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Das Ende

Der Friede von Brest-Litowsk wurde geschlossen. Der Frieden von Brest-Litowsk war ein Diktat. Der deutsche Staatssekretär von Kühlmann und mit ihm der geschmeidige, rhetorisch gewandte Graf Czernin waren mit Absichten reiner Vernunft in der zerschossenen Russenfestung eingetroffen. Indes die Absichten wandten sich, als der hochgewachsene General Hoffmann, dem die Geste mehr schadete als der militärische, ideenreiche Kopf verdiente, mit der Faust auf den Tisch schlug. Die Geste mochte befohlen sein. Die Schwenkung staatsmännischer Absichten erzwang der allmächtig gewordene General Ludendorff, gegen den der einzige, der ihm noch zu befehlen hatte, der Generalfeldmarschall von Hindenburg, nicht aufstand oder nicht aufkam. Die Art des Friedensschlusses, die Zeit der Friedensverhandlungen regelten die Depeschen des deutschen Hauptquartiers. Der Vormarsch drohte weiterzugehen. Den Staatsmännern blieb, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollten, nur ein Mittel: die deutsche Front aufzulösen, die von der Ostsee bis ans Schwarze Meer hinunterreichte. Dies eine Machtmittel besaß weder Herr von Kühlmann noch Czernin. Rücktritt konnte nichts ändern. Die Zeit drängte. Der Frieden von Brest-Litowsk blieb ein Diktat.

Um Rußlands Randstaaten wurde nicht gehandelt. Die Randstaaten wurden schließlich mit sophistischer Form genommen. Der General Ludendorff, der Generalfeldmarschall von Hindenburg, beide sahen die vorgeschrittene Zeit nicht mehr. Sie sahen beide nur noch ein glänzendes äußeres Rahmenwerk, dessen Inhalt sie nicht erkannten, obgleich der Inhalt reif zu werden drohte, um die Rahmen zu sprengen. Es ging um das Land der Balten, Esten, Finnen. Der ganze Osten war ein einziges deutsches Marschgebiet geworden, das selbst in der Krim kein Ende haben mußte. Die »Ostorientierung« erlebte Orgien. Von den völlig Niedergeworfenen wurde obendrein rollendes Gold eingebracht. Die Staatsmänner hatten zu schweigen. Die Generale redeten. Noch blieb die Erledigung des Westens. Bald wollten die Generale auch mit dem Westen abrechnen.

Noch war Helligkeit über dem Vierbund. Noch wollte, noch konnte man die Schatten übersehen, die vorüberhuschten. Wenig drang in Volk und Öffentlichkeit. Höchstens, daß der junge Kaiser Karl für Überraschung und Aufregung sorgte. Die Mittelmächte waren im Krieg, aber Kaiser Karl schrieb Briefe an die Brüder der Kaiserin, die im Heer der Alliierten dienten. Heftig gingen die Erklärungen hin und wieder, ob es ein Schreiben des Kaisers selbst, ob es ein Schreiben der Kaiserin-Mutter oder der Kaiserin Zita und nur eine Nachschrift des Kaisers war. Karl hatte darin Meinungen über die Zukunft Elsaß-Lothringens vorgetragen, oder sollte sie wenigstens vorgetragen haben. Sein Minister des Äußeren wußte nichts von dieser eigenherrlichen Korrespondenz, die auf alle Fälle seine Wege und Pläne störte. Eigentlich wußte von geheimen politischen Vorgängen nur die dunkeläugige Kaiserin Zita, die beeinflußt von täglich flüsternden Beichtvätern, inmitten sterbender, um ihr Lebensrecht kämpfender Menschheit eine Politik in der Monarchie, vielleicht überhaupt in den Mittelmächten so zu treiben gedachte, wie man dies spätestens im achtzehnten Jahrhundert, als die Völker noch nicht bestanden, an Duodezhöfen versuchen konnte. An Maria Theresia, die wirklich im achtzehnten Jahrhundert gelebt hatte, erinnerte sie jedenfalls nicht. Die Intrigen und Kabalen drängten sich, der höfische Horizont war klein, die meisten Hergänge waren dunkel, das Rauschen der Unterröcke mit der brüchigen Seide aus Duodez war undeutlich, war klar nicht festzustellen. Aber klar war, daß zwischen Hohenzollern und Habsburg, zwischen Deutschland und der Monarchie sich nicht alles so verhielt, wie es sein sollte. Nicht bloß der Hof hatte keine begeisterte Freundschaft für die deutsche Art. Selbst im deutschen Volk der Monarchie, deren Völker alle sich durch eine Geringschätzung, durch unverdiente Herabsetzung seit Jahren vom deutschen Bundesgenossen beleidigt und verkannt, seit dem Geist der Falkenhayn-Ära aber offen verhöhnt wußten: selbst im deutschen Stamm der Monarchie war die Stimmung vielfach erbittert. Sogar der Umschwung war kurz, den die Empörung über die Briefe des Kaisers ehrlich geweckt hatte. Czernin nahm damals den Abschied. Er verzichtete auf arbeitsame Stunden am Wiener Ballplatz, wenn in den Boudoirs von Eckartsau oder im Schloß Wartholz noch eine Nebenpolitik der Damen von Parma getrieben werden konnte. Der Abschied des Grafen Czernin bedeutete eine Sensation, die dem Diplomaten viel Neigung zutrug.

