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Die Politik des Krieges

Im Anfange des Jahres 1916 konnten sich die Generale Falkenhayn und Conrad, wenn sie im Rückblick überschauten, was im Osten und Südosten von den verbündeten Truppen geleistet worden war, Gefühle der Genugtuung nicht verwehren. Aber im erzherzoglichen Schlosse zu Teschen, darin ihm der Armeeoberkommandant Erzherzog Friedrich neben den eigenen Gemächern die Wohnräume hatte einrichten lassen, schlief Freiherr von Conrad, auch wenn die Schildwachen nicht vor seinen Fenstern stapften, dennoch wenig und schlecht. Immer noch drückte ihn Sorge: neue Sorge, stärker denn je. Sein männlicher, leicht ergrauter Kopf war allmählich ein Haupt mit weißem Haar geworden. Die großen Augen, unter denen die Linien des Gesichtes fast verblaßten, beherrschten zwar alles. Aber sie zeigten den Glanz nie unterbrochener Arbeit, und restlose Befriedigung durchhellte sie nur selten. Conrad hatte sich nie zu den Optimisten gerechnet. Der Weg durch diesen Krieg, der für ihn ein unvermeidlicher Zusammenstoß von Völkerschicksalen war, schien noch nicht zur Hälfte beschritten. An Triumpheinzüge durch das Berliner Brandenburger Tor und über die Wiener Ringstraße glaubte er nur mit Vorbehalt. Es war sicher, daß man für Deutschland und die Monarchie wenigstens das Leben retten konnte. Er hoffte es nicht bloß, noch war er davon überzeugt. Bisher gerieten die Erfolge nach den schweren ersten Enttäuschungen des Jahres 1914 alle groß. Die Kraft der Gegner unterschätzte er nicht. Ihr technisches Material, die Hilfe einer ganzen Welt, die Fähigkeiten ihrer Führer wogen schwer. Für die Nerven und Methoden eines Marschall Joffre hatte er nur Bewunderung. Die Kaltblütigkeit von Generalen, wie Iwanow oder Ruski oder Brussilow, nötigten ihm Achtung ab. Die Russen hatten sich tapfer und zäh, Franzosen und Engländer glänzend, die Serben hatten sich erbittert geschlagen. Die Mittel der Gegner erschöpften sich nicht leicht, sie erschöpften sich überhaupt nicht, wenn man ihnen Zeit zur Erholung ließ. Aber zwei Möglichkeiten gab es, die Gunst des Kriegsausgangs zu erzwingen: Eile und Fähigkeit. Als selbstverständlich blieb dabei vorausgesetzt: unbedingtes Zusammenstehen, unbedingtes Füreinanderstehen aller Kämpfenden im Bunde. Aber manchmal blickten gerade bei solcherlei Gedankengängen die strahlenden Augen Conrads trüber. Seine Lippen bekamen einen bösen, verärgerten Zug.

Denn das Zusammenarbeiten mit dem Bundesgenossen hatte er sich doch eigentlich anders vorgestellt. Er hatte an engstes Zusammenwirken, an eine Verständigung von Tag zu Tag zwischen beiden Hauptquartieren gedacht, auch wenn die beiden Heeresleitungen voneinander unabhängig waren. »So steht die Sache heute bei uns – wie sieht es bei euch aus?« Aber das deutsche Hauptquartier pflegte von Anbeginn andere Grundsätze. Das ursprüngliche Abkommen über ein gemeinsames Vorgehen der deutsch-österreichisch-ungarischen Heere im Osten war von der deutschen Heeresleitung zunächst ganz gebrochen worden. Dann hatte sie wohl Truppen nach dem Osten geschickt: indes lediglich zum Schutze deutscher Interessen. Hindenburg hatte in Polen getan, als bestünde ein österreichisch-ungarisches Hauptquartier überhaupt nicht. Als aus seiner Erwartung eine Niederlage geworden war, mußte er Österreicher und Ungarn ihrem Schicksal überlassen. Diese Zwischenfälle verliefen noch glimpflich. Denn Freiherr von Conrad glich sie aus. Aber schlimm war, schlimm blieb, immer schlimmer wurde die geradezu merkwürdige Haltung, mit der die Oberste deutsche Heeresleitung im verbündeten Reich eine offenkundig schroffe und überhebende Stimmung gegen den österreichisch-ungarischen Bundesgenossen nicht nur nicht zu entkräften suchte, sondern durch müßiges Zusehen noch stärkte. Schlimm war – mitten im Kriege – eine Politik, die immer deutlicher Eitelkeitszwecke zu verfolgen begann.

