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Sechstes Kapitel.
Das Klootschießen

So war wieder einmal »eine Fremde« auf der kleinen Insel und unter den Ostfriesen, und die älteren Leute dachten an die Zeit zurück, da Asmus Ordinger sein dunkelhaariges Weib heimgeführt hatte, das sich niemals recht in die fremden Verhältnisse finden und in dem neuen Boden Wurzeln schlagen konnte. Bei Grete schien dies anders zu sein. Sie paßte schon äußerlich besser hierher mit ihrer kräftigen Gestalt, ihrem reichen hellen Blondhaar und ihren blauen Augen und verstand es auch, sich durch ihr ganzes Wesen, ihr freundliches Entgegenkommen gegen jeden das allgemeine Wohlwollen zu erwerben.

Besondere Zuneigung zeigte ihr Knut. Er gedachte bei der »Fremden« lebhafter als irgend einer seiner Mutter, die, weil sie hier nicht daheim war, so wenig verstanden und geliebt worden war, und es war ihm, als müsse er das, was dieselbe hatte entbehren müssen, in doppeltem Maße dem fremden Mädchen zuwenden, damit es sich heimisch fühle auf dem kleinen, wellenumbrandeten Eiland.

Während er das Haus des Kapitäns seit der Entfernung Klausens nie mehr betreten hatte, kam er jetzt manchmal dahin, beinahe scheu und verlegen, und wenn er eine besonders schöne Muschel gefunden, einen besonderen Fisch gefangen, so brachte er ihn in seiner linkischen Art als eine Freundschaftsgabe. Am glücklichsten aber war Svanholt über die neue Hausgenossin. Wenn er Frau Wencke als seinen Steuermann ansah, war Grete für ihn ein trefflicher Vollmatrose, ja noch mehr, denn sie las ihm aus seinen Büchern die alten Seegeschichten vor und noch besser, als Klaus das vermocht hatte, und durch ihre Vermittelung erhielt er wohl auch öfter, als es sonst die Überängstlichkeit Frau Wenckes gestattete, ein Glas seines Lieblingsgetränkes.

Das war besonders an den langen Winterabenden so angenehm. Draußen rauschte die See, und sang wohl auch der Wind um die geschlossenen Fensterläden, im traulichen Zimmer aber prasselte das Feuer im Ofen, und die Lampe, welche von der Decke niederhing, verbreitete ein mildes, stilles Licht, bei dessen schein der Kapitän behaglich in seinem Rollstuhle bei dem dampfenden Glase saß und den beiden Frauen zusah, wie sie die fleißigen Hände regten. Bisweilen, zumal des Sonntags, kamen auch die beiden Brüder Ordinger, und dann erzählte Grete von ihrer Heimat im Gebirge, das den andern wie eine fremde Welt war, von ihrem Aufenthalte in der großen, unheimlichen amerikanischen Stadt – ja ab und zu ließ sie sich auch herbei, mit ihrer schönen Altstimme eines der einfachen, schlichten Volkslieder zu singen, und dann ging der Abend wie im Fluge dahin.

In der Adventszeit war die alte Nachbarin, welche den Haushalt der Brüder versehen hatte, erkrankt, und Grete ließ es sich nicht nehmen, nun selbst dort nachzusehen und Ordnung zu halten. Und unter ihren Händen nahm alles ein andres Gesicht an. Die Gefäße in der Küche waren blitzblank, in dem Hausflur und im Piesel war kein Stäubchen zu sehen und an den Fenstern des letzteren brachte sie weiße Vorhänge an, so daß der Raum noch einmal so freundlich aussah. Sie besserte die Kleider der Brüder aus, und das ging ihr alles so wundersam schnell aus den Händen. Wenn die Männer vom Fischfang heimkehrten, fanden sie alles sauber; ein lustiges Feuer loderte auf dem Herde, ihre Jacken waren rein und ganz und hingen durchwärmt in der Nähe des Ofens – es war, als ob ein gutes Hausgeistchen hier gewaltet hätte. Das empfanden sie beide, aber keiner sprach es aus.

So war das Weihnachtsfest herangekommen, und für den heiligen Abend hatte der Kapitän die beiden Brüder eingeladen. Die hatten schon in der Woche vorher recht heimlich gegeneinander gethan. Erst war Knut unter irgend einem Vorwande nach Norden gefahren, und wenige Tage später hatte auch Wilm dort zu thun, ohne daß einer wie der andre etwas von seinen Geschäften zu erzählen gewußt hätte.

Der heilige Abend war gekommen, klar und kalt. Die Sterne glänzten hell am tiefdunklen Himmel, eine leichte Schneedecke lag über den Dünenhügeln und auf den Dächern der kleinen Fischerhäuser, und die ganze Natur atmete auch auf dieser Scholle einen wahren Festfrieden. Knut war schon am Nachmittag fortgegangen, und da er gegen Abend nicht heimkehrte, begab sich Wilm nach dem Hause des Kapitäns. Er traf Svanholt allein in der Stube in seinem Lehnstuhl, seine Pfeife rauchend. Die Lampe war schon angebrannt und verbreitete einen dämmerigen Schein durch den angenehm erwärmten Raum. Der Kapitän rief dem Ankommenden entgegen:

»Na endlich ein Mensch! – Hier sitze ich Unglückswurm schon beinahe eine geschlagene Stunde, kann pfeifen, wie ich will – es nützt all nichts! Die reine Empörung an Deck. Gott weiß, was die Frauenzimmer im Piesel drüben vorhaben! Na, komm man ran, Wilm, und setz' dich derweilen. Na, was bringst du denn da?«

»Je, ich wollte Grete eine kleine Weihnachtsbescherung machen, weil sie sich doch so um uns annimmt!« antwortete der junge Fischer beinahe verlegen, und dabei setzte er zwei Blumentöpfe mit blühenden Pflanzen auf den Tisch, zog dann aus seiner Tasche ein zusammengewickeltes Papier, und da er es entfaltete, kam ein goldenes Kreuzchen an einem schwarzen Samtbande zum Vorschein, das Wilm nun an einem der Stöckchen befestigte. Der Kapitän sah ihm erstaunt zu und blies kräftigere Wolken aus seiner Pfeife; jetzt sagte er:

»I, sieh mal, das hast du schön gemacht! Na, Grete wird sich freuen! Aber die Blumen sind doch nicht in eurem Garten gewachsen?«

»Nein, die hab' ich aus Norden mitgebracht!«

»Na, das gefällt mir! – Und weißt du was, Wilm – während die Weibsleute drüben ihre Bescherung machen, machen wir unsre hier. Wencke weiß zwar, was sie erhält, denn ich altes Wrack kann ja keinen Kaufladen anlaufen – aber auslegen können wir die Geschichte immerhin! – Also zieh man dort das mittlere Schubfach auf an der Kommode – dort liegt alles nett beisammen für mein Weib und für Grete.«

Wilm gehorchte der Weisung und brachte nun nacheinander zwei Kleiderstoffe, zwei mit Pelz besetzte Jacken, seidene Halstücher und noch einige Kleinigkeiten herbei, und es war eine Lust zu sehen, wie die beiden Männer das anordneten und die beiden Blumenstöcke mit den roten und blauen Blüten in die Mitte stellten. Wie sie im besten Zuge waren, kam ein schwerer Schritt auf dem Flur, und gleich darauf trat Knut ein. Er sah einigermaßen verwundert und verdutzt die beiden an, bis Svanholt rief:

»Na, du brauchst dich nicht zu fürchten; das Christkind ist da und hat für die guten Kinder was gebracht. Sieh mal – das da ist für Grete, und die schönen Blumen hat Wilm hergeschafft!«

Im Gesichte Knuts wechselte die Farbe; durch seine Seele ging in diesem Augenblicke eine Regung wie heißer Haß gegen den Bruder, aber er suchte sie niederzukämpfen und sagte beinahe schüchtern:

»Ich möchte auch für Grete etwas beilegen, weil sie so gut zu uns ist!«

Dabei nestelte er seine Jacke auf und brachte ein schönes rotes Wolltuch und einige bunte seidene Schleifen zum Vorschein sowie ein Päckchen Lebkuchen und schob das alles ziemlich unbehilflich dem Kapitän hin.

»Na, das Mädel muß ja wie 'ne Prinzessin aussehen mit der roten Fahne – was hast du dir's Geld kosten lassen, Knut!«

Die Worte schienen demselben einigermaßen zu schmeicheln, und es flog etwas wie ein Lächeln um seinen Mund:

»Ich hab's in Norden gekauft und hab' ein schöneres nicht finden können!«

»Glaub' ich – glaub' ich all, Knut! Das Tuch bleibt das schönste – sollst sehen, Knut, das wird ihr Spaß machen!«

Svanholt entfaltete es und legte es zum Teil ausgebreitet zu den andern Geschenken, die für das Mädchen bestimmt waren, und wie der Lichtschein darauf fiel, schimmerte es in hellem Glanze, und Knut rieb sich mit innerlichem Behagen die Hände. – –

Jetzt traten die beiden Frauen ein und blieben verwundert stehen. Aus dem Tabaksrauch, den der Kapitän um sich verbreitete, strahlte das grelle Rot, und die sattgrünen Blätter der blühenden Blumen hoben sich lieblich und freundlich davon ab.