Graf Czernin hatte als überzeugter Friedensfreund gegolten. Für den Kriegsabbau war er vor allem und schon immer gewesen. Seine Politik, ob sie sich auch nicht durchsetzen konnte, hatte allezeit die Auffassungen eines geistreichen Kopfs gespiegelt. Dem Grafen Czernin war der Krieg in Wahrheit ein Verhängnis, das für die Mittelmächte, da der Krieg einmal begonnen war, günstige Lösungen überhaupt nicht zuließ. Noch von Bukarest aus, als Gesandter beim rumänischen Hof, hatte er alle Anstrengungen gemacht, um in günstigem militärischen Augenblick die Stimmung der Entscheidenden bei den Mittelmächten für einen Frieden auf der Grundlage des Status quo zu gewinnen, wenn der Status quo noch zu haben wäre. Graf Czernin unternahm die Reise ins Hauptquartier nach Teschen, um sich mit Freiherrn von Conrad zu besprechen. Trotz der gewaltigen Kriegserfolge sah der Baron die Zukunft nicht als Optimist. Er kam der Auffassung Czernins entgegen. Aber Sache des Soldaten wäre es, den Krieg zu führen, solange er's vermochte. Die Wege des Friedens zu suchen und zu finden, bliebe Aufgabe der Diplomaten. Die Diplomaten fanden den Weg damals nicht. Die Entente blieb unzugänglich. Der Status quo war damals nicht wiederherzustellen.

Am Wiener Ballplatz mühte sich dann Graf Ottokar Czernin als Außenminister selbst, länger als ein Jahr, Möglichkeiten eines Friedens zu schaffen. So pessimistisch er auch über den Kriegsausgang dachte: keinen Versuch, um Frieden zu erlangen, wollte er versäumen. Czernin war kein Militär. Er sah über den Glanz der Heere und ihrer Taten hinweg den Wall der Welt, der immer noch gegen die Mittelmächte stand. Er sah die wirtschaftliche Not der Monarchie, darin die Hilfskräfte einmal versiegen mußten. Er hatte eine Denkschrift für Kaiser Karl ausgearbeitet, die auch Wilhelm II. vorgelegt wurde. Aber völlig eingesponnen in Sieg und Erfolg, hatte Kaiser Wilhelm die Warnung vor dem Zusammenbruch überhaupt nicht verstanden. Um diesen völligen Zusammenbruch zu verhindern, für dessen Abwehr er kein anderes Mittel wußte, war Graf Czernin schließlich für Opferbereitschaft: auch wenn die Opferbereitschaft die Preisgabe Lothringens und des Elsaß bedeutete. Er wußte, daß Ludendorff derlei Gedankengänge an sich überhaupt nicht vortragen ließ. Er trug sie also Ludendorff in bestimmten Zusammenhängen vor. Graf Czernin entschloß sich, Österreich-Ungarn, dessen Uhr sonst überhaupt vielleicht abgelaufen war, Kriegsopfer bringen zu lassen. Um das deutsche Opfer zu erleichtern, auf dem die Entente bestand. Das Königreich Galizien sollte, wenn man auf Elsaß-Lothringen verzichtete, Polen eingegliedert werden und die Krone des Großkönigreiches Polen konnte Wilhelm II. tragen. Aber Ludendorff lehnte ab. Seine Formen in der Besprechung von Friedensfragen wurden milder, wenn die Waffenerfolge im Augenblick bescheidener waren. Die Erobererabsichten traten zurück: bei unversehrtem Reichsbesitz war dann die Aussprache über Wege zum Frieden sanfter. Die Formen wurden sofort wieder rauher, wenn der Glanz der Waffen sich von neuem belebte. Es konnte sein, daß man im Frühjahr 1918 wirklich nach Paris oder Calais kam. Wenn sich Deutschland bei militärisch günstiger Lage dann zur Opferbereitschaft entschloß, war vielleicht in der Hoffnung Czernins noch ein Friedensausweg da. Vorläufig aber war Ludendorff weder in Paris noch in Calais. Vorläufig blieb der Generalquartiermeister hart und unnahbar. Man mußte schweigen, da noch der Glaube an das Schlußwort der Waffen triumphierte, vorläufig gab es im deutschen Hauptquartier kein Friedenstor.

Vielleicht hätte der Graf Czernin noch einen anderen Weg beschreiten können. Der Versuch zum Sonderfrieden lockte. Er hätte, da er selbst ein Deutscher, überdies ein Freund des Bündnisses war, und nicht jedem der Rettungswille in verwegener Tat einleuchten mußte, vom Schauplatz abtreten und aus der volkgemischten Monarchie einen slawischen Außenminister an seine Stelle bringen können. Der slawische Außenminister wäre den Sonderfriedensweg vielleicht leichter gegangen. Vielleicht hätte Czernin so nach der Bereitschaft zu Opfern, die er die Monarchie wollte zahlen lassen, auch noch durch Druck auf Deutschland jenem Ziel zustreben können, das die Selbsterhaltung mit verringertem Besitz der völligen Zertrümmerung vorzog. Aber auch der Weg des Sonderfriedens war ungangbar. Seine Ankündigung hätte nicht nur den Einmarsch Ludendorffs in die Monarchie, sie hätte zugleich mit Empörung und Aufstand Deutschösterreichs die automatische Revolution der Monarchie gebracht. Auch hier gab es für Czernin keinen Ausweg. Einen dritten Weg wußte er nicht. Als er über der Briefaffäre schied, tat er's mit der Überzeugung, daß alle Versuche, zum Frieden zu gelangen, nur einen » Circulus vitiosus« darstellten. Ludendorff wollte nicht – Lloyd George und Clemenceau wollten nicht – die Bundessprengung bot keine Rettung – – Vorläufig rangen die Waffen weiter. Zuversichtlich führte sie Ludendorff. In der Tat blieb die militärische Austragung, wenn alle Diplomatie versagte, wenn alle Versuche nur einen » Circulus vitiosus« darstellten, die letzte Lösungsmöglichkeit. Längst war freilich auch die militärische Krise überschritten. Aber Ludendorff und Hindenburg glaubten noch an die Entscheidung im Westen.