Noch konnte man nicht sagen, daß die Oberste deutsche Heeresleitung in ihren Berichten Unwahrheiten ausstreute. Aber so groß war die Unaufrichtigkeit doch schon, daß sie halbe Schritte zur Lüge gestattete. Sie hörte ruhig zu, daß in den Berliner Straßen der Fall von Lemberg mit deutlicherer Betonung ausgerufen wurde, als nötig war. Sie behauptete nicht, an der Marne und in Ostpreußen siegreich gewesen zu sein. Aber indem sie die schwere Niederlage an der Marne und die schwere Niederlage der Armee Prittwitz vollkommen verschwieg, begnügte sie sich damit, daß man lediglich von einer Niederlage der Österreicher etwas wußte. Es gab in dem neuen Koalitionskriege hundert Beispiele der Unaufrichtigkeit, die in Wahrheit bestand, aber doch in Wirklichkeit nie zu fassen war. Wenn die Oberste deutsche Heeresleitung verkündete, daß nunmehr an der Seite des Bundesgenossen die ganze »Kaiserlich deutsche Südarmee« in den Karpathen stünde, so war das gewiß richtig. Nur daß die Hälfte aus österreichisch-ungarischen Truppen bestand, verschwiegen die Hilfsbereiten. Die Jubelhymnen über die Tapferkeit der Armee Linsingen fanden dabei keine Grenzen. Die deutschen Zeitungen führten einen Ruhmesfeldzug für die Kaiserlich deutsche Südarmee allein. Aber man vergaß hinzuzufügen, daß gleichwohl der General von Linsingen nicht um einen Schritt vorwärtskam, indes die gering geschätzten österreichisch-ungarischen Nachbarn links und rechts trotz schwerster Kämpfe recht kräftig ausschritten. Hier kam es nicht an auf Eifersüchteleien: die Haltung der deutschen Generale erwuchs der Bundesgenossenschaft, den Endzielen des Bundes zu schwerer Gefahr.

Nicht den Soldaten Conrad: den Psychologen und Staatsmann beängstigte eine Politik der Ränke. Die deutschen Generale wußten, daß die Märchen nicht stimmten, die das Hinterland erzählte. Aber vollends, als der General von Falkenhayn im deutschen Hauptquartier den Ton bestimmte, begann das Verhältnis kaum mehr erträglich zu werden. Er vergaß seine diplomatenhaften Allüren bisweilen ganz, der preußische Junker wurde stärker als der Diplomat. Freiherr von Conrad fand, daß sich bisweilen selbst die deutschen Truppen, wenn über allzu bedrängte Bruchteile plötzlich eine Panik hereinbrach, durchaus so benahmen, wie alle panikergriffenen Menschen. Er fand, daß letzte Menschlichkeiten sich nur selten nach besonderen Armeen und besonderen Nationen stuften. Aber Freiherrn von Conrad zählte der General von Falkenhayn, wenn er nur davon wußte, jede österreichische oder ungarische Kompagnie auf, die im Schreck davongerannt war. Er überbot sich in der Verunglimpfung von Truppen, von denen er sehr wohl urteilen konnte, daß sie den seinen ebenbürtig waren. Ja, dem General von Falkenhayn war es durchaus unerwünscht, als Kaiser Wilhelm eines Tages, vom Bevollmächtigten des Armeeoberkommandos spontan eingeladen, auch verbündete Infanterie und verbündete Artillerie besuchte. Denn als er die Truppen das erstemal wirklich im Gefecht sah, öffneten sich ihm plötzlich die Blicke für Soldaten, von denen ihn der jetzt entrüstete Falkenhayn bisher