»Ja, das Christkind ist bei uns zuerst gewesen!« rief Svanholt – »immer 'ran! Da ist, was das Herz begehrt. Wencke, du kennst deinen Teil und legst noch die Liebe dazu, die dein Krüppel von Mann für dich in der Seele hat, und für dich, Grete, haben Ordingers ausstatten helfen. Sieh, das schöne rote Tuch und die seidenen Flitter und der süße Lebkuchen, das ist von Knuten, und die schönen Blumen jetzt mitten im Winter, und das, was daran hängt, sind von Wilm! – Na, Mädel, das ist doch nicht zum Weinen!«

Grete stand da mit gefalteten Händen, und die Thränen liefen ihr über die Wangen.

»Das ist zuviel Liebe für die Fremde – das kann ich nicht vergelten!« schluchzte sie – dann aber warf sie sich Frau Wencke an die Brust und küßte sie herzlich.

»Na, bekomm' ich nicht auch mein' redlich Teil?« brummte gutmütig und mit schlecht verhaltener Rührung der Kapitän, und auch ihm legte Grete die Arme um den Nacken und küßte ihn. Dann reichte sie ihre Hände mit Dankesworten den beiden Brüdern, welche, selbst verlegen, nicht recht wußten, was sie dem Mädchen sagen sollten, und jetzt erst kam dieses dazu, seine Geschenke näher in Augenschein zu nehmen.

»Ach, die schönen Blumen!« rief sie zuerst in heller Freude, und wie sie das eine Töpfchen aufhob, fiel ihr das goldene Kreuzchen in die Hand. Sie wendete sich nochmals mit einem dankbaren Aufleuchten des Auges zu Wilm; aber mehr als das freute es diesen, daß sie das dunkle Samtband um den Hals schlang, so daß der Schmuck auf ihrer Brust blinkte, und daß sie so den Geber ganz besonders ehrte. Das letztere mochte auch Knut empfinden, und seine Seele wurde wieder von Bitterkeit erfaßt, die auch nicht weichen wollte, als Grete sein Tuch in die Hand nahm und sich freundlich anerkennend über die Gabe äußerte.

Er sagte unmutig zu sich selbst: »Es gefällt ihr nicht, sonst würde sie es anlegen, wie sie es mit Wilms Kreuz gethan hat.«

Nachdem alles betrachtet und wiederholt gelobt war, sagte Frau Wencke:

»Aber nun wird's Zeit, daß wir sehen, was der Weihnachtsmann für die Männer gebracht hat!« und rasch erfaßte sie den Rollstuhl, um ihn samt dem Kapitän fortzuschieben, aber Wilm hatte schon zugegriffen und bat: »Überlaßt das mir!« und so ging's »mit vollen Segeln«, wie Svanholt sich ausdrückte, hinüber nach dem Piesel.

Frau Wencke öffnete die Thür, und den Lippen der Männer entrang sich ein Laut angenehmer Überraschung. Auf dem großen viereckigen Tische stand ein grüner Fichtenbaum, und von seinen mit Äpfeln und vergoldeten Nüssen beladenen Zweigen fiel freundlicher Kerzenschimmer auf die darunter ausgebreiteten Gaben. Das war wohl der erste Christbaum, der je auf der kleinen Insel angezündet worden war, die in ihrem ganzen Gebiete kein Fichtenstämmchen kannte, und schier verwundert saß Svanholt in seinem Stuhle, ließ beinahe seine Pfeife ausgehen und sah mit großen Augen wie ein Kind bald auf die blinkenden Lichter zwischen den grünen Zweigen, bald auf Grete.

Frau Wencke nickte, als wollte sie sagen, daß er ganz recht habe, wenn er meine, daß dem Mädchen die Überraschung zu danken sei, und endlich stieß der Kapitän auch die Worte hervor:

»Das ist schön! – Aber wo kommt das Bäumchen her?«

Mit vor Freude glänzend-feuchten Augen antwortete Grete:

»Ich habe Wilm gebeten, ein solches aus Norden mitzubringen und alles, was dazu gehört, und er ist deshalb besonders nach der Stadt gefahren!«

»O nicht allein deshalb!« bemerkte Wilm; Grete aber fuhr fort:

»Ich habe auch mir eine Freude machen wollen und hoffte, daß es euch allen gefallen würde. Daheim in unserm Gebirge wär' es kein Christfest gewesen, wenn nicht das liebe Weihnachtsbäumchen auf dem Tische gestanden hätte, und wenn manchmal auch nicht viel darunter lag, es bekam doch alles einen schöneren Glanz. Und wenn wir dann alle so ein liebes, altes Weihnachtslied sangen, da gingen uns die Herzen auf, und wir meinten, wir hätten das gute Christkind wirklich unter uns!«

Nun waren sie alle näher an den Tisch herangekommen, und da lagen nun die Geschenke für den Kapitän und für die beiden Brüder; es war nicht viel, aber es war zierlich zusammengestellt und umwoben von dem Duft des Bäumchens und dem Glanz der Lichter. Für Svanholt war eine schöne Decke vorhanden, damit er seine Beine recht warm einhüllen könne, dann ein von Grete gefertigtes buntes Rückenkissen, eine neue Pfeife mit hellfarbiger Troddel, eine Büchse mit Tabak, einige Flaschen Rum, welche in Reih' und Glied standen, und endlich ein Buch »Seemannsgeschichten«, das ihm schier am meisten gefiel und das er fast nicht mehr aus der Hand legte.

Auch Wilm und Knut waren in ähnlicher Weise bedacht mit Pfeifen, Tabak, Rum, und Grete hatte für jeden ein paar dicke wollene Strümpfe und ein Paar buntfarbige Handmüffchen angefertigt, und das Danken wollte auch hier kein Ende nehmen. – Endlich sagte der Kapitän:

»Jetzt, Grete, sing uns aber auch ein Weihnachtslied, damit es noch mehr werde, wie bei euch zu Hause!«

Und das Mädchen setzte, während tiefes Schweigen in dem Zimmer herrschte und Svanholt seine Pfeife weggelegt hatte, mit ihrer vollen Stimme ein:

Vom Himmel hoch da komm' ich her,
Ich bring' euch gute neue Mär',
Der guten Mär' bring' ich so viel,
Davon ich singen und sagen will.

Der alte schlichte Christsang zog wie auf Engelsflügeln durch den Raum und in die Seelen. Die drei Männer hatten die Hände gefaltet wie im stillen Gebet, und Frau Wencke rannen die Thränen unaufhaltsam über die Wangen – ein so schönes Weihnachtsfest war in diesem Hause noch nicht begangen worden!

Sie waren alle wie die Kinder, und der Kapitän that es nicht anders, das Christbäumchen mußte mit hinübergetragen werden in die andre Stube, welche wärmer war, und sein ehrliches Gesicht strahlte, als er so, die neue Decke über den Knieen, das Kissen unter dem behaglich zurückgelehnten Kopfe und beide Hände voll mit seinen Weihnachtsgaben, von Frau Wencke fortgerollt wurde, während Knut und Wilm, gleichfalls beladen mit ihren Geschenken, ihm folgten.

Die neuen Pfeifen wurden in Brand gesetzt, eine der Rumflaschen ward entkorkt, und nun kam endlich der liebe steife Grog; dann ward ein frugales Mahl aufgetragen, und die frohen, schlichten Menschen saßen bis in die späte Nacht hinein beisammen, während die Kerzen an dem Bäumchen längst herabgebrannt waren.

Langsam schritten die Brüder ihrem Hause zu durch den klaren Mondglanz der heiligen Nacht, die mit ihren Millionen Sternen Frieden winkte vom blauen Himmel, und selbst die Seele Wilms, des einfachen Fischers, war von dieser erhabenen Ruhe ergriffen. In seinem Herzen lebte die ganze Freudigkeit des schönsten Festes, aber seine Lippen schwiegen. Knut dagegen war den ganzen Abend über seltsam verstimmt gewesen; von dem Augenblicke an, da Grete das Geschenk des Bruders um den Hals legte, war es wild und finster über ihn gekommen, und anstatt sich zu freuen mit den Fröhlichen, wog er jedes Wort und jeden Ton der Stimme ab, ob Wilm nicht ein größeres Maß von Freundlichkeit entgegengebracht werde.