Graf Ottokar Czernin hatte den Abschied genommen, aber die Sensation verflog, am Wiener Ballplatz saß wieder der trockene, pedantische Baron Burian, hauptsächlich von der Sorge um austro-polnische Lösung in der Streitfrage gequält, in deren Schlichtungsversuchen Deutschland und die Monarchie auch nach Burians Programm nicht übereinstimmten. Die Völker aber hatten nicht die austro-polnischen Sorgen Baron Burians. Die Völker litten schwerste Entbehrung, die Völker hungerten. Satt war nur Ungarn. Ungarn hatte die »Integrität« des Königreiches, die Reichsgrenzen waren frei vom Feind, der Rest des Krieges scherte dies Volk der großen Politiker nicht mehr viel. Im übrigen war nicht nur Mißstimmung und Mangel in der Monarchie: Entkräftung schritt durch das Reich. Das Lächeln des Kaisers Karl büßte an Zauber allmählich ein. Die Hungernden wurden nicht satt, wenn sie hörten, daß die »Italienerin« die Volksküchen wieder besucht hatte. Im Badener Hauptquartier überanstrengte die Arbeit nicht alle Köpfe. Immer noch war der Kaiser unaufhörlich unterwegs, immer noch war der joviale Generaloberst von Arz, der stets an einen Bonvivant erinnerte, mit ihm auf Reisen. Bisweilen dämmerte sogar in Baden die Erkenntnis, daß der Krieg beendet werden müsse. Für den Abbau war nicht nur der Graf Czernin gewesen, für den Abbau war sogar, ohne nachzudenken, wie man dies unternahm, der Kaiser Karl.

In der Monarchie arbeitete längst der Apparat nicht mehr wie sonst. Nicht nur die Minister, nicht nur die höchsten Generale kannten in dem Wirrwarr, den der Kaiser schuf, das Regelmaß der Arbeit nicht mehr. Nicht nur der Staatsapparat stockte, weil Ungarn sich immer fester für sich abschloß und Österreich halb als Ausland, halb als Feindesland betrachtete; weil die Tschechen, nicht gerührt von der kaiserlichen Milde einer sinnlosen Amnestie, sondern aufgestachelt durch die freigewordenen Staatsrebellen, immer offener wurden im Aufruhr passiven Widerstands. In den Heeren der Gegner kämpften tschecho-slowakische Verbände längst. Auch die Industrien stockten. Die Fabriken drohten zwar noch nicht ganz stillzustehen, denn Waffengewalt konnte den Arbeitswillen immer noch erzwingen, aber ihre Arbeit hatte nicht mehr den Wert und Inhalt von einst. Bisweilen flogen die Munitionslager durch arge Zufälle in die Luft. Bisweilen flog hier und dort die Nachricht auf von unterdrückter Meuterei. Im Hauptquartier zu Baden konnte, wer wollte und wem der Kaiser es gestattete, noch immer ungestört arbeiten. Verläßliche Divisionen, beste Truppen, aufs beste genährt, schützten das Hauptquartier, von dem Freiherr von Conrad gesagt hatte, daß es seine Entschlüsse allerdings in Ruhe fassen müsse. Verläßliche Divisionen waren jetzt überhaupt nötig an vielen Stellen des Reichs. Noch war es kein Fieber, das die Menschen schüttelte. Noch konnte man nicht sagen: die Monarchie ist krank. Wer nicht unbedingt sehen wollte, mußte noch nicht sehen. Aber das Unbehagen, das benommene Hin und Her, die Störungen bald dieser, bald jener Stelle waren da, die Krankheitsbilder vor dem Ausbruch verschleiern. Gnädig und huldvoll war der Kaiser immer noch. Wer Orden wollte, bekam Orden. Wer Graf werden wollte, wurde Graf. Wenn die hohen Damen baten, wurde selbst der Stabschef von Przemyslani wieder Kommandant. Der schuldige Korpskommandant von Luck durfte wiederum Truppen an der Südwestfront befehligen. Für Joseph Ferdinand gab es eine Verwendung als Inspekteur der Lüfte. Für Peter Ferdinand gab es gleichfalls Neuanstellung. Der Rückstrom fortgejagter Generale setzte ein. Sie saßen schon wieder überall. Nur wer den Rücken nicht krümmte, nur wer eine Meinung zeigte, hatte zu gehen. Niemand zeigte eine Meinung, alle blieben, solange es hielt. Cliquen waren um den Kaiser. Er merkte es nicht. Noch fuhr das Schiff, das alle Auserwählten trug, beschützt im Kurs von jenen zuverlässigen Divisionen. Dann kam das Frühjahr 1918.