geflissentlich ferngehalten hatte. Und Falkenhayn setzte nicht nur die verbündete Truppe herab. Falkenhayn hatte auch stets die besseren Generale. Aber der rücksichtslose Junker, der das gefährliche Spiel der Rivalitäten entfacht hatte und offenbar der Spitze zutrieb, beruhigte sich damit keineswegs. Die Verschleierung, hinter der die Oberste deutsche Heeresleitung Conrads grundlegenden Anteil an den Operationen von Tarnow und Gorlice restlos verwischte, stellte einen Vorgang dar, der merkwürdig auch als Zufall blieb. Denn nie hatte die Oberste deutsche Heeresleitung Spuren von Zerstreutheit gezeigt. Aber jetzt war, wenn man schon nichts anderes annehmen wollte, die Zerstreutheit in Pleß doch plötzlich so groß geworden, daß man vor einem gewaltigen Ereignis, gleich dem Maidurchbruch von 1915, den Schöpfer seiner Grundpläne völlig übersah. Conrad hatte Falkenhayn vor Gorlice das Wort zugerufen: »Wer das gemacht, wer jenes, darauf kommt es nicht an.« Der Glanz von Gorlice mochte ruhig auf Falkenhayn fallen. Selbst den Versuch dazu, den Ruhm der Tat in bestimmter Richtung zu lenken, konnte Conrad ohne weiteres übersehen, soweit es ihn selbst betraf. Aber all die peinlichen, sonderbaren Umstände, mit denen der Lenker der deutschen Geschicke und sein Generals anhang im deutschen Hauptquartier, nicht immer wahrheitsgetreu im kleinen, nicht immer wahrheitsgetreu im großen, zugleich die Stimmung aller verbündeten Länder beeinflußte, bekamen als Gesamterscheinung längst den Charakter einer unheilvollen, kurzsichtigen Politik.

In der Vorbereitung des serbischen Feldzuges hatte der General von Falkenhayn gezeigt, daß er ein wesentlich besserer Diplomat als Generalstabschef war. Jetzt zeigte es sich, daß er ein geschickter Diplomat mit unglücklichen politischen Instinkten war. Zwischen Diplomatie und Politik schien auch er eine scharfe Trennung zu ziehen. Er beherrschte alle Formen ohne großen Horizont. Er verfolgte eine Politik beständigen Anstoßes. Sie hatte kein nützliches Ziel. Wurden dadurch die Fehler der deutschen Führung besser? Für den Ruhm des deutschen Feldheeres brauchte sich kein besonderer Sprecher zu erheben. Der Ruhm des deutschen Feldheeres war sichtbar und fleckenlos in aller Welt. Bessere Soldaten, bessere Offiziere, bessere Unterführer hatte niemand. Fähigere Oberleitung hätte mit dem deutschen Feldheere den Krieg vielleicht sogar schon beendigt. Aber glaubte man das Bündnis zu festigen, wenn man täglich erzählte und erzählen ließ, wie militärisch minderwertig – obgleich man. das Gegenteil wußte – die Bundesgenossen waren? Und hatte es einen Sinn, solch mehr als merkwürdige Bundesauffassung auch noch auf die anderen Verbündeten zu übertragen? Mußte man über die stillen, vornehmen Türken, über den »einzig wahrhaften Gentleman des Ostens« nach Helmut von Moltkes Wort, dessen Geist im neuen deutschen Generalstab nicht mehr zu Hause war, bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit hochmütig die Achseln zucken? Die Türken gaben keinen Anlaß, denn auch sie starben nicht schlechter als die Deutschen. Wo war nur die Einsicht der