Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[II. Teil]
Der Weg zur Katastrophe

Zur Vorgeschichte

Am Wiener Ballplatz kam Freiherr von Aehrenthal im Spätoktober des Jahres 1906 von weiter Reise an. Das Barockhaus mit der mattgrauen, zurückhaltenden Fassade, das Maria Theresia gnädig dem erfahrenen Kaunitz eingerichtet hatte, die Arbeitsräume hinter den hohen, spiegelnden Fenstern, darin eine ganze Weile nach dem eleganten, listigen Metternich der bewegliche Andrássy seine ersten Orientpläne gesponnen, den ersten Dreibundvertrag untersiegelt hatte – und Kálnoky dann bei der Erneuerung über die Freigebigkeit Bismarcks an Italien stöhnte –, die tiefen Archive hinter vergitterten Parterrescheiben, wo die Schicksale der alten Monarchie stumm, Regal an Regal, in verstaubten Pappschachteln ruhten, betrat Aehrenthal nunmehr als Herr. Graf Goluchowski hatte das Haus gestern in Unlust verlassen. Er war ein Mann gewesen, der es niemals liebte, verblüffende Ideen zu haben. Weit größer war seine Schwäche für Flottendemonstrationen, obgleich die Schiffszahl der Monarchie noch längst nicht nennenswert war. Um so eindrucksvoller waren die Flotten der anderen. Wenn die Insel Kreta in Aufruhr stand, regte er die Mächte des Kontinents an, Schiffe dahin zu entsenden. Denn Griechenland und die rebellierende Insel sollten wissen, daß man sich durch eigenen Willen nicht zusammenschließen durfte. Wenn die Türkei gegen ein neues Finanzprogramm murrte, das wieder die Mächte des Kontinents ausgeheckt hatten, ohne alle Neugier für irgendeine Meinung des Großwesirs darüber, so war Graf Goluchowski gleich dabei, mit den Schiffen der anderen auch wieder vor die Dardanellen zu fahren. Mehr als ein Jahrzehnt war er immer bei allem dabeigewesen. Seine Anregungen empfing er bisweilen vom russischen Grafen Lambsdorff, wenn dieser Beruhigung in Mazedonien wünschte. Er setzte sich freundlich mit ihm zum ›Mürzsteger Programm‹ zusammen, das die mazedonische Beruhigung herbeiführen sollte. Seine Anregungen empfing er gelegentlich vom Fürsten Bülow. Wenn der deutsche Kanzler, verstimmt darüber, daß Frankreich und Rußland die kretensische Kandidatur des Prinzen Georg von Griechenland stützten, die deutschen Schiffe von der Insel zurückrief, so war der entgegenkommende Graf natürlich bereit, sogar eine der gern unternommenen Flottendemonstrationen abzubrechen und auch seine Schiffe zurückzurufen. Er dachte nicht daran, daß er als der Nächstbeteiligte im Nachbarmeer der Adria dies eigentlich hätte zuerst tun müssen, er dachte erst nach Deutschland daran. Bei so viel Denken war es ihm entgangen, daß er die politische Erbschaft der Andrássy und Kálnoky zwar in ihrem Geiste hatte ausbauen, die Unantastbarkeit der Türkei hatte sicher stellen wollen, weil ein Weltbrand bei der Erbteilung vor Konstantinopel entstünde. Aber eines Tages befand er sich unbewußt und harmlos dennoch im Lager gegen die Türkei, ließ den unverdienten Frieden mit Griechenland zu, ließ Kreta überhaupt fallen und beriet schließlich, von Lambsdorf angeregt, auch die Überwachung, die Ordnungsmaßnahmen auf türkischem Boden, die Mürzsteger Zumutungen an den Sultan. Der Wirrwarr in Mazedonien bestand darum unbekümmert fort. Graf Goluchowski, durch ungarische Vorwürfe vollends verärgert, mochte Ministerschaft wie Ministerverantwortung endlich satt haben, mochte am Ende selbst ahnen, daß er in dem berühmten Konzert der sechs Großmächte noch kaum die sechste Geige war. Er ging nach einem Jahrzehnt unsicherer Versuche, oft bewußtlosen Tastens. Aber Aehrenthal war ein neuer Herr.