 

Hindenburg griff an der Westfront an. Der erste Stoß gelang bescheidener, als Angriffe der Verbündeten sonst eingesetzt hatten. Indes, die Front der Alliierten zeigte eine Biegung. Hindenburgs Zuruf an Kaiser Wilhelm flog durch Deutschland: »Der erste Akt ist zu Ende. Ich denke, wir können zufrieden sein.« Der zweite Stoß wurde geführt. Die Krümmung, die er erzwang, war diesmal schwächer. Der Angriff war ein Tasten. Der Angriff war ein Suchen. Das Ringen wurde schwer. Die Amerikaner waren da. Nie hatte ein Feldherr zuvor ein stärkeres, reicheres Heer, nie hatte ein Feldherr zuvor überwältigendere Heerscharen von Maschinen als General Foch, der den Kommandostab übernahm, als das Spiel sich neigte. Eins mußte jetzt geschehen: nicht bloß um der Bundesgenossenschaft willen, nicht bloß deshalb, weil deutsche Heere oft und oft für die Monarchie gefochten, durfte sich Deutschland nicht allein verbluten – im Selbsterhaltungstrieb mußte noch einmal die Monarchie alle Kraft für gemeinsame Lebensrechte aufbieten. Wenn Deutschland fiel, so fiel die Monarchie. Und umgekehrt. Dies war sehr einfach. Wenn es in Baden niemand wußte, so wußte es Freiherr von Conrad. Er machte vor dem Kaiser aus seinen Überzeugungen kein Hehl: da er besser als irgendwer übersah, wie lange Zeit und welcher Überwindung von Schwierigkeiten die Vorbereitungen eines Angriffes aus Tirol bedurften, schlug er beizeiten den Angriff beiderseits der Brenta vor.

Er erwartete keine strahlenden Triumphe mehr. Die Gelegenheit, die an den Durchbruch von Tolmein und Flitsch sich geknüpft hatte, war endgültig versäumt. Die Italiener hatten ihr Kampfmaterial in jedem Sinn ersetzt. Sie hatten alle Befestigungen zehnfach ausgebaut und verstärkt. Sie hatten es sich nicht zweimal sagen lassen, daß sie sich erholen durften. Drei englische und zwei französische Divisionen standen zwischen den Italienern. An einen Vorstoß tief nach Norditalien, an die völlige Niederzwingung des Gegners, der nach Tolmein auf Gnade und Ungnade verloren war, konnte man jetzt nicht mehr denken. Aber die Deutschen konnte man entlasten, konnte die Alliierten zwingen, Truppen von der Westfront abzuziehen. Vielleicht brachte ein Sieg über Italien drüben jetzt noch das Zugeständnis wenigstens einer Partie remise. Dann war das Leben wenigstens gerettet. Auch durften die eigenen Truppen nicht vor der Gefahr noch eines Winters in den Hochbergen stehen. Gruben sie sich in der Ebene ein, wenigstens am Rand der Alpen, sah Italien das Bollwerk der Alpen erst ganz vor sich, ein Bollwerk, das erst noch einmal genommen werden mußte, bevor man in die »unerlösten Provinzen« gelangte: dann sank vielleicht Italien doch der Mut zum Weiterkämpfen. Nicht Begeisterung, nicht die Aussicht auf Siegeszüge, deren Zeit verstrichen war, gebot die letzte Zusammenfassung der Kräfte. Die Pflicht gebot sie, die Vernunft, die letzte Selbstwehr.

Conrad hatte einen Angriff beiderseits der Brenta vorgeschlagen und einen einzigen, kräftigen Nebenstoß über Oderzo auf Treviso, den Nebenstoß über die Piave. Für den Angriff auf die Hochfläche beiderseits der Brenta berechnete und begehrte er 25 Infanteriedivisionen. Das Hauptquartier – das anfänglich lediglich den Angriff zwischen Brenta und Piave ins Auge gefaßt hatte – stimmte seiner Ansicht zu. Die Vorbereitungen begannen.

Sie hatten aber, wie sich dann in der Abwicklung zeigte, nicht mehr den Zug, den Schwung aller Angriffsvorbereitungen bisher. Die Mittel flossen dürftig, spröde, langsam. Die Zahl der von Freiherrn von Conrad geforderten Truppen konnte plötzlich nicht bewilligt werden. Das Hauptquartier in Baden behauptete, daß mehr als 17 Infanteriedivisionen weder herangeführt, noch verpflegt, noch aufgebracht werden könnten. Freiherr von Conrad stand einen Augenblick lang vor der Entscheidung, ob er den Kommandostab niederlegen sollte. Aber wenn das Armeeoberkommando feststellte, daß mehr an Truppen nicht aufzubringen war, wenn er selbst die Überzeugung der Notwendigkeit des Angriffes hatte, war Rücktritt soviel wie Fahnenflucht, um so mehr, wenn er seine Artillerie überrechnete. Er vermochte 2800 Geschütze im Angriffsraum unterzubringen. Die Artillerie konnte viel, konnte beinahe alles erreichen. Er setzte ein bestes Können an die genauen Pläne. Er arbeitete.

Die Vorbereitungen gingen hart. Der Zeitpunkt des Angriffes mußte immer weiter hinausgeschoben werden. Aber plötzlich begann das Armeeoberkommando zu drängen und drängte immer mehr. Draußen bei den Armeen hatte das Armeeoberkommando überall seine eigenen Berichterstatter. Und auch die Berichterstatter drängten. Endlich wurde der 15. Juni als Angriffsdatum festgesetzt. Zwei Tage vorher hatte der Freiherr von Conrad noch fünf Korpskommandanten aufgesucht. Sie alle waren voll Zuversicht. Sie alle waren fertig und in bester Ordnung. In der Nacht vom 13. zum 14. Juni waren die Truppen in die Angriffsräume marschiert. Am 14. hatten sie in den Ausgangsräumen unbeweglich zu liegen. Zwar trat jetzt plötzlich schlechtes Wetter ein. Aber an einen Rückmarsch der Truppen, an ein neuerliches Verschieben des Angriffs des Wetters wegen war nicht mehr zu denken. Der Rückmarsch hätte ein Chaos ergeben. So oder so hätte der Aufschub – ob er sich in Rückbewegung oder Stilliegen ausdrückte: beides hätte der Gegner entdecken müssen – schwerste Verluste durch feindliches Geschützfeuer in die Massen gebracht. Das Wetter konnte, wie oft in den Bergen, in der nächsten Stunde umschlagen. Der Angriff mußte beginnen. Auch hatte der Tolmeiner Angriff 1914 bei ungünstigstem Wetter eingesetzt. Und er war geglückt.