Plesser Generale, einen Geist aufkommen zu lassen, daß sich Bulgaren und Deutsche schließlich bei Nisch in Gefechtsstellung gegenüberstanden? Koalitionskriege hatten Reibungen immer gebracht. Aber im Vierbund kamen die Reibungen doch immer und ausschließlich nur von einer einzigen Seite. Sie kamen nicht so sehr und nicht ursprünglich vom deutschen Volke, sie kamen zunächst von einer obersten Kaste, die es mit der Wahrheit erst nicht sehr genau, dann immer ungenauer nahm, die jetzt auch schon fremdes Ingenium, da sie aus eigenem nicht allzuviel geboten hatte, einfach als eigenes ausgab, und in der Armee dabei die schroffste Selbstüberhebung im Verkehr mit allen Bundesgenossen, in der Rückwirkung auf das Volk dort unrichtige Anschauungen, ungerechte Urteile züchten mußte. Wer bürgte dafür, daß nicht eines Tages selbst der ritterliche, nur in den Anekdoten fescher Wiener vergreiste Franz Joseph genug an der Überhebung hätte? Oder daß später der junge Herr, wenn Franz Joseph stürbe, die Anmaßung zu übernehmen gewillt sei? Auch die Türken hatten vielleicht nicht die Absicht, die Langmut des Orients zum Dauerprinzip zu erheben. Die störrischen, harten Bulgaren aber waren erst recht vorsichtiger zu behandeln, als irgendwer. Indes suchten die deutschen Obergenerale ausschließlich einen Glanz deutscher Waffen, der alle anderen Waffen überstrahlen sollte, und mehr noch den Glanz der eigenen Taten. Sie verfärbten rundum den ganzen Horizont. Wie sollte das Zusammenarbeiten weitergehen? Wie sollten sich so die vier Kampfkameraden auf die Dauer füreinander opfern wollen? In die Einheit des Vierbundes war ein bedenklicher Riß gekommen. Machte die deutsche Militärpolitik aus dem Riß einen Spalt, so drang durch ihn doch noch einmal der Feind ins Land. Es gab dann sehr einfache Ergebnisse: der Vierbund war dann gesprengt. Die Monarchie zertrümmert. Deutschland eingekreist. Und gleich darauf – zerschmettert. Der Staatsmann Conrad vertrat bedrückt die Ansicht, daß die deutschen Generale – und mit den Generalen die deutsche Öffentlichkeit – doch ein wenig mehr über derlei Dinge nachdenken sollten.

Aber er war machtlos, wo immer es sich um eigentlich selbstverständliche Fragen von Takt und Form handelte. Es blieb nur übrig, das Äußerste zu vermeiden, um den Endzweck nicht zu gefährden. Die Kraft sollte niemand ihm später absprechen können, daß er über Mißhelligkeiten, über Prestigefragen nicht immer den Endzweck im Auge behalten hätte. Der Endzweck war das Lebensrecht. Nur an Deutschlands Seite war er für die Monarchie, nur an der Seite der Monarchie für Deutschland zu erreichen. Conrad brauchte die Oberste deutsche Heeresleitung genau wie die deutsche Heeresleitung ihn brauchte. Von der Masse ihrer Truppen war er abhängig. Auf Fragen der Empfindlichkeit konnte er sich also, sooft ihm auch Gelegenheit dazu geboten wurde, nicht einlassen. Ohne eine von vornherein gesicherte Betonung deutscher Großtaten, selbst dort, wo dem Verbündeten gleicher Anteil gebührt hätte, gab es überhaupt keine Truppen. Die herrlichsten Pläne, die geistvollsten Ideen waren