In seinem Unmute sagte er auch jetzt:

»Du hast wieder einmal das Bessere getroffen. An deinen Blumen hat sie sich gefreut und dein Kreuzchen hat sie umgebunden!«

Wilm ahnte in seiner Harmlosigkeit nicht, was die Seele des andern bewegte; er sprach:

»Aber dein Geschenk war gewiß wertvoller; nur konnte sie in der warmen Stube das Tuch nicht anlegen; du sollst sehen, wie sie sich morgen zum Feste damit zeigen wird.«

Knut brummte etwas unverständlich vor sich hin, das nicht von innerer Beruhigung zeigte, und während Wilm jetzt die volle Seele aufging, er den Kapitän und sein Weib pries und den schönen Gesang Gretes lobte, schritt der Bruder finster und stumm nebenher. Daheim warf sich Knut mit einem mürrischen »Gute Nacht!« auf sein Lager ...

Noch vor Neujahr war starker Frost eingetreten; ein kalter Wind fegte über die Dünen und über das Meer und schlug selbst die beweglichen Wellen in blanke, eisige Fesseln. An die Küsten legte sich ein bläulich-glänzender Streifen, und er nahm von Tag zu Tag zu an Breite und Stärke, und um Neujahr selbst war eine Brücke geschlagen hinüber zum Festland; auf der kleinen Insel aber gab es müßige Zeit. Nur Netze wurden gefertigt und kleinere Arbeiten im Hause gemacht, und öfter als sonst saßen einige Männer, ältere und jüngere, in dem bescheidenen »Kruge« (dem Wirtshause) und tranken das mit Zucker und Kanel gekochte leichte Bier »Heet und söt« (heiß und süß) und redeten von recht alltäglichen Dingen.

Da kamen eines Tages fünf junge Leute über das Eis herüber vom Festland, echtfriesische eckige Kraftgestalten, die breitspurig durch die Gasse schritten und sich nach dem »Kruge« wandten. Das Gerücht davon verbreitete sich schnell, und von Mund zu Munde lief die erregende Nachricht, sie seien gekommen, um zum »Klootschießen« herauszufordern.

Die fremden Burschen aber saßen in der Schenke um den Herd, wo das offene Feuer loderte, und ließen sich die Kannen mit dem süßen Bier füllen, ohne viel zu reden. Ab und zu spuckte einer wohl in die zischende Flamme und knurrte einige halb unverständliche Worte, und die andern nickten dazu. Endlich kamen einige junge Fischer von der Insel, grüßten kurz, begehrten je eine Kanne Bier und setzten sich etwas abseits von den andern. Unter ihnen waren auch Knut und Wilm, und namentlich der letztere, der von seinen Genossen mit einer gewissen Achtung behandelt ward, schien die Aufmerksamkeit der Fremden zu erregen.

Jetzt erhob sich einer derselben, trat langsam an den Tisch heran, an welchem die neu Angekommenen Platz genommen hatten, griff behäbig in seine Hosentasche und langte einen Gegenstand daraus hervor, welchen er mit den Worten: »Wi hangt de Kloot up!« vor Wilm hinlegte.

Der Gegenstand aber war eine Kugel aus hartem Holz, faustgroß mit eingebohrten und dann mit Blei ausgegossenen Löchern. Das war der »Kloot«, und das Hinlegen desselben bedeutete eine Herausforderung zum Wettwerfen, einem der beliebtesten ostfriesischen Winterspiele, das die Gemüter von alt und jung auf das heftigste erregt. Das war auch zunächst in dem kleinen Kreise in der engen Schenkstube der Fall. Die Herausgeforderten standen zum Teil auf von den Sitzen und redeten leise mit heftigen Gebärden untereinander; nur Wilm war ruhig sitzen geblieben. Er ergriff jetzt mit der Linken fest die Holzkugel, schlug mit der Rechten auf den Tisch, daß es dröhnte und das Getränk aus den vollen Kannen schütterte, und sagte:

»Wi nehmt de Kloot up!«

Die Herausforderung zum Wettkampf war angenommen, und die Burschen von der Insel schienen auch in dieser Hinsicht ihren Mann zu kennen, denn ein lautes »Hurra!« erschallte, das sich fortpflanzte bis auf die Gasse, wo sich die Jugend bereits eingefunden hatte, und durch deren Vermittelung ging die Nachricht wie ein Lauffeuer weiter von Hütte zu Hütte, und bald war in dem »Kruge« kein Platz mehr für alle, welche sich nun hier einfanden, um etwas von den weiteren Verhandlungen zu hören.

Übermorgen schon sollte der Kampf ausgefochten werden mit fünfviertelpfündigen Kugeln um einen Einsatz von 25 Mark, und jede Partei sollte drei Kämpfer stellen. Die von der Insel waren bald mit ihrer Wahl fertig: die beiden Brüder Ordinger und Keno Pinhagen genossen das vollste Vertrauen ihrer Leute und nahmen auch die Wahl an: Es war eine Ehrensache.

Noch an demselben Abend kam Wilm zu dem Kapitän. Dieser hatte bereits von der Sache gehört und war gleichfalls in Aufregung, so daß er von nichts anderm erzählte, als von ähnlichen Festen, denen er beigewohnt hatte und bei deren einem er in seinen jungen Tagen als gefeierter Sieger hervorgegangen war. Daß Wilm den Seinen den Preis erringen werde, war für ihn ganz außer Zweifel, und er beklagte es nur, daß er dem Wettkampfe nicht beiwohnen könne. Seiner Frau und Grete aber wollte er gern das Schauspiel bieten. Indes erstere lehnte ab, sie wollte bei ihrem Manne bleiben, zumal sie ja solche Feste von früher her kenne, wenn Wilm aber Grete mit »hinübernehmen« wolle, würde sich diese gewiß freuen.

Das Mädchen errötete bei diesen Worten zum Zeichen freudiger Zustimmung, und Wilm war ein Stein vom Herzen gefallen, denn er war ja gerade deshalb gekommen, um Grete einzuladen. So war die Sache rasch ins reine gebracht.

Am übernächsten Morgen war in aller Frühe schon reges Leben in der Dorfgasse. Aus allen Häusern kamen sie, Männer, Weiber und Kinder, um unter lauten freudigen Zurufen über das Eis hinüber nach dem Festlande zu ziehen. Grete hatte sich so schmuck herausgeputzt, daß sie den Fischern schier wie ein Stadtfräulein vorkam in ihrer neuen pelzbesetzten Jacke und mit dem roten Tuche, und Knuts Gesicht strahlte vor Freude, als er sah, daß nun auch sein Geschenk angekommen sei. Die beiden Brüder hatten das Mädchen in die Mitte genommen wie eine Schwester, und lächelnd sah ihnen Frau Wencke und der Kapitän nach, der in seinem Rollstuhl an seinem Fenster saß.

Der Tag war kalt und klar; das Eis klang unter den Füßen, und es war ein lustig Wandern. Als man auf dem Kampfplatz ankam, war auch dort schon viel Volk versammelt, und Zurufe klangen hin und her. Hell leuchtete die Sonne auf dem bewegten Bilde, und während die letzten Vorbereitungen zu dem Wettstreite getroffen wurden, trank man da und dort noch einen kräftigen Schluck des berühmten »Doornkaat« (eines in Norden bereiteten starken Schnapses).

Das zugefrorene Marschland, das man weithin überschauen konnte, blinkte wie ein heller Spiegel, und schöneres Wetter konnte man für das Fest nicht haben. Am Ausgangspunkt des Kampfes lag eine Strohmatte, auf der einen Seite durch Säcke erhöht, damit die Werfer einen sicheren und festen Stand hätten; der »Bahnwieser« (Pfadzeiger) steht an seinem Platze bereit, und man lost, welche Partei beginnen soll. Den Einheimischen ist das Glück hold, und ihr Vorkämpfer tritt an. Es ist ein prächtiger, stämmiger Bursche. Er hat trotz der Kälte seine Jacke abgeworfen und seine Stiefel ausgezogen, um in seinen Bewegungen freier und leichter zu sein.

Es ist still geworden in der Menschenschar, und alles steht in Erwartung und richtet die Blicke auf den Burschen, der, die Füße festgestemmt gegen die Strohmatte, die Kugel in der Hand wiegt. Weit holt er aus, wirbelt den Arm zwei- dreimal im Kreise, und im sausenden Schwunge fliegt das Geschoß dahin, wo der »Bahnwieser« mit emporgehaltenem Stocke die Richtung anzeigt, schlägt dann knackend auf den hartgefrorenen Boden, springt lustig wieder auf und rollt nun pfeilschnell hin auf der glatten Fläche. Den glücklichen Werfer ehrt der jubelnde Zuruf der Seinen, die dem erhitzten Manne sogleich eine warme Decke um die Schultern legen und weite Filzstiefel an die Füße streifen, während sie noch immer den Lauf der rollenden Kugel verfolgen, bis dieselbe ruhig geworden und der »Stockleger« seinen Klutenstock bei ihr niederlegt, damit sie nicht verrückt werde. »Halwer!« (Hol' wieder), scholl der Ruf des Bahnwiesers der Gegenpartei, und Knut trat vor. Seine Brust spannte sich, seine Augen brannten vor innerer Erregung, und immer wieder streifte sein Blick Grete, vor welcher er gern seine ganze Kraft und Geschicklichkeit gezeigt hätte. Zweimal nahm er einen Anlauf, während die Zurufe der Seinen ihn ermunterten, dann schwang er mit gewaltigster Wucht den Arm im Kreise, von der heftigen Bewegung ward sein ganzer Körper mit fortgerissen, er wankte, und stürzte trotz des Dazwischenspringens andrer aufs Knie, während der Kloot seiner Faust entschlüpfte und etwa vierzig Schritte weit klatschend niederfiel, ohne wieder aufzuhüpfen und seine rollende Bewegung anzunehmen. Knut hatte in seiner Erregung die von dem Bahnwieser gezeigte Stelle übersehen, die Kugel war auf eine minder harte Stelle aufgeschlagen, und der Kloot der Gegner hatte einen Vorsprung um mehr als das Doppelte.

Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich aller. Die Einheimischen erhoben ein Jubel- und Hohngelächter, die Genossen Knuts aber drängten sich um diesen, teils mit Vorwürfen, teils mit tröstendem Zuspruch, er selbst aber erhob sich mühsam, und aus seinen glühenden Augen leuchtete ein furchtbarer Zorn; er hätte sich am liebsten auf die hohnlachenden Gegner geworfen und sie gewürgt, aber mit dem Zorn mischte sich auch die Scham über den Mißerfolg und über den Nachteil, den er seiner Partei gebracht. Sein Blick traf auch Grete, und da er etwas wie Mitleid in ihren Augen zu lesen vermeinte, ertrug er es nicht länger. Mit einem halberstickten Aufschrei, die Zähne übereinander gebissen vor Schmerz im Knie, durchbrach er den Kreis der Umstehenden, die hinter ihm drein lachten oder riefen, und verschwand im nächsten Hause. Man glaubte, er wolle dort eine Stärkung einnehmen und sein Bein pflegen, und so kümmerte man sich um ihn nicht, zumal das Schießen seinen Fortgang nahm.

Matten und Säcke waren am neuen Wurfplatz ausgebreitet, und der Bahnwieser hatte sich aufgestellt. Der zweite Mann der Einheimischen hob die Kugel seines Vordermannes, die noch neben dem Mal des Stocklegers lag, auf und schleuderte sie mit Kraft und Gewandtheit, so daß der Vorsprung für die Seinen kaum mehr verloren gehen konnte. Jetzt trat Keno Pinhagen an mit echt ostfriesischer Ruhe; er nahm Knuts Kugel auf, die weit zurück lag, und von ihrem Orte aus warf er. Jetzt jauchzten und schrieen die von der Insel, denn es war ein Meisterwurf, und wenn auch die Scharte nicht ganz ausgeglichen war, der Vorsprung der andern hatte sich wesentlich verringert.

Und in derselben Weise ging das Spiel weiter. Auf jeder Seite trat der dritte Mann an. Es war die Reihe an Wilm. Auch er warf einen Blick auf Grete, und sie schien ihm freundlich und zuversichtlich zuzulächeln. Das erfüllte ihn mit ruhigem und sicherem Mute. Er legte ebenfalls sein Oberkleid ab, und seine stattliche, sehnige Gestalt, die sich jetzt im Vollgefühle der Kraft emporreckte, machte die Gegner verstummen, während sie die Seinen zu hellem Zuruf begeisterte. Eine eherne, feste Ruhe lag auf dem ganzen Manne, der mit dem Boden verwachsen schien, der in seinen ganzen Bewegungen eine maßvolle Gelassenheit zeigte, die etwas geradezu Imponierendes hatte. Jetzt schwang er den Kloot – nur einmal, aber blitzschnell – dann sauste er auch schon dahin durch die Luft – wohl achtzig Schritte entfernt schlug die Kugel nieder, sprang augenblicklich, wie von neuer Kraft belebt, empor, hüpfte lustig über die Eisfläche fort und rollte zuletzt, wie vom Bogen geschnellt, weiter, immer weiter und ein gut' Stück noch hinaus über den Kloot der Gegner.

Ein nicht endenwollender Jubel erbrauste, als der Stockleger seinen Stab dort draußen niederlegte, und Wilm wußte sich vor den Händedrücken und Umarmungen der Seinen kaum zu retten. Aber sein Blick suchte wieder vor allen Grete, und wie er ihre Augen so hell und stolz leuchten sah, überkam ihn eine nie empfundene Freudigkeit, und als sie ihm nun gar ein anerkennendes Wort zurief, war er unendlich glücklich.

Das Spiel nahm seinen Fortgang, bis man an das vorher bestimmte Ziel gelangte, und nachdem daselbst eine kurze Rast gehalten war, ward es wieder aufgenommen und in entgegengesetzter Richtung nach dem Ausgangspunkte zu fortgesetzt, wobei jetzt die Werfer den Kloot der Gegenpartei nahmen und von dem Punkte aus schleuderten, wo derselbe lag.

Als Knut wieder an der Reihe zum Werfen war, hatte man nach ihm gerufen und gesucht, aber vergebens, er kam nicht mehr zum Vorschein, und so mußten Wilm und Keno Pinhagen den Streit allein auskämpfen. Und die beiden übertrafen die kühnsten Erwartungen der Freunde, die weitgehendsten Befürchtungen der Gegner. Vor allem schien Wilms Kraft und Gewandtheit niemals noch so zu voller Geltung gekommen zu sein, wie eben an diesem Tage. Der Ausgang des Kampfes schien schon so gut wie entschieden, noch ehe er zum letzten Wurfe antrat. Alle Muskeln gestrafft, wie aus Erz gegossen, stand er auf der Matte, das blaue Auge leuchtete, der Arm spannte sich, und nun – einmal, zweimal eine wuchtige Bewegung, und der Kloot flog, wie eine aus dem Rohr geschossene Kugel. Fern draußen auf der Bahn, weit vor dem Bahnwieser, schlug das Wurfgeschoß auf und sauste, nachdem es noch einmal elastisch emporgeschnellt, auf der Bahn fort, unaufhaltsam, als wollte es nimmer zum Stillstehen kommen.

Die Begeisterung wollte kein Ende nehmen; in verhaltenem Zorn und drückender Scham standen die Gegner; sie feuerten ihren letzten Mann mit allen Mitteln ihrer Beredsamkeit an, sie versprachen ihm ein besonderes Ehrengeschenk, wenn er nur um eines Fingers Breite noch den Sieg erringe – und zwischen Jubel und Hohn, Drohen und Bitten griff der aufgeregte Bursche nach der Kugel, aber ihm fehlten die Freudigkeit des Kampfes und vor allem die eherne Ruhe, welche Wilm auszeichnete: Der Kloot schnellte zum letztenmal. Es war ein guter Wurf, aber das Geschoß lag wohl dreißig bis vierzig Schritt hinter dem andern.

Nun war das Spiel aus. Bei Freund und Gegner gingen die Wellen der Erregung hoch, und es machte fast den Eindruck, als sollte sich ein ernstliches Handgemenge an den friedlichen Wettkampf schließen. Aber die Gemüter tobten aus unter dem beruhigenden Einfluß der Alten, und zuletzt zogen beide Parteien nach dem Dorfwirtshause, um bei Trank und Schmaus ein fröhliches Versöhnungsfest zu feiern. Die von der Insel hatten ihren Sieger Wilm auf die breiten Schultern gehoben und trugen ihn nun gleich einem Triumphator dahin.

Auch Grete folgte, obwohl ihr bei dem lärmenden Treiben, das wilder aussah, als es wirklich war, einigermaßen unbehaglich wurde, denn sie war an Wilm gewiesen und konnte nicht ohne ihn heimkehren. Er trat in der Schenke sogleich an sie heran und sagte halblaut:

»Wir bleiben nicht lange hier, denn die andern gehen wohl nicht vor der Nacht heim. Aber Sie müssen zuvor etwas essen, Grete, und dann brechen wir zusammen auf!«

Sie setzten sich nebeneinander und labten sich an dem einfachen Mahle, während die andern um sie her lärmten und immer wieder ein Trunk dem Sieger dargebracht wurde. Wilm hielt sich mäßig in der Erwiderung und war froh, als zuletzt einige Musikanten kamen und sich die Aufmerksamkeit von ihm ablenkte. Eine holperige, ungefüge Tanzweise erklang – – im Augenblicke waren Tische und Stühle beiseite gerückt, an Dirnen und Frauen fehlte es nicht, und in der nicht eben großen Stube mischten sich Staub und Rauch, und zu den Klängen der Musik erscholl lautes, rauhes Jauchzen.

Grete fürchtete, daß man auch sie zum Tanze bitten werde trotz ihrer Trauer, darum bat sie Wilm:

»Lassen Sie uns gehen!« und wenige Augenblicke später war sie schon aus dem Hause getreten, und der junge Fischer folgte ihr. Sie gingen rasch und schweigend, solange noch die Töne hinter ihnen erklangen, und erst hinter dem Dorfe, wo sie das Eis der See betraten, schlugen sie einen langsameren Schritt ein. Es war in den Nachmittagsstunden; freundlicher und milder war der Sonnenstrahl, und bläulich schimmerte vor ihnen die weite, ebene Fläche in ihrer ungeheuren Einsamkeit und Öde, in ihrer erhabenen Gottesruhe.