 

Allerlei Überraschungen brachte der neue Angriff sofort. Das Armeeoberkommando in Baden wollte plötzlich beweisen, daß auch eigene Köpfe dort an Karten und Tabellen saßen, daß nicht immer alles nach dem Kopf dieses eigensinnigen Marschalls Conrad eingerichtet werden mußte. Das Armeeoberkommando hatte beschlossen, den Angriffsplan Conrads zu verbessern und ihn so zu verbessern, daß überhaupt, indes der Freiherr seine Idee auszuführen vermeinte, ein völlig neuer Plan herauskam. Nicht nur Freiherr von Conrad griff an der Brenta an. Nicht nur der Nebenstoß auf Treviso sollte geführt werden: die gesamte Front nahezu von der Schweizer Grenze bis zur Adria griff an.

Baron Waldstätten hatte eine Lieblingsidee. Ihm hatte es der Tonalepaß angetan. Der Tonalepaß wurde angegriffen. Gegen die Erfüllung von Waldstättens Lieblingsgedanken war noch nichts zu sagen. Die unbedingte Sicherung des Tonalepasses war nötig; zwei Divisionen oblag dort die Sicherungsaufgabe. Untätig mußten sie nicht bleiben. Ein Erfolg der Truppen auch dort wäre recht vorteilhaft gewesen. Aber auch der Feldmarschall von Boroevic hatte erklärt: »Wenn Tirol angreift, muß ich auch angreifen.« Auch der Feldmarschall von Boroevic griff also an. Und jetzt, da die Kanonen an der Brenta sangen, verblüffte den Freiherrn neue Meldung: auch Erzherzog Joseph griff am Montello an. Denn Erzherzog Joseph, der Ungar, hatte erklärt: »Wenn alles vorgeht, kann ich als kaiserlicher Prinz nicht stehenbleiben.« Und über die Piave in breiter Front griff überdies die Armee Wurm an – – nichts war von Conrads Grundgedanken übriggeblieben, völlig war er zerbröckelt worden. Darum konnte weder Conrads Hauptstoß, noch der starke Nebenstoß, der für den Gegner als Nebenstoß nicht sofort erkenntlich sein sollte, geführt werden nach Conrads Aufbau. Die Generalisierung des Angriffs entlang der ganzen Front hatte bewirkt, daß Mittel und Kräfte nicht an einer einzigen Stelle so zusammengefaßt werden konnten, daß sie ausreichten. Das Armeeoberkommando hatte vollständige Eigenarbeit geliefert.

Und das Schicksal erfüllte sich. Zur Planverzettelung kam der Verrat. Zwei Offiziere und drei Fähnriche waren an der Hochflächenfront zu den Italienern übergelaufen, andere an anderen Teilen der Front. Sie hatten alles verraten. In der Angriffsnacht stand der Gegner seit zwei Uhr zum Gegenstoß bereit. Unterführer versagten. Die Korpskommandanten waren keineswegs alle fertig gewesen. Die wichtigste Stoßdivision hatte ihrem Korps gemeldet, daß manches noch unfertig sei. Der Korpskommandant hatte die Depesche an die Befehlsstelle des Freiherrn von Conrad nicht weitergegeben, oder sie war »steckengeblieben«. Alles hatte Freiherr von Conrad auf die Artillerie gestellt. Aber zum erstenmal im Kriege versagte sie. Der beste Artilleriegeneral der Armee, der eine Reihe von Isonzoschlachten artilleristisch mitentschieden hatte, leitete ihr Feuer. Aber die Munition versagte. Die Gasgranaten gaben kein Gas. Die Granatschrapnells explodierten nicht. All dies war Sorge und Verantwortung des Armeeoberkommandos. Aber sie hatten in Baden die Zeit verzettelt. Sie hatten das Hinterland unterwühlen lassen. Auch Fabriken und Munitionsnachschaffung waren unter Freiherrn von Conrad noch Waffen gewesen. Aber jetzt feierten die Fabriken und die Munitionserzeugung stockte. Dies ließ man die Heerführer im Felde nicht wissen. Aber von kommenden Offensiven wußte im Hinterlande ein jeder. Jetzt waren alle Ergebnisse sichtbar. Das Hinterland griff an die Front. Zum erstenmal war man ohne Conrad, im Geistigen gegen Conrad marschiert: und die Offensive zerbrach.