zwecklos, wenn das Instrument nicht reichte, das die Idee in die Tat umsetzte. So großsprecherisch, so ruhmredig, so eigensüchtig das System der Falkenhaynschen Glanzverteilung auch war: mit Truppen half Falkenhayn. Schließlich waren sie doch in den Karpathen erschienen. Falkenhayn hatte die Armee Mackensen zur Durchbruchsschlacht geschickt. Conrad stellte sich über die Situation. Wenn diese ganze Falkenhaynsche Methode nur das Kriegsende nicht gefährdete, weil sie die Anmaßung der Generale noch keineswegs durch eine überwältigende Begabung ausglich, wenn sie das Zusammenwirken nicht ganz ausschaltete, so sollten Manieren allein in einen Kampf auf Leben und Tod nichts entscheiden. In der Hauptsache war bisher doch geschehen, was Freiherr von Conrad gewollt, gebaut und ersonnen hatte. Um die Sache ging es, um die Sache rang er: die Sache hatte sich bisher durchgesetzt. Die Größe schenkte der Freiherr jedem gern, der sie haben wollte: wenn man ihn nur arbeiten ließ. Überdies – im innersten Wesen war er deutsch. Seine Heimatstadt Wien war deutsch, seine Herkunft war deutsch, seine Erziehung war deutsch. Der große deutsche Stamm, die sichtbare deutsche Tüchtigkeit erfüllte ihn fast mit Ehrfurcht. Ein paar Vertreter allzuoft betonter und allzu weit getriebener Selbstüberzeugung konnten ihm die Hingabe an Deutschland nicht zerbrechen. Er arbeitete so gut für Deutschland, das der Waffengefährte der Monarchie war, wie für die Monarchie. Freilich konnte niemand behaupten, daß wenigstens die Monarchie ihm das Arbeiten leichter machte, als die Ausstrahlung von Falkenhayns Geist im Hauptquartier zu Pleß.

In der Monarchie feierte die Menge, feierten die Zeitungen Hindenburg, den Falkenhayn seit geraumer Zeit kaltgestellt hatte, oder sie feierten Mackensen, der soeben erst Serbien scheinbar glorreich bezwungen hatte. So gründlich hatte Falkenhayns Methode die Österreicher und Ungarn bereits gegen sich selbst begeistert. Es war nur die Frage, wenn sie aufwachten. Die Wissenden in der Monarchie erkannten zwar auch nicht recht, was die eigene Armee und wer Conrad von Hötzendorf war. Aber die Wissenden empfanden es jedenfalls unbequem, daß Conrad von Hötzendorf überhaupt da war. Denn wenn er auch den deutschen Generalen nichts befehlen konnte: in der Monarchie schaffte er vorläufig noch durch unverblümten, kommentarlosen Befehl, was ihm zum Kriege nötig schien.

Aber in Wien saß der Ministerpräsident Graf Stürgkh als ein Gewaltherr über Österreich. Er liebte es nicht, daß man in seine Macht einsprach. In Wien gab es noch immer einen Ballplatz. Im Teschener Hauptquartier schloß sich das Armeeoberkommando fast hermetisch ab. Freiherr von Conrad war für Arbeit ohne Störung. So waren Besuche hoher Herren in dem Gymnasialgebäude, wo Conrad im »Lehrsaal für Geographie« arbeitete, wo die Hughesapparate Tag und Nacht an die Front hinausspielten, nicht gern gesehen. Wenn der Chef des Generalstabs arbeitete, wurden selbst solche Besuche nicht angenommen, deren Empfehlungsschreiben kein anderer zu übersehen gewagt hätte. Wenn der Chef des Generalstabs arbeitete, saß