Es war den beiden Menschen, als wären sie allein auf der Welt und müßten sich aneinander halten, und so hatten sie sich fast unbewußt an den Händen gefaßt und schritten langsam dahin. Sie sprachen zuerst von dem Klootschießen, und Grete drückte ihre freudige Bewunderung aus über die Kraft und Gewandtheit ihres Begleiters.

Wilm lächelte, aber er lehnte in seiner ruhigen Bescheidenheit jedes Lob ab; Knut hätte, wenn er nicht Unglück gehabt, es ebenso gut gemacht. Das brachte das Gespräch auf diesen und seine Charaktereigentümlichkeiten, und auch hier zeigte sich wieder das milde, rücksichtsvolle Wesen Wilms, der kein Wort des Tadels für die Sonderbarkeiten und das leicht erregte Wesen des Bruders hatte. Das gefiel dem Mädchen, und wie sie heute Achtung vor der Kraft des Mannes an ihrer Seite empfunden, so gewann sie jetzt solche vor seiner brüderlichen Art.

Dann kam die Rede von selbst auf die Häuslichkeit der beiden Brüder, und nun ging Wilm das Herz auf, da er der ordnenden Hand Gretes gedachte, die still und freundlich wie eine gute Fee dort waltete, fast ungesehen, aber aus ihrem Thun erkennbar.

So warm und andauernd hatte der junge Mann wohl noch nie gesprochen, und die Augen seiner Begleiterin wandten sich öfters nach ihm und ruhten mit so seltsamem Glanz auf diesen ruhigen, männlichen Zügen, daß Wilm zuletzt befangen ward und sich mitten in seinen Worten unterbrach:

»Sie schauen mich so verwundert an, weil ich hier wie ein Schriftgelehrter rede.«

Grete errötete und wußte ihm nicht gleich zu antworten, er aber fuhr fort:

»Es ist mir heute selbst so wunderlich, und ich spür's, daß mir die Zunge durchgeht. Darum lassen Sie mich alles sagen, Grete! Wir sind just so allein auf der Welt und wandern miteinander ins Blaue hinein, und es wandert sich so schön! Da muß ich unwillkürlich daran denken, wie herrlich es wäre, gar nicht mehr von Ihnen fortgehen und immer, immer mit Ihnen wandern zu dürfen. Sie wissen, was ich sagen will, ohne daß ich viele Worte mache. Was ich habe und wie ich bin, ist ihnen bekannt; sagen Sie, Grete, könnten Sie dem schwerfälligen Wilm, der an der kleinen Erdscholle seiner Insel hängt und seinem Weibe einmal auch nichts andres bieten kann, ein wenig gut sein – könnten Sie sich entschließen, sein Weib zu werden?«

Das kam so rasch und unvermittelt, daß es über Grete wie ein Traum herniedersank, aus welchem sie nicht sogleich erwachen zu können vermeinte. Wilm aber legte ihr Schweigen anders aus; er sagte nach einer kleinen stummen Weile ernst und freundlich:

»Ich hab's gedacht, daß es Ihnen nicht passen wird; Sie sind zu fein für uns und können Besseres bekommen; da denken Sie, ich hätte nichts gesagt, und so mag's wieder beim alten bleiben!«

Jetzt aber sah das Mädchen nach ihm hin mit großen Augen, mit zuckendem Munde, und über die Wangen liefen Thränen.

»Sie haben mein verlorenes Leben gerettet, es gehört Ihnen! Ihre kleine Scholle soll meine Heimat sein, und ich will sie lieb haben, als wär' ich hier geboren! Ja, ich will dein Weib sein, du starker, großer Wilm!«

Dem Manne klang es vor den Ohren wie ein fernes Brausen, und einen Augenblick lang flimmerte es vor seinen Blicken: Solches hatte er nie empfunden, sein lebenlang! Dann aber schlang er den Arm um des Mädchens Nacken, und wie sie vertraulich sich an ihn schmiegte, küßte er zaghaft ihre Stirn.

Und dann gingen sie beide wieder schweigend, die Herzen voll Glück, dahin durch den sinkenden Abend. Rotgoldig tauchte die Sonne hinab hinter den weißen Dünenhügeln ihrer Heimat, und das kleine kahle Eiland schien ihnen das Land der Seligen zu sein, dem sie, Hand in Hand innig verschlungen, entgegenwanderten. Erst als sie in die Nähe des ersten Hauses kamen, ließen sie sich los, und Grete sprach:

»Sage heute noch nichts bei Svanholt – laß mich einige Stunden noch mein Glück still für mich wie ein trautes Geheimnis genießen; morgen aber magst du kommen und bei ihnen anhalten, denn sie sind ja wie meine Eltern!«

»Alles, wie du willst, meine liebe Grete!« antwortete er, und so begleitete er sie durch die hereinbrechende Dämmerung bis zum Hause des Kapitäns, drückte ihr an der Thür noch einmal die Hand und wandte sich dann hinein in die Dünen.

Sein Herz war so voll von Glück, daß er hätte aufjauchzen mögen, und allein vermeinte er es gar nicht tragen zu können. Mit beflügeltem Fuße eilte er dahin nach seinem Hause. In der Küche am Feuer saß, die Pfeife im Munde, Knut. Beim Eintritt des Bruders wandte er sich halb um, nachdem er noch einmal in die Glut gespuckt hatte, und fragte nach kurzem, mürrischem Gruße:

»Na?«

»Wir haben's um fünfzig Schritte gewonnen!« jubelte Wilm, aber er fügte gleich bei: »Was macht dein Bein? – Du hättest doch nicht so fortrennen sollen!«

»Dummes Zeug! Was sollt' ich lahmer Racker weiter thun? Daß mir das geschehen mußte! Und noch dazu vor Grete!«

Bei dem Namen schlug Wilms Herz höher; er sagte:

»Ach, Grete hat es so leid gethan um dich!«

»Das ist's ja eben – ich will kein Mitleid, und wenn ich beide Beine drüber gebrochen hätte!«

»Aber sie meinte es wirklich gut, und denke dir nur, Knut, und freu' dich mit mir! Ich habe mich heute mit Grete versprochen!«

Da fuhr der andre trotz seines schmerzenden Knies auf vom Sitze; der Flammenschein beleuchtete in diesem Augenblicke hell sein Gesicht, und Wilm erschrak vor diesen entstellten, verzerrten Zügen, in denen sich nichts von seiner eignen Freude und seinem Glücke widerspiegelte. Die Stimme Knuts klang halberstickt, als ob es ihm die Kehle zusammenwürge, als er endlich die Worte herauspreßte:

»Auch das noch! Und ich hab' sie so lieb und dachte, sie sollte mein Weib werden!«

Dann brach er wieder auf seinem Sitze nieder, schlug die braunen Hände vor das Gesicht, und ein krampfhaftes Schluchzen rang sich aus seiner Brust, so daß Wilm von einem solchen Ausbruch des Empfindens auf das tiefste erschüttert wurde. Das hatte seine arglose Seele nicht erwartet, aber Mitleid und Liebe ergriffen ihn, und so trat er an Knut heran und wollte dessen Hände erfassen. Der aber stieß ihn wild und zornig von sich hinweg und schrie auf:

»Geh hinaus oder ich könnte dich ermorden! Du hast mir auch mein letztes, schönstes Glück gestohlen!«

Wilm erkannte, daß es in dieser Stimmung für ihn am besten war, allein zu bleiben, und still trat er hinaus in die Nacht mit ihrer heiligen Ruhe, mit ihren tausenden von freundlichen Sternenaugen. Und so ging er stundenlang auf verlassenen, einsamen Wegen, kam ab und zu in die Nähe von Svanholts Haus, freute sich des lieben Lichtschimmers, der dort aus den Fenstern brach, und kehrte erst heim, als der rauhe Gesang derer erscholl, die jetzt erst bei Mondlicht vom Klootschießen zurückkamen.

Knut hatte sich zur Ruhe begeben, und eben als Wilm daran war, dasselbe zu thun, erscholl vor der Thür aus kräftigen Kehlen noch ein brausendes Hurra – der Gutenachtgruß für den Sieger, der die Ehre der Heimat gerettet hatte.

Am nächsten Morgen legte Wilm sein Festgewand an und begab sich zu Svanholt; er hatte vorher noch einmal mit Knut reden wollen, aber dieser hatte zeitig schon das Haus verlassen und war wohl nach dem Leuchtturm gegangen, wo er jetzt häufig verkehrte.

