlte ein Zittern im ganzen Körper, er kam sich so ganz verlassen vor, aber er zog sich doch langsam zurück, mehr als durch die barschen Worte noch durch das furchtbare Gesicht Niels' bewogen, der, sobald er ihn erblickte, mit erhobenen Fäusten auf ihn zukam:

»Herr, den Sturm verdanken wir Euch – Euch soll doch – –«

Mehr vernahm der Arme nicht; er flog über das Deck hin, als wenn ihn der Sturm fegte, und fiel beinahe die Treppen zur Kajütte hinab. Dort warf er sich in qualvollster Aufregung in seine Koje. Auch Hanne war durch den Sturm heraufgetrieben worden, aber sie stemmte sich gegen den Wind und hoffte, Klaus zu finden. Inzwischen fing es an zu schneien, und die Flocken tanzten so dicht um das Fahrzeug, daß es wie von einem Schleier eingehüllt war. Da stand der Junge plötzlich neben ihr und erfaßte ihre Hand.

»Geh hinunter, Hanne, hier oben wird's ungemütlich für Frauensleute«, sagte er – »oder hast du Furcht?«

»Nein«, erwiderte sie ruhig – »es kann mir nichts andres passieren, als euch allen!«

»Und laß gut sein – das bißchen Wind und Gestöber werden wir schon abwettern – es ist nur schade, daß es uns gerade hier kriegen muß, wo wir doch ganz nahe bei der Heimat sein müssen. Aber jetzt adieu, Hanne, und geh hinunter – ich rufe dich, wenn's schlimmer wird!«

Er huschte fort, und sie hielt es auch für das beste, die Kajütte aufzusuchen. Der Wind war indes noch etwas weiter gegen Nord umgesprungen und sauste und heulte im Takelwerk, während die See anfing zu brüllen wie ein gereiztes Ungeheuer. Der Kapitän stand fest und mit der unerschütterlichen Ruhe des echten und erfahrenen Seemanns auf seinem Posten und gab durch das Sprachrohr seine Weisungen. Es wurde unausgesetzt gelotet, und Bert Helmert besorgte das in einer Weise, als ob er es nur zum Spaße machte, so sicher, so fern von jeder Erregung.

»Acht Faden!«

Das war keine große Tiefe mehr, und die Sache fing an bedenklich zu werden. Und wieder spähte der Kapitän nach irgend einem Lichte aus, aber trotzdem das Schneewetter aufgehört, war nichts zu erblicken. Das Schiff lief völlig vor dem Winde, und wenn man sehr nahe an der Küste war, konnte man jeden Augenblick auffahren auf eine Untiefe oder zerschellen an einer Klippe.

»Sieben Faden!« rief Bert Helmert, so laut er nur konnte, und dabei schlugen die Wellen dröhnend an die seufzenden Schiffsplanken.

»Sechs Faden!«

Weiter konnte sich der Kapitän unmöglich treiben lassen, wenn er nicht selber den gewissen Untergang seines Fahrzeugs herbeiführen wollte; er rief durch das Sprachrohr:

»Luw an!«

Der Steuermann hatte das Kommando bereits erwartet; er machte eine rasche Bewegung des Steuerrads, und ächzend, aber gehorsam wendete sich die »Irene« gegen den furchtbaren Wind.

»Steuerbordanker los!« erscholl wieder der Ruf des Kapitäns, und schon im nächsten Augenblicke hörte man durch das Fauchen des Sturmes und das Schlagen der Wellen das Rasseln der Ketten durch die Klüsen, und die beiden Anker sanken zum Grunde. Es war die ganze Länge der Ketten abgerollt worden, und von ihrer Festigkeit hing jetzt das Schicksal des Fahrzeugs und seiner bedrohten Bemannung ab. Der Kapitän hatte die Absicht, den Sturm, wenn irgend möglich, »vor Anker abzureiten«, wobei er hoffte, daß das Unwetter nicht allzulange dauern werde.

Nun kam eine Zeit ängstlicher Spannung für alle. Der Orkan legte sich gegen das Schiff, und die Ketten wurden straff. Der Kapitän hielt ab und zu den Atem an und lauschte. Die Wellen brausten machtvoller heran und schlugen klatschend und dröhnend über das Deck, und so oft die See wild und schwer heranrollte, bäumte sich die »Irene« vorn hoch auf, als sträube sie sich gewaltsam gegen die Fesseln, welche sie am Grunde hielten, als wolle sie lieber fortjagen, hinein in den tollen Wirbel der wütenden Elemente. Und jedesmal, wenn das Schiff von den Wogen hochgehoben wurde, spannten sich die Ketten straff wie eiserne Stangen, die Glieder rissen wild gegeneinander, und von dem Rucken der ehernen Fesseln erzitterte jedesmal das Fahrzeug, und durch das Heulen des Sturms und das Rollen der See klang dann ein Kreischen und Schreien der Ketten.