bisweilen selbst der Armeeoberkommandant, Kaiserliche Hoheit, geduldig eine Stunde lang, auch zwei, und wartete, bis der Generalstabschef im Schloß erschien, damit Erzherzog Friedrich dann, was Conrad ihm unterbreitete, unterschreiben konnte. Oft genug fuhren die Einflußreichsten, die sich für ihre Sonderanliegen gerade durch persönliches Erscheinen viel versprochen hatten, überhaupt unverrichteter Sache ab. Andererseits sprach am Wiener Ballplatz und im Wiener Ministerium des Innern häufig das Armeeoberkommando vor. Denn vielfach war es die Staatsrücksicht, die der Feldherr nehmen mußte, vielfach die politische Vorsorge, die der Kriegslenker treffen mußte, vielfach die Anforderung an den Staat, die der Kriegslenker erheben mußte. Wenn das Königreich Serbien soeben von österreichisch-ungarischen Truppen besetzt war, wünschte der Chef des Generalstabs zu wissen, mußte der Chef des Generalstabs wissen, ob der Minister des Äußeren an einen dauernden Erwerb Serbiens oder an eine Rückgabe nach dem Kriege dachte. Denn der Chef des Generalstabs hatte die vorläufige Verwaltung je nach der bestehenden Absicht verschieden einzurichten. Wenn dem Chef des Generalstabs auffiel, daß die tschechischen Truppenergänzungen aus verschiedenen Bezirken ihrer Heimat mit verschiedener Stimmung an die Front kamen, daß sich die ursprünglichen tschechischen Verbände dagegen – eine Isonzoschlacht hatten sie unmittelbar entschieden – fast ausnahmslos prachtvoll geschlagen hatten, wenn der Chef des Generalstabs die Ursachen der Zersetzung daher schon im Hinterland bekämpft wissen wollte, so wandte er sich an den Grafen Stürgkh. Wenn der Graf Stürgkh dann von Halluzinationen des Armeeoberkommandos erzählte, und den schwerbelasteten, ungekrönten Böhmenkönig Kramarz mit doppelter Liebenswürdigkeit bekomplimentierte, blieb dem Armeeoberkommando nichts weiter übrig, als unzweideutig selbst auf der Aushebung und Ausschaltung der Zettelungen beim Ministerpräsidenten zu bestehen, denn sie griffen unmittelbar in die Reichssicherheit über, um die der Freiherr von Conrad rang. Der Minister des Äußeren fand die angeregte serbische Frage heikel und nannte sie Einmischung in die äußere Politik. Und der Ministerpräsident fand die tschechischen Bedenken des Chefs des Generalstabs nicht minder heikel und nannte sie eine Einmischung in die innere Politik. Aber damit waren die Grenzlinien zwischen Politik und Kriegführung noch nicht erschöpft. Das Kriegsland Galizien, darin noch immer zum Teil die Front lag, hatte reichlich Nahrungsmittel. Wer den angemessenen Teil herausgab, hatte nichts von einem Standrecht zu fürchten. Wer sie verbergen wollte, wurde durch die Strenge abgeschreckt. Gutwillig gab niemand in Galizien Nahrungsmittel her. Conrads ganze Art liebte die Härte nicht: aber er war nie schwach, um nicht hart zu sein. Wenn er freilich dann Strenge und Standrecht für Galizien forderte, lärmten aufgebracht alle Polen. Darin waren der Minister des Äußeren, der Minister des Inneren, die Polen – darin waren alle einig: Conrad ließ sich Einmischung über Einmischung zuschulden kommen.