Der Kapitän, welcher nach seiner Gewohnheit rauchend am Fenster saß und in seinen »Seegeschichten« blätterte, sah dem Besucher, der so feierlich bei ihm eintrat, ganz verwundert entgegen und rief:

»Je, Wilm, du hast wohl das große Los gewonnen, daß du deinen besten Staat all an Werktagen anziehst?«

»'s ist bald so, Kapitän!«

»Na, dann gratuliere ich dir, Wilm! Aber leg' dich man hier vor Anker und erzähle, was es gibt und warum du heute große Flaggenparade machst!«

»Ja, dann will ich's kurz und rund heraussagen: Ich will die Grete heiraten, und wir sind auch einig, und ich möchte, da ihr doch jetzt die Eltern zu der Waise seid, bei euch um sie anhalten!«

Dem Kapitän entfiel die Pfeife, er selber sank mit weitgeöffneten Augen und einen Moment verstummt in seinen Sitz zurück, gleich darauf aber gellte ein schriller Pfiff durch das ganze Haus, und fast erschrocken eilten Frau Wencke und Grete zugleich herbei. Als letztere Wilm erblickte, errötete sie und wollte wieder hinaushuschen, aber der Kapitän schrie:

»Alle Mann an Deck! Und dageblieben! – Na, das sind mir schöne Geschichten! Weißt du, Mutting, warum der da heute an einem grauen Werkeltag sich bis in die Mastspitzen geputzt hat? – Das weißt du nicht, aber Grete weiß und sagt nichts davon. Na, das find' ich aber nicht hübsch! Wilm will mir meinen Vollmatrosen als seinen Steuermann holen – na, was sagst du wohl dazu? Erst zieht er das Wurm aus dem Wasser, setzt sie uns ins Haus, daß man denkt, man hat eine Tochter, an der man sich freuen und mit der man Staat machen kann – und, heidi! nu kommt er und will sie heiraten! Na, Mutting, du bist ja steif, wie Lotens Weib, als sie 'ne Salzstange geworden war! Was, ist das hübsch von Wilm? frag' ich.« –

Frau Wencke war nicht minder verwundert als ihr Mann, aber sie fand sich schneller in die Lage der Dinge; sie schaute den jungen Mann an, der bei dem gutmütigen Poltern des Kapitäns halb verlegen seinen Hut in den Händen drehte, und dann das errötende Mädchen, das sich jetzt plötzlich an ihre Brust warf, und lächelnd sagte sie:

»Ja, Jürgen, was wollen wir thun? Wenn sie einander lieb haben, mögen wir's nicht hindern, und wenn Grete auf der Insel bleiben will, haben wir sie doch bei uns, so oft's nur angeht. Ich sage: In Gottes Namen!«

»Na, dann hilft das all nicht, dann werd' ich wohl auch sagen müssen: In Gottes Namen! Na, so nimm sie hin, du Pirat, und halte sie gut, und du, Grete, vergiß nicht, daß Svanholts deine Eltern bleiben!«

Das Mädchen trat mit überströmenden Augen an ihn heran, beugte sich zu ihm nieder und küßte herzlich den bärtigen Mund, der Kapitän aber sagte schmunzelnd: »Je, das kommt all an die unrechte Adresse – da steht der Wilm!« – Und er drängte sie zu dem jungen Fischer, dessen ehrliches Gesicht von Glück und Freude leuchtete, wie er jetzt mit seinem Arm die errötende Braut umschlang.

»Aber, Mutting, jetzt bring man mal 'nen steifen Grog, die Alteration ist mir in die Glieder geschlagen, und der Mund ist mir so trocken« – rief der Kapitän, seine weichere Empfindung gewaltig niederkämpfend – »und bring all auch ein Glas für Wilm und 'ne Buddel Wein, damit wir allzusammen hier Verlobung halten. – – Na, das Fest kostet mich meine liebste Tochter und meine beste Pfeife, denn die ist mir vor Überraschung zerbrochen, aber was kann das helfen – zweimal zwei bleibt vier! wie mein alter Steuermann Schnurr immer sagte, wenn's mal schief ging!«

Rasch war der Tisch gedeckt und die Gläser gefüllt, und vier glückliche, harmlose Menschen genossen eine Stunde der Freude. – –

Die Hochzeit sollte schon im Februar stattfinden, denn ein langes Zögern war nicht gut, einmal weil Grete jetzt als Wilms Braut nicht den Haushalt der Brüder wie vordem in Ordnung halten konnte, und dann – wegen Knut. Dieser war seit der Verlobung seines Bruders voll Bitterkeit und Haß gegen Wilm, und selbst Gretes freundliches Wort schien ihn nur noch mehr zu reizen. Sie hatte ihn halb scherzend halb freundlich-ernst »Schwager« genannt, da war er aufgefahren mit einem wilden Worte und hatte sie eine Heuchlerin geheißen, von der er nichts wissen wolle, und die ihn mit ihren Scherzen in Frieden lassen möge.

Traurig hatte sie sich abgewendet, und als sie es nachmals Wilm mitteilte, suchte sie dieser zu beruhigen mit dem Hinweis, daß die Zeit den zornig Erregten besänftigen werde; Grete aber fürchtete sich von da ab vor Knut.

Sobald dieser die Vorbereitungen zur Hochzeit sah, sagte er eines Tages grollend:

»Da werde ich wohl hinausgeworfen aus unsers Vaters Hause?«

»Da sei Gott vor«, antwortete Wilm – »wir haben wie vordem beide Platz; du nimmst den Piesel und die zwei Kammern daneben, und wir behalten den andern Teil und du issest mit an unserm Tische – –«

»Bettelbrot – Gnadenbrot! Daß ich ein Narr wäre! Ich koche mir selbst, und eher hungre ich, als daß ich mich zu euerm Glücke setzte als Zuschauer. Und den Piesel brauch' ich nicht, den mögt ihr behalten als euer Staatszimmer, aber die Kammern nehme ich und lasse mir einen andern Eingang von draußen hereinbrechen, damit ich euch nicht in den Weg komme. Abgemacht!«

Und ehe Wilm noch erwidern konnte, hatte sich Knut nach seiner Art umgewendet und ging fort. Von da an redete er mit dem Bruder nur, was geredet werden mußte.

»Hätt' ich ein Handwerk gelernt in meinen jungen Tagen, so ginge ich fort!« sprach er zu andern; »so aber muß ich hier sitzen bleiben, denn Matrose werden mag ich nicht; 's ist genug, daß uns der Klaus jeden Tag ertrinken kann.« – –

Der Februar war gekommen. Eine südliche Brise hatte die Eisdecke von der See hinweggeschmolzen, und die Boote fuhren wieder zum Fang hinaus. Dabei war es nun schier verwunderlich, wie sich Knut schweigend zur rechten Zeit am Strande einfand, mit Wilm und dem dritten Genossen das Fahrzeug bestieg, und als ob nichts zwischen den Brüdern läge, den gewohnten Beruf pflegte; er wollte offenbar damit sein Anrecht auf das Boot aufrecht erhalten. Aber er that alle Handgriffe schweigend, während Wilm immer wieder bemüht war, ihm Freundlichkeit und Entgegenkommen zu zeigen, namentlich bei der Verwertung des Fanges.

Der letzte Sonntag im Februar war für die Hochzeit in Aussicht genommen. Die ganze kleine Insel nahm an dem freudigen Ereignis lebhaften Anteil, denn alle hatten das Brautpaar lieb, und am Hochzeitsmorgen war jung und alt auf den Beinen. Im Hause des Kapitäns wurde die Braut herausgeputzt, wie es in Ostfriesland Sitte und Brauch war, und Grete sah anmutig und stattlich aus in der fremden, gefälligen Tracht, so daß sich Svanholt an ihr nicht satt sehen konnte. Nun kam der Bräutigam schmuck und stolz, und das Brautgeleite setzte sich in Bewegung. Svanholt that es nicht anders, er ließ sich von seinem Schwager Jürgen Kögge nach der Kirche fahren, denn bei der Hochzeit seiner »Tochter« mochte er nicht fehlen.

Böller und Schüsse krachten, und die kleine Glocke bei dem Gotteshause läutete hell in den sonnigen Morgen – dazu rauschte die See, frei von den beengenden Eisfesseln, gegen die Küste, und ein kräftiger Nordwest wehte herüber, so daß wohl manches Auge mit heimlicher Besorgnis einen Blick nach dem fernen Horizonte warf.

Nur einer fehlte in dem Zuge: Knut. Er war am frühen Morgen bereits fortgegangen, und Wilm hatte ihn vergebens gesucht, um ihn mit freundlichem Worte nochmals zu bitten, an seinem Ehrenfeste teilzunehmen. Das war ein herber Tropfen in dem Glückskelch des Brautpaares, das nun die kleine, schlichte Kirche betrat, wo der greise Pastor seiner am Altar wartete.