Das währte eine kurze Weile, und Kapitän und Mannschaft hofften, daß die Kettenglieder fest genug sein würden, um dauernden Widerstand leisten zu können. Da rollte sich hoch aufbäumend eine ungeheure Welle heran mit weißumschäumtem Haupte. Der Kapitän sah sie kommen – immer näher – mit ihrem unheimlichen Glänzen, und er rückte den Südwester hinaus in den Nacken, denn es wurde ihm mit einem Male so furchtbar heiß und unbehaglich. Ein plötzlicher, ungewöhnlich heftiger Windstoß riß ihn beinahe von der Brücke, so daß er sich krampfhaft mit beiden Fäusten festhielt. Zugleich aber schlug jetzt mit verdoppelter Gewalt die fürchterliche Woge gegen das Schiff. Hoch stieg das Vorderdeck empor – dann schrillte ein unheimlicher Laut durch die heulenden Lüfte, das Fahrzeug erhielt einen Ruck, als sei es auf Fels aufgefahren – dann folgte ein Knall, wie wenn eine klatschende Hand gegen den Bug geschlagen hätte – und sie alle wußten es: die Ketten waren gerissen, und frei von Banden sauste die »Irene« dahin, wild, zügellos, verzweiflungsvoll gegen sich selber rasend.

Einige Augenblicke ging das Schiff hoch auf den Wellen wie ein Sieger, dann aber fielen die Wogen darüber her wie ein Rudel Wölfe über das abgehetzte, kampfesmüde edle Roß; es wurde auf die Breitseite geworfen, richtete sich stöhnend und zitternd wieder auf, wurde abermals einige Augenblicke wild dahingejagt, dann senkte es sich plötzlich, und mit einer furchtbaren Erschütterung saß es fest auf dem Grunde, während zugleich der Fockmast abknickte und mit allem, was an Takelung daran war, über Bord ging.

Jetzt brachen erst die schweren Grundseen heran und rollten über das Deck, und der Hauptmast barst und mußte gekappt werden. Im Sturze zerschlug er noch die Boote, und ein Mann ging mit über Bord, ohne daß es möglich gewesen wäre, ihm Hilfe zu bringen.

Der Kapitän verlor auch jetzt seine eiserne Ruhe nicht.

»Wir sind in der Nähe von Rettungsstationen, gebt Notzeichen!«

Gleich darauf fuhren mit zischendem Strahle weiße Raketen in die Höhe. In diesem Augenblicke erschien Herr Lebrecht Werner wieder, aus der Kajütte auftauchend. Er schwankte wie ein Trunkener und schrie vor Angst aus vollem Halse. Um den Leib hatte er fest einen Gurt gewunden, eine Art Rettungsgürtel, und so rief er nach dem Kapitän wie ein Wahnsinniger. »Herr, Sie müssen mich retten – ich kann hier nicht zu Grunde gehen – dafür habe ich Sie bezahlt – o, um Gottes Barmherzigkeit willen, retten Sie mich!«

Der Kapitän empfand trotz der fürchterlichen Lage, in welcher sie sich alle befanden, Verachtung und Mitleid zugleich mit dem Unseligen, der sich jetzt in seiner Verzweiflung an den Arm des Mannes klammerte, in welchem er seine einzige Stütze sah; er rief:

»Heulen Sie nicht, wie ein altes Weib! Seien Sie ein Mann –, bis jetzt haben wir noch die Planken unter den Füßen! Da – nehmen Sie sich ein Beispiel an dem Frauenzimmer, das zehnmal mehr Mut hat wie Sie!«

Da stand auch Hanne, eingehüllt in ein Tuch, bleich, aber völlig gefaßt und stumm. Erst nach einer Weile fragte sie:

»Müssen wir untergehen, Herr Kapitän?«

»Noch ist's nicht so weit, mein Kind!« entgegnete dieser freundlich, und Klaus, welcher eben neben sie trat, sprach: »Sei getrost, Hanne – ich hab's noch schlimmer mitgemacht und stehe doch noch auf den Beinen. Sie werden uns schon zu Hilfe kommen, und mein Wilm und Knut lassen mich nicht im Stiche.«

Der Junge hatte eine wunderbare Zuversicht, die selbst ältere Matrosen wieder ermunterte; Niels Springgut aber konnte sich's nicht versagen, dem zitternden Lebrecht einen Stoß zwischen die Rippen zu versetzen, daß er auf das Deck hinschlug, und dazu zu rufen: »Das kommt davon, wenn man glühende Kohle über Bord wirft!«

Indes wurde das Wrack noch einmal gehoben und gleich darauf krachend aufs neue auf die Sandbank geschleudert. Das Schiff mußte trefflich gebaut sein, um das aushalten zu können, aber allzuviel solche Stöße durften nicht kommen.

Aufs neue stiegen Raketen zischend empor, und jetzt sah man deutlich, daß solche auch nach Osten zu in die Höhe gingen. Der weiße Schein zuckte grell durch die Nacht, und ein freudiger Aufschrei der Matrosen antwortete. Man wußte jetzt wenigstens, daß man nicht gar fern von der Küste sei und daß dort drüben Menschen geschäftig waren zur Rettung. Klaus schrie es dem verzweifelnden Werner ins Ohr, welcher auftaumelte und wie irr dazu auflachte, als eben wieder ein leuchtender Strahl den nächtlichen Himmel durchzuckte. Der Kapitän aber sprach mit zuverlässiger Sicherheit:

»Das ist die Insel **.«


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