Unwirsch meinte, als der Freiherr sich einmal nach dem Vortrag verabschiedete, eines Tages selbst der alte Kaiser: »Das Oberkommando regiert jetzt in Österreich.« Die Minister hatten Klage geführt. Aber Freiherr von Conrad blieb ungerührt: »Es ist gut, daß das Oberkommando regiert. Lassen es Majestät nur so.« In einer polyglotten Monarchie, für die Freiherr von Conrad Zukunftsvorstellungen hegte, die fast den Föderativstaat »in einem feierlichen Einvernehmen« anstrebten, war eine rücksichtslos ordnende, feste Hand unerläßlich, solange die Monarchie im Kriege stand. Immer war ihre innere Politik schwach, immer waren die Vorherrschaftswünsche in verkapptesten Formen laut, fast immer waren die Beschwichtigungsminister, die Vertuschungsminister blind und einseitig gewesen, wie nur noch der Freiherr von Aehrenthal. Nahe Vergangenheiten tauchten vor Conrad auf: ihr Abschluß war der Krieg. Aehrenthalsche Verkennungen, Aehrenthalsche Fahrlässigkeiten aus beschränktem Eigensinn durften sich jetzt nicht mehr wiederholen. Jetzt war schon gar nicht die Zeit dazu. Conrad hatte die größte Verantwortung: er forderte das Recht, im Wichtigsten überall mitzureden. Auf Gebieten, die sich auf militärische Dinge bezogen, ließ er überhaupt keinen Einspruch zu. Auf Gebieten, die unvermeidlich mit der Sicherheit von Reich und Heer zusammenhingen, verlangte er, ob sie die Einflüsse eine Irredenta, ob sie Kundschafterdienste an den Feind, ob sie die Ernährung der Armee betrafen, Mitspruch für das Armeeoberkommando. Im übrigen mochten die Minister tun oder lassen, was ihnen beliebte. Im übrigen mochten sie über eine Regierung des Armeeoberkommandos zetern und schreien. Er tat, was er für richtig hielt. Niemand konnte sagen, daß er etwas für sich tat. Er duldete auch nicht, daß irgendein Glied des Armeeoberkommandos etwas für sich selber wollte. Was geschah, geschah aus Staatsnotwendigkeit. Der Feldherr mußte zugleich Politiker, zugleich auch Staatsmann sein.

Das Armeeoberkommando mußte eine Macht üben, die sachlich war und unpersönlich. Conrad duldete keine Kaste, die nur sich selber, um den Titel des Herrschens zu finden, mit allem Glanz bestrahlte. Er richtete im eigenen Haus nicht auf, was ihm im Nachbarhaus mißfiel, und was er drüben als eine Gefahr für alle erkannte. Aber für ihn gab es eine begründete Macht der Vernunft auf einem Raum, auf dem er verantwortlich war. Jeden Augenblick war er bereit, die Macht aus seiner Hand zu legen. Mehr als einmal schon hatte er verzichtet. Aber keiner konnte Krieg führen ohne Macht. Im Völkerwirrsal dieser Monarchie war Macht der einzige Rahmen. Macht allein faßte sie zusammen zur Kraft. Macht allein gestatte hier eine Politik der Selbsterhaltung. Freiherr von Conrad bestand darauf, die Macht in seiner Hand zu halten. Technisch führte er durch sie den Krieg. Aber darauf allein kam es nicht an, Soldaten aus den Kronländern zu nehmen, wie Bleisoldaten aus den Spielzeugschachteln und sie marschieren zu lassen. Es gab eben auch eine innere Front, die mitkämpfte, indem sie aushielt, die beherrscht und nutzbar gemacht werden mußte, wie die Außenfront. Unmittelbar liefen beide Fronten ineinander. Der Feldherr, der in diesem Krieg den Sieg erhoffte, mußte zugleich Politiker und Staatsmann sein, sonst verlor er den Krieg. Die Dreifaltigkeit galt nicht nur für den Freiherrn von Conrad; sie hätte auch für den General von Falkenhayn gegolten. Aber wenn er an die Methoden dachte, durch die die Geister von Pleß und Wien und Budapest freilich die Innenfront stets aufs neue und von jeder Bundesseite her anders, doch alle gleich unbelehrbar anrannten und erschütterten, so schlief der Politiker und Staatsmann Conrad schlecht.

Zehnfach eilig mußte am Morgen, um einen Ausgleich zu schaffen, um das Kriegsende vor den Früchten der Kriegspolitik reifen zu lassen, der Feldherr Conrad arbeiten.


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