Die Worte, die er sprach, waren einfach aber herzlich: »Du Kind des fernen Gebirges, möge dir deine neue Heimat, die kleine, arme Insel, zum Glücke werden! Wir säen nicht und ernten nicht, die weite See ist deines Mannes Acker, aus ihr kommen dir Lust und Leid. In brandenden Wellen, im tobenden Sturm habt ihr euch gefunden – vergeßt das nicht, und sei stark, du junges Weib, wenn dein Gatte das Leben, das er für dich gewagt, auch für andre daransetzt. Sein Beruf ist schwer, mach' ihm denselben leicht durch deine Liebe; aber er ist ehrenvoll und groß, und so nimm teil auch an seinem Ruhme, und Gott gebe euch beiden seinen Segen. Amen!«

Dann klang die bescheidene Orgel, und die rauhen Stimmen der Männer fielen ein, ernst und ergreifend, daß es der jungen Braut die Seele durchbebte wie mit heiligen Schauern – und dann war sie Wilms Weib geworden. Vor dem Gotteshause aber brach die Lust wieder durch, und unter Jauchzen und Johlen wurde das junge Paar nach seinem Hause geleitet, wo alles bereit war zu einem fröhlichen Mahle und einem gastlichen Gelage.

Der Piesel war geschmückt, soweit das anging, im Flur und in der Küche waren Tische und Stühle, und bald saßen und standen alle Nachbarn ringsum. Und der Umtrunk begann und mancher derbe Scherz lief mit unter, wie es eben Brauch war – das junge Weib in seinem Glücke aber war die stillste. In ihrem Freudenbecher lag freilich auch ein herber Tropfen, und Wilm wußte das, auch wenn keins von beiden darüber redete. Wo war Knut? – Warum mußte er an diesem Tage in seines Vaters Hause, beim Glücksfeste seines Bruders fehlen?

Am Nachmittage fanden sich auch ein paar Musikanten ein, Fischersleute, die mit wenig Können viel guten Willen verbanden, und dieser war die Hauptsache. Der Piesel ward ausgeräumt und wurde zum Tanzplatz, und alles drehte sich im lustigen Reigen, nur die Braut sah mit stillem Lächeln zu, denn sie trauerte noch um den Vater, und Wilm ehrte das Empfinden, das ihm sein Weib noch werter machte.

Knut aber war indessen im Stationshause; er war allein, denn alle andern waren bei der Hochzeit, und in seiner Seele gärte und wühlte es von Schmerz und Zorn. Mit glühenden Augen starrte er hinaus auf die See, die in langen Wellen heranrollte, und dann wieder nach dem Himmel, und in seinem Herzen stiegen frevelhafte Gedanken auf. Wenn doch heute ein Wetter käme, mitten hinein in das Glück Wilms, wenn er am Tage seiner Freude hinaus müßte in Sturm und Wogendrang und wenn er nicht mehr heimkehrte! Knut erschrak fast vor diesem Gedanken und suchte ihn voll Unwillen abzuschütteln. Besser wär's, er selber käme dann nicht wieder von der Rettungsfahrt, dann hätte seine Seele doch Ruhe, und alles wäre vorbei.

Und es schien, als ob der Himmel seinen frevelhaften Gedanken entgegenkommen wollte. Der Wind, welcher schon seit dem Morgen wehte, hatte an Heftigkeit zugenommen und sauste stöhnend um das Stationshaus und sang dem einsamen Manne Lieder von Haß und Zorn. Noch immer war es draußen Sonnenschein, aber die Wogen rollten schon schwerer heran, sie brausten wie in verhaltenem Ingrimm, und ihre Kämme schwollen an, immer höher, immer weißer.

Knut hatte seine dämonische Lust daran. Wenn jetzt noch ein Fahrzeug weit draußen auftauchte und das Toben der Elemente mit vollster Gewalt einsetzte – das wäre eine Hochzeitsmusik! Da stieg es wie weiße Schatten fern aus der See, wie Nebel begann es zu wogen, erst weit draußen, dann kam es näher, und die grauen Schleier mischten sich seltsam mit der weißen Brandung. Am Horizont ballte es sich zu Wolken zusammen und dann brach es mit einem Male mit einem heftigen Sturmesstoße los, daß sich die Wellen mächtig hoben und ihr Anprall an die Küste wie ein dumpfes, unheimliches Dröhnen klang.

Zwischen den Nebeln draußen aber hob es sich wie ragende Masten, und hörbar schlug dem einsamen Wächter im Stationshause das Herz an die Rippen, und wie er nun beim letzten Tagesschein noch einmal durch das Glas hinausblickte, da erkannte er ganz unzweifelhaft das Notsignal auf dem Schiffe: die blau und weiß gewürfelte viereckige Flagge und darunter den weißen, dreieckigen Wimpel mit dem roten Punkt in der Mitte.

Das war's ja, was er gewollt hatte! Nun konnte er ihnen allen, die dort in seinem Vaterhause lärmten und sich freuten, während er hier wie ein Ausgestoßener einsam weilte, die Lust verderben, und erfüllt nur von dem einen Gedanken, des Bruders Glück – und wäre es auf Stunden nur – zu zerstören, eilte er mit hastigen Schritten nach dem Hochzeitshause, und mitten in das Lärmen der Musik und das Johlen der Gäste klang rauh und stark sein Ruf:

»Ein Schiff in Not!«

» Ein Schiff in Not

Wie mit einem Schlage veränderte sich das Bild. Mitten im Tanzen brach die Musik ab, der Reigen löste sich, und Wilms Stimme klang fest und befehlend:

»Mannschaft hinaus!«

Der dämonische, wildfreudige Ausdruck in den Zügen Knuts schwand; die ruhige Kraft des Bruders, der selbstlos und stark sich mitten aus Freude und Glück losriß, um sich für fremde Menschen in den Kampf mit den Wogen zu werfen, hatte auch für ihn etwas Überwältigendes. So hatte er sich diesen Augenblick nicht gedacht, und gegenüber solcher Seelengröße kam er sich selbst so klein vor, daß das Gefühl der Scham über Zorn und Haß siegte. Aber ein freundliches Wort hätte er doch weder Wilm noch seinem jungen Weibe gönnen können. Er wandte sich schnell und kurz ab und eilte nach der Station.

Wilm hatte rasch und herzlich die Hand Gretes gefaßt und sagte:

»Es ruft die höhere Pflicht!«

Das junge Weib aber, vollbewußt der Größe des Augenblicks und mit der Empfindung, daß auch sie ihren Teil an derselben habe, erwiderte warm und schlicht: »Geh mit Gott!«

Dann liefen sie beide hinüber nach der Küche, sie half ihm rasch das Ölpaktje anlegen und reichte ihm den Südwester – noch ein rascher Kuß – und er eilte davon; sie aber stand unter der Thür, noch im Brautstaat, umweht von dem fauchenden Winde, und schaute ihm nach mit gefalteten Händen, bis er hinter der Düne verschwand. Jetzt erst trat sie in das Haus zurück; die Männer hatten alle dasselbe verlassen und waren nach dem Strande geeilt, nur Kapitän Svanholt saß noch in seinem Rollstuhle da, und über sein treuherziges Gesicht lief ein seltsames Zucken, das halb Ingrimm, halb Rührung zu sein schien. Er sagte: »Armes Kind! Daß das gerade heute kommen mußte!« Auch die Weiber, welche noch mit Frau Wencke hier waren, glaubten sie trösten und beruhigen zu sollen. Sie aber sagte mit einem milden Lächeln:

»Was wollt ihr denn? – Habe ich denn nicht vorher gewußt, daß solche Stunden kommen müssen? Und daß es just heute kam, ist eine besondere Fügung des Himmels, damit ich nicht zu übermütig werde in all meinem Glücke!«

Verwundert sah der Kapitän das bräutliche Weib an, das so ruhig und stark redete, wie es nur eine aus ostfriesischem Blut vermocht hätte, und sprach:

»Grete, wenn du stolz bist auf deinen Mann, so muß er's auch auf dich sein. Du hast noch mehr Kern, als ich in dir gesucht hätte. Zwei bessere Menschen hätte der Himmel nicht zusammentragen können!«

Mit beispielloser Schnelligkeit wurde das Rettungsboot flott gemacht, zumal Wilm immer mehr drängte; denn in seiner Seele machte er sich den Vorwurf, daß trotz des stark wehenden Windes am Nachmittage das Stationshaus nur von einem Wächter besetzt war, während die andern an der Hochzeitslust teilnahmen. Freilich hätte auch niemand erwarten können, daß diese steife Brise so plötzlich zum Sturme werden würde. Indes, schneller konnte die Hilfe auch nicht gebracht werden, als es geschah, denn die mutvollen und opferbereiten Männer waren zum Teil gleich in ihrem Sonntagsstaat zur Stelle geeilt, und auch Wilm nahm sich nicht einmal Zeit, einen Korkgürtel anzulegen, sondern bestieg in einer ihm beinahe fremden Hast das Boot.