Schwer war die Enttäuschung des Freiherrn. Daß die Sterne nicht mehr hell über den Verbündeten standen, wußte er. Die Offensive aus Tirol hatte noch Gefangene und Geschütze eingebracht. Keine Kuppe der eigenen Linien wurde verloren. Da und dort stand und blieb man noch auf feindlichen Höhen. An der Piave, im Frontbereich des Feldmarschalls von Boroevic waren die Verluste erheblich. Aber hinter den Verlusten der großen Isonzoschlachten blieb ihre Zahl gerade noch zurück. Äußerlich war, am Bilde der Linien, nichts geändert. Man schnitt, wenn dies auch kein Trost war, denn die Deutschen wollte man ja entlasten, erheblich besser ab, als Hindenburg und Ludendorff in Frankreich. Aber daß der Apparat im Hinterlande schon so sehr rostig war, daß die Maschinen dort schon so arg den Dienst verweigerten, daß dies eine Jahr, seit er aus Baden abgereist, so vollständig vergeudet, so sichtbar vergeudet war, daß Wirrköpfe oder Schwache rund um einen Fürsten ohne Horizont Unternehmungen von solcher Kindlichkeit aushecken durften: all das war dem Freiherrn doch »eine große, traurige Sensation«. Ihm selbst vermochte Kaiser Karl nichts an Verschulden beizumessen. Kaiser Karl hatte sein mildes, freundliches Lächeln, als er durch Bozen fuhr und vor dem Freiherrn stand. Was man in Wien, in Budapest sprach, berührte ihn nicht. Aber dunkel, immer dunkler umdüsterte sich der Himmel. An der Westfront standen die Deutschen in der Verteidigung. Sie wichen und wichen. Die Erkenntnis der wahren Zustände, bei denen Monarchie, Hinterland, Politik und Heeresleitung nunmehr angelangt waren, gab nur mehr Schwermut und Erbitterung. Wenn Conrad noch blieb, blieb der Soldat. War der Posten gefährdet, war er der letzte, der ihn verließ. Aber klar war eins: die Monarchie war krank geworden.

Wenige sahen das Symptomatische. Die meisten sahen vorerst nur das Mißglücken eines Angriffes. Im vierten Kriegsjahr verdammte ihn aber die Menge laut. Im vierten Kriegsjahr nannte sie das Massensterben sinnlos. Das Parlament wollte nach der Verantwortlichkeit der Führer rufen. Unruhig wurde man selbst in Baden. Selbst im Hauptquartier sah man ein: ein Opfer wurde nötig. Für die Julimitte war das Parlament einberufen. Und der Kaiser wußte einen Ausweg. Dem Freiherrn von Conrad hatte er vor Jahresfrist das Tiroler Kommando aufgenötigt. Schnöde genug war das Spiel, das er mit dem Marschall getrieben hatte. Aber Freiherrn von Conrad, den er der unwissenden Menge hinhielt, Freiherrn von Conrad, der schweigen mußte und schweigen würde, wählte Karl von Habsburg jetzt als Opfer. Nach Eckartsau befahl er den Marschall.

»Es ist mir sehr leid, aber ich genehmige Ihr Ansuchen um Ihre Enthebung.«

Nie hatte Conrad daran gedacht, in Gefahr von Kommandobrücke und Bord des Schiffes zu gehen. Gerade dies eine nicht mehr. Um die Enthebung hatte er jetzt nicht gebeten. Aber nie hatte er heftiger bedauert, daß er nicht schon im Jahr zuvor ganz geschieden war.

»Ja, damals ging das nicht – –«

Der Kaiser war sehr schnell zu Ende. Er hatte sogar schon die Fürstlichkeit, die nicht mehr errötete. Dieser Marschall hatte den Krieg kommen sehen, und hatte gewarnt. Damals war er verlacht worden. Er hatte dann gegen das Unvermeidliche gerüstet. Damals gab man ihm keine Waffen. Er hatte die Grenzen des Reiches dennoch verteidigt und den Feind in unerhörten Schlachten geschlagen. In Nord und Ost und Süd. Damals nahm man ihm den Ruhm. Das Reich hatte er zu neuem, nie erwartetem Ansehen hochgehoben und steuerte dem Hafen zu. Da nahm man ihm Steuerung und Macht. Das Recht auf Ruhe, auf Ruhe des Nichterkannten hatte ihm der Kaiser abgezwungen. Sein Erbschaftsnachlaß schlug noch zweimal furchtbar den Feind. Da bestahl man den Stummen und Verbannten. Endlich rüsteten die neuen Männer zu eigener Tat. Und sie versagten. Da wälzten sie, um sich zu decken, Verantwortung und Schuld auf ihn. Keiner war in der Geschichte der Monarchie, der Ähnliches vollbracht hatte. Aus Eckartsau ging er ärmer als alle. Siebenundvierzig Dienstjahre waren um.

 

Im Westen war aus dem Angriff längst Verteidigung geworden. Dreimal hatten Hindenburg und Ludendorff den Durchbruch versucht. Nach Anfangserfolgen war er das drittemal völlig gescheitert. Dreimal hatten sie Situation und Gegner verkannt. Jetzt überschwemmten Fochs Heere, jetzt überschwemmten die Tankgeschwader des Marschalls den Kampfplatz. Länger als drei Jahre hatten Volksmeinung und Volksbegeisterung dem Dioskurenpaar Hindenburg und Ludendorff den Kredit eines Ruhms gewährt, dessen wahre Wiege und dessen fast einziger Anlaß in Ostpreußen lag. Sie hatten Ehren auf sie gehäuft, als sie die schon beschlossenen Pläne gegen Rumänien ausführten, sie hatten Glanz auf sie geschüttet, als der neue Angriff von Zborow die alten Bleistiftskizzen Conrads gegen einen waffenmüden Gegner spät belebte, die Fanfaren hatten weiter geschmettert, als von Riga die russischen Divisionen fast ohne Kampf entliefen. Aber die Geschichte besteht auf Logik und ist unbarmherzig in ihrer Bestätigung durch die Wirklichkeit. Was im Westen stand, war nicht zu zerreißen. Was dem Feinde nicht zu zerschlagen gelang, war das deutsche Volk und das deutsche Heer. Wille, Heldentum und Kraft der deutschen Massen waren nicht zu zerbrechen. Sie wichen zwar: Schritt um Schritt vor Übermacht und Tanks, sie fielen nicht. Versagt aber hatte der Geist: das Ingenium der Führer. Zu versagen drohte der Glaube an sie im Hinterland. Und da die erste dämmernde Erkenntnis davon auch in Deutschland aufkam, trat auch schon ein anderes Ereignis ein. In Bulgarien brach die Balkanfront.