Aber als dies in die Brandung hineinsauste, da überkam ihn eine nie empfundene Begeisterung. Ihm war, als sollte sein Hochzeitstag jetzt erst die rechte Weihe empfangen, und ein schöneres Brautgeschenk vermochte er sich nicht zu denken, als wenn es ihm gelänge, wieder einige Menschenleben zu retten und durch Schaffen für fremdes Glück sein eignes zu erhöhen.

Und die kleine Schar hatte schon gefahrvollere Fahrten unternommen. Der Wogendrang war bei weitem nicht so groß, als da man das vorige Mal hinausfuhr, und da Wilm sein Weib aus den Wellen geholt. Und wenn er jetzt an Grete dachte, schlug ihm das Herz voller und wärmer, und fester umspannte seine Faust den Remen, mit dem er im Augenblicke steuerte, und stolzer lehnte er sich bei Sturm und Wellenschwall an den Mast, von dem das rote Kreuz im weißen Felde wehte.

Man sah das bedrohte Schiff ganz deutlich, es lag nicht allzuweit draußen und war ein kleiner, wie es schien, arg zugerichteter Kutter, der sich nicht lange mehr über Wasser halten konnte. Das schien auch die Bemannung desselben zu erkennen, denn nach einiger Zeit bemerkte Wilm, daß man ein Boot an demselben herabließ und daß die Schiffbrüchigen das Wrack verließen, um sich zu retten.

»Die Thörichten!« rief er laut. »Das ist das Gefährlichste, was sie machen können!«

Das kleine Boot, wie eine Nußschale, war der unrettbare Spielball der empörten Wellen, und es wäre ein großes Wunder gewesen, wenn es nicht kenterte. Die Leute hatten offenbar den Kopf verloren, denn angesichts des nahenden Rettungsbootes war es unbegreiflich, wie sie das Schiff verlassen konnten, dessen Planken wohl noch so lange zusammengehalten hätten, bis die Retter nahe waren.

»Vorwärts mit voller Kraft!« rief Wilm, und mit ganzer Wucht legte sich die Mannschaft in die Ruder, der Vormann selbst aber schlang sich eines der Taue, die um den Mast gewunden waren, um den Leib, bereit, wenn es not that, durch unmittelbares Eingreifen irgend eine drohende Gefahr zu beseitigen.

Wie er so dastand, stolz entschlossen, streifte ihn ein Blick Knuts. Die ganze Gestalt mit dem Gepräge bewußter Kraft, der Glanz des Glückes, der selbst jetzt noch durch die Spannung, welche die Situation erregte, durchleuchtete, ließ in dem Herzen des Bruders wiederum jäh einen Strahl des Hasses aufzucken. Wenn Wilm jetzt heimkehrt von glücklicher Rettungsfahrt, dann empfindet er doppelt die Freude jeder kühnen That, dann winkten ihm Wonne und Behagen am eignen Herde – aber wenn Knut zurückkommt, nachdem er für andre sein Leben drangesetzt, da war's eben eine selbstverständliche Sache, eine Pflicht, für die er entlohnt wird – aber von Glück ist für ihn keine Rede. Eine unendliche Bitterkeit erfaßte ihn, aber je mehr es in seiner Seele rang, desto kraftvoller setzte er das Ruder ein, als müßte er außer mit der zornigen See noch mit einem andern mächtigeren Feinde kämpfen.

Indes hielt Wilm sein Auge fest auf die kleine Nußschale von Boot gerichtet, die den Streit mit dem Ozean aufnehmen wollte. Vier Männer saßen darin – wohl die ganze Bemannung des kleinen gestrandeten Kutters, der mit seinem dunklen Rumpf und zerrissenem, abwärts geneigtem Takelwerk nicht allzufern mehr aus dem Wellenschaume ragte.

Die beiden Boote kamen einander näher. Schon klang von dem Rettungsfahrzeug ein freudig grüßendes Hurra, das von rauhen Kehlen matt erwidert wurde, als eine mächtigere Woge gegen das kleinere Fahrzeug brandete, und im nächsten Augenblicke konnten Wilm und die Seinen nichts mehr davon erschauen. Es war gekentert, und seine Insassen vielleicht, so nahe dem rettenden Ziele, verloren.

Kein Laut kam über die Lippen der Männer bei dem furchtbaren Anblick, aber jeder war sich der Bedeutung des Moments bewußt, und wenn noch eine größere Anspannung aller Muskeln möglich war, so fand sie jetzt statt. Das Rettungsboot schnitt durch die schäumenden Wellen wie ein Riesenfisch, und neuer Mut beseelte alle Herzen, als man zwischen dem Schaume der Wogen da und dort den Kopf eines Schiffbrüchigen auftauchen sah. Aber Wilms scharfes Auge erkannte, daß einer derselben weiter abgetrieben war und offenbar mit sinkender Kraft mit den Wellen rang. Da rief er Knut zu: »Halt fest!«, und ehe dieser noch völlig klar war, um was es sich handle, war er schon über Bord gesprungen und teilte mit kräftigen Armen die Fluten. Keiner hatte daran gedacht, daß er nicht einmal einen Schwimmgürtel angelegt hatte, nur Knuts Auge hatte es erhascht, eben als der Bruder in das Wasser sprang, und durch seine Seele flog es wie ein wilder Blitz, indem seine Hand nach dem Tau faßte, das sich rasch abrollte und an dessen Ende Wilm hing.

Er hielt das Schicksal des andern in seiner Hand, und in diesem unheilvollen Augenblicke stritten Engel und Teufel um seine arme Seele. Wenn jetzt das Tau durch irgend einen Zufall risse, wenn der verzweiflungsvolle Schiffbrüchige in seiner Todesangst seinen Retter mit sich hinabzöge und die Wellen Wilm und sein Glück begrüben, so daß er nicht wiederheimkehren könnte zu Grete – – und der Gedanke an das junge Weib ergriff Knut so mächtig, daß er blitzschnell mit der Rechten in seine Tasche fuhr, wo er das Messer barg, eine Sekunde später war es aufgeklappt – niemand sah es, denn alle arbeiteten mit dem Aufgebote vollster Kraft – und schon zuckte es in der Hand, schon wollte er in seiner wahnwitzigen Erregung das hilfreiche Seil durchschneiden – da spürte er an dem Tau ein plötzliches Reißen, und mit einem Male kam Knut wieder zur Besinnung.

Eiskalter Schauer rann ihm durch die Glieder bei dem Gedanken an die entsetzliche brudermörderische That, welche er begehen wollte – dann schleuderte er das Messer weit von sich, hinaus in die schäumenden Wasser, in denen es für immer versank, er selbst aber atmete tief auf und zog dann mit keuchendem Atem, mit gestrafften Muskeln, als sei die geringste Verzögerung von schwerem Unheil, das Tau an, und da Wilm mit seiner Bürde, dem halbbewußtlosen Manne, den er gerettet, heranschwamm, faßte er mit dem Aufgebot aller Kräfte über den Bord, um die beiden hereinzuziehen und zu bergen.

Aber da es geschehen war, wandelte ihn beinahe eine Ohnmacht an; so rasch und gewaltig waren die Übergänge in seinem Empfinden, so furchtbar die körperliche Erregung und Anstrengung gewesen; er mußte sich einige Augenblicke fest an dem Maste halten, ehe ihm der Atem und der Blick wieder freier wurden.

Alle vier Schiffbrüchigen waren glücklich gerettet, und mit gehobenem Bewußtsein arbeiteten sich die braven Retter wieder der heimischen Küste entgegen, deren Leuchtturm ihnen sein freundliches Licht sandte. Keiner aber war froher als Wilm, der den Tag seines Glückes geweiht hatte durch Ausübung schöner Menschenliebe. Und er durfte sich seines Lohnes freuen, denn als man dem Strande nahe kam, wo um ein flackerndes Feuer Männer und Weiber in froher Erregung der Heimkehrenden harrten, da erkannte sein Auge bald genug im unstäten Glanz der Flamme das ihm zugekehrte Gesicht Gretens, die mit ihrem Taschentuche zum Gruße wehte.

Jetzt erst war sie sein, und da er das Ufer betrat, umarmte sie ihn vor allen Leuten, unbekümmert darum, daß sein Gewand durchnäßt war, und die rauhe Stimme des Kapitäns, der es sich nicht hatte nehmen lassen, trotz Nacht und Wind hier auszuhalten, ja der sich noch einmal wie ganz in seinem Elemente fühlte, rief herzlich:

»Hurra, unsre brave Mannschaft! Hurra, Wilm Ordinger!«

Und »Hurra, Wilm Ordinger!« klang es durch die Nacht und durch die Brandung, und nur einer schlich sich still abseits und ging finster nach seinem Hause – Knut. Da war es ja, was er gefürchtet hatte, und das Fünkchen Sonnenschein und Bruderliebe, welches in seine Seele gefallen war, schien wieder völlig erloschen.

Er ging durch den Eingang, welchen er sich von der andern Seite hatte anlegen lassen, in seine einsame, finstere Stube und warf sich müde und grollend auf sein Lager, wo er noch lange nicht die gesuchte Ruhe fand.


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