 

Noch in Villach, in der Einsamkeit selbstgewählter Verbannung, erschrak Conrad von Hötzendorf tief. Erinnerungen stiegen auf. Der serbische Feldzug von 1915 war zu Ende. Er forderte damals den Marsch nach Saloniki. Ihn störte das Heer Sarrails vor Saloniki. Wer bürgte dafür, daß es nicht eines Tages die Linie durchbrach und die Front der Mittelmächte in der Flanke aufriß? Wer konnte verhindern, daß die Entente sich nicht eines Tages zu einer großzügigen Offensive von Saloniki her entschloß? Wer wollte es ihr verwehren, im Hafen von Saloniki Truppen auf Truppen zu landen. Wenn das Vorderhaus der Front auch sicher war, das Hinterhaus mußte ebenso sicher sein. Es war nicht alles, daß man im Vorderhaus wachte. Auch durch das Hinterhaus konnte man eindringen. Geschah es einmal, daß die bulgarische Front niedergerissen wurde, dann war das Unheil unabsehbar. Es war um so verhängnisvoller, je weiter der Krieg fortschritt, je stärker der Truppenverbrauch geworden war. Marschierte ein Ententeheer über Bulgarien durch Ungarn ein, dann stürzte die Monarchie in Trümmer. Dann war zuletzt selbst Deutschlands Flanke bedroht: dann war der Krieg mit Schrecken zu Ende. Und die Bulgaren waren mit wildem Haß, mit dem Hohn der Genugtuung, mit törichter Schadenfreude vom Bündnis abgefallen. Falkenhayns Geist ging um. Welchen Sinn hatte eine Politik beständigen Anstoßes gehabt? Was hatte man damit verfolgt? Wo war denn die Einsicht der Plesser Generale gewesen, einen Geist aufkommen zu lassen, daß sich Bulgaren und Deutsche bei Nisch schließlich in Gefechtsstellung gegenüberstanden? Die störrischen, harten Bulgaren waren vorsichtiger zu behandeln als irgendwer. In die Einheit des Vierbundes war ein bedenklicher Riß gekommen. Machte die deutsche Militärpolitik aus dem Riß einen Spalt, so drang durch ihn doch noch einmal der Feind ins Land. Es gab dann sehr einfache Ergebnisse: der Vierbund war dann gesprengt. Die Monarchie zertrümmert. Deutschland eingekreist. Und gleich darauf zerschmettert – –

 

Jetzt war die Ernte wirklich reif zum Schnitt. Denn die Systeme hatten sich ergänzt: Die Politik der deutschen Generale mit dem neuen Kurs der Monarchie. Über Kleinlichkeiten hatte der neue Kaiser Karl, da ihm selbst das Kleinliche innewohnte, nicht hinwegsehen können. Er übersah das Große. Im Innersten war der Bund längst zerfallen. In Deutschland herrschte eine Klasse. In der Monarchie eine Clique um Karl. Die deutschen Generale, der rücksichtslose deutsche Ton hatten mit dem Zerwürfnis dereinst begonnen. Der knabenhafte Karl hatte das Echo aufgenommen. In Deutschland bestimmten den Ton zuerst die Schreier und die Lärmer. In der Monarchie fingen die Höflinge dann den Kaiser ein, hochmütig und beschränkt und Gift im Sinn. Selbstberauscht, unwissend, in Überhebung hatte die Menge in Deutschland sich am System gefreut; gedankenlos, die skeptisch perfiden Scherze stets bereit, sah in der Monarchie die Menge zu. Der Kaiser aber hatte alles gelockert, alles gelöst, er hatte das Erbe verwirtschaftet. Vielleicht war er ein fürstlicher Nihilist. Vielleicht hatte er auch nur eine kostbare Maschine übernommen, daran er kindlich die Schrauben drehte und die Räder zernahm, bis die Maschine auseinanderfiel. Völlig verlor er jetzt Haltung und Kopf. Niemand war in seiner Garde, der noch an Rettung dachte, die Rettung wenigstens noch einmal versuchen wollte. Jetzt horchte Karl nach seinen Feinden. Minister kamen, Minister stürzten, sie wurden weggeweht. Der Staat gab sich verloren, da er dem Feind die eigene Zukunftsbestimmung gewährte. Den Staat vermeinte Kaiser Karl noch zu halten, da er die Völker aufrief, die Selbsteinrichtung zu bestimmen. Aber gerade dabei ging der Staat endlich aus den Fugen. Noch sausten Karls Hofzüge in alle Richtungen. Aber die Hofzüge jagten jetzt schon durch Wirrsal und Flucht. Karl von Habsburg war bald am Ziel. Die österreichisch-ungarische Monarchie war jetzt gestorben. Karl von Habsburg hatte zwei Jahre lang ihr Grab geschaufelt.

Draußen aber an der Front – ein unbegreifliches und betäubendes Schauspiel – stand immer noch die österreichisch-ungarische Armee. Sie stand und kämpfte, indes ihr Staat gestorben war, nicht anders, wie am ersten Tage. Kroaten warfen den Gegner zurück. Es waren Italiener, Engländer, Franzosen. Ungarn und Deutsch-Österreicher wehrten sich verbissen. Eine Division der wunderlichen Tschechen schlug sich in beispielloser Haltung. Die Völker der Monarchie zerfielen in Reiche für sich, der Umsturz zertrümmerte alle Schranken. Aber Italiener, Engländer, Franzosen vermochten die Front nicht zu zerbrechen.

Endlich gab Ungarn ein Zeichen. Es rief die Truppen aus der offenen Schlacht. In Bozen erließ Conrads Nachfolger, Josef von Habsburg, der kaiserliche Prinz, der in der Piaveschlacht allein nicht hatte stehenbleiben können, die feierliche Ansage, daß er, der Ungar, seine Divisionen in die Heimat führen wolle. Umsonst beschwor ihn sein Stab, den Aufruf nicht hinauszugeben. Er ließ sich nicht hindern. Da warfen die Ungarn die Gewehre fort. Sie zogen ab. Der Riß zweier Divisionen klaffte in der Front. Ablösung bekam die tschechische Division, die seit Tagen und Nächten unerschütterlich im Feuer stand. Aber ihre tschechischen Brüder kamen mit den Nationalkokarden, die der Kaiser erlaubt hatte. Kämpfen wollten sie nicht mehr. Nur die Kokarden hatten sie den Brüdern gebracht. Jetzt gingen die beiden tschechischen Divisionen nach Hause. An der Piave fochten die Ungarn, Kroaten und Tschechen nicht mehr. Die Schützengräben wurden verlassen. Den Frontkommandanten hatte am 30. Oktober – mit Kaiser Karls Wissen – das Armeeoberkommando den Befehl erteilt, die Truppen abstimmen zu lassen, ob sie für die Monarchie oder für die Republik sich entscheiden wollten. Die Truppen riefen, da man sie fragte, die Republik aus. Die meisten Kommandanten verschwiegen den Befehl. Die Italiener begannen den ersten Vormarsch ihres Kriegs. Sie kamen bis nach Innsbruck. Die Flotte in der Adria aber hißte das Kroatenbanner. Die Italiener liefen ein.

Und jetzt standen die Alliierten am Ziel. Bulgarien war gefallen. Die Monarchie war gefallen. Die Türkei mußte fallen. Das Ende war auch für Deutschland nahe. Ein Jahrzehnt und länger hatte die Allianz gegen die Mittelmächte gewühlt, hatte sie unterminieren und zerreißen gewollt. Hatte Sendboten geschickt, den Aufruhr der Nachbarn unterstützt. Aber jetzt waren die Alliierten am Ziel. Vielleicht hatten die Mittelmächte in Selbstwehr einen Präventivkrieg, den Schutzkrieg gewagt, dem nicht zu entrinnen war, da keine Reizung ausblieb. Aber jetzt durften die Alliierten sagen, daß bei den Mittelmächten dennoch allein die Schuld am Kriege lag, und daß Deutschlands Schuld Bestrafung heische. Ein Jahrzehnt und länger hatten sie an der Zertrümmerung der beiden Reiche gearbeitet. Aber jetzt durften sie die Lieder der Freiheit und Gerechtigkeit vergessen, mit denen sie bis zuletzt gelockt, und sie durften Gesetze und Bedingungen schaffen, die bisher die Geschichte der Menschen nicht verzeichnete, aber die Geschichte der Menschlichkeit buchte. Zuletzt mußten die Geschlagenen selbst die Schuld bekennen, die nicht halb so groß war, wie die schwer greifbare Schuld der Alliierten, und die herausgefordert war von der Schuld des Restes der Menschheit. Ohne Urteil, aber im Rausch waren die Geschlagenen zuerst mit ihren Generalen gegangen: jetzt bekannten sie, täglich, stündlich, sinnlos und ohne Wissen, was man von ihnen wollte. Denn sie waren die Besiegten. Sie waren die Verquälten. Die Ausgehungerten. Und die Würde entsank ihnen. Nicht die Waffen der Welt hatten sie besiegt. Systeme hatten sie gestürzt. Nicht nur die Politik der Macht, diese erwachende Gier des Hungrigen, der die Tische der Welt gedeckt sieht und nach allen Schüsseln greift, hatte sie im Kriege selbst an den Abgrund gedrängt. Noch mehr hatten die Generale verfehlt. Denn sie hatten nicht gehalten, was sie versprochen. Sie hatten erst Großmannspolitik getrieben, die zur Zersprengungspolitik wurde. Sie hatten dann Fernpolitik getrieben, und vergaßen darüber Zeit, Linien und Richtung des Schlagens. Die stärksten, todesmutigen Heere der Erde, das stärkste, kühnste, opferbereiteste Volk der Erde hatte den Krieg durchlitten unter Führern, die mehr schienen, aber weniger waren. Der Geist blieb hinter Fanfaren zurück. Die Mittelmäßigen hatten sich selbst als Genies verschrien. Das Volk hatte es geglaubt, hatte ihnen zugejubelt: Aber einmal siegten die wirklichen Maße. Einmal war das Spiel zu Ende. Die Siegesglocken von Tolmein hatten Heimfahrt in den Hafen oder Schiffbruch eingeläutet. Vor Saloniki läuteten dann schon Totenglocken. Zuletzt zerriß das deutsche Volk im Übermaß des Zorns, im Gram blitzüberleuchteter Erkenntnis das eigene Heer. Zerbrach den Schutz der letzten Waffen. Das Spiel war aus. Dies war der Weg zur Katastrophe.

Das Chaos war vor allen Türen, das eine neue Welt gebären sollte. Und durch die Straßen zog die Revolution.

 


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