Er kam von Petersburg nach Wien. Sieben Jahre hatte er dort als Botschafter des Kaisers Franz Joseph verbracht, mit vielerlei Mitteln eines diplomatischen Geistes bemüht, die Fäden neu zu knüpfen, die zwischen der Monarchie und Rußland eigentlich seit dem Augenblicke abgerissen waren, da die Monarchie für Ferdinand von Koburg den bulgarischen Thron gegen russische Wünsche durchgesetzt hatte. Aehrenthal glückte es, die letzte Erinnerung an herbe Gegensätze in ein Einverständnis zu neuer Annäherung zu wandeln. Es geschah, nach fast zwei Jahrzehnten der Verbitterung, daß der russische Minister des Äußeren eines Tages in Wien abstieg, um dort Vorschläge abzugeben, von denen ohne Zweifel freilich Aehrenthal voraussagen konnte, daß sie bei dem Grafen Goluchowski nicht auf Ablehnung stoßen würden. Im Belvedere zu Wien mußte auf die Geschicklichkeit dieses Petersburger Botschafters, der nicht nur die beiden Höfe immer wärmer zu verbinden, sondern von seinem Botschafterpalais her auch den Grafen am Ballplatz zur Tätigkeit aufzurütteln wußte, der Thronfolger-Erzherzog Franz Ferdinand selbst aufmerksam werden. Von Erzherzog Franz Ferdinand dachten viele vieles. Er galt denen als ein Freund der Tschechen. Er war der Schirmherr der Kirche. Er galt jenen als ein Madjarenhasser. In Wahrheit dachte er, obgleich er die Probleme und ihre Schwierigkeit dabei erkannte, an die Machtstellung und Mehrung der Monarchie, an den verstärkten Glanz des Hauses Habsburg. Trotz mancher Schwächen in seiner sprunghaften und herrischen Art, die namentlich später, als sein Leiden fortschritt, die Überleitung von bestrickender Liebenswürdigkeit bis zur härtesten Unduldsamkeit oft jäh gestaltete, hatte sein Blick doch erkennende Schärfe. Er suchte Helfer für sein Werk, die er lange vorher beobachtete. In Petersburg sah er Aehrenthal nicht nur um verbindliche höfische Beziehungen bemüht. Er spürte Aehrenthalschen Drang in Goluchowskis Erwachen. Er wußte, daß der Baron Rußlands Kampf mit Japan von der Newa mit angesehen, dann die Revolution mit studiert hatte. Franz Ferdinand konnte denken, daß Aehrenthal zu einem Kenner Rußlands geworden sei. Rußland war der Monarchie gefährlichster Gegner. Der Petersburger Botschafterposten war wichtig. Immerhin, das Amt des Ministers des Äußeren, der vom Ballplatz die Wege aller Botschafter bestimmen konnte, noch wichtiger. Außerdem: der Hof im Winterpalais und der Wiener Hof verstanden sich ja wieder. Franz Ferdinand sorgte für Aehrenthals Reise nach Wien.

Damals waren die Kabinette ruhig. Jeder schien mit sich selbst beschäftigt. England hatte die Buren besiegt. Frankreich erholte sich von kolonialen Abenteuern. Der Handelskrieg Frankreichs mit Italien, die ganze italienische Verstimmung war jetzt ein paar Jahre lang vorbei, Tunis, das für Frankreich gesichert war, ließ sich immer gründlicher entitalienisieren. Italien nahm niemand ganz ernst. Fernher lockte Tripolis, eine Zukunftströstung für Tunis, aber es lockte auch Valona und der Balkan, indes man gleichzeitig die Seufzer der von der Monarchie noch immer »unerlösten Provinzen« nicht überhören durfte. So vieles lockte Italien, das inmitten aller Wünsche nur die Erinnerung an den Schlag von Adua, an den mißglückten abessinischen Feldzug besaß, daß Italien selbst vorerst die Reihenfolge der Erfüllung suchte. Und Rußland heilte Wunden. Wenn es überhaupt eine Sorge gab, so war es das nicht zu sänftigende Mazedonien, die Furcht vor diesem ganzen gefährlichen, jetzt noch verfrühten Streit um das Türkenerbe. Vorläufig schwieg man darüber. Ungestört konnte der Freiherr von Aehrenthal sich zurechtlegen, was er eigentlich am Ballplatz wollte.

Er kam nach Wien mit dem Gefühle russischer Freundschaften. Aber er besann sich auch des Vermächtnisses des Grafen Andrássy, das für die Monarchie eine Zukunft im Südosten, in Saloniki, verhieß. Andrássy hatte es nicht gewagt, aus der österreichisch – ungarischen Okkupation, die der Berliner Kongreß über Bosnien und Herzegowina ausgesprochen hatte, eine Annexion durch Österreich-Ungarn zu machen. Ihm waren Okkupation und Annexion der gleiche Inhalt in zweierlei Ausdruck. Was einst sein könnte, wenn das Erben aller am Goldenen Horn begann, war ihm keine Sorge des Augenblicks. Wichtig war ihm, daß der Erbschaftstreit möglichst spät ausgetragen werde. Vorläufig hatte ihm Europa die Okkupation als berechtigt zugebilligt. Und der Monarchie hatte er eine Richtung gewiesen. Er stützte also die Türkei, damit sie nicht zu früh verfalle, half sie galvanisieren, damit nicht Europa selbst elektrisiert werde. All seinen Nachfolgern konnte er gönnen, daß ein abspringender Funke nicht dennoch zünde. Dem Grafen Goluchowski war es im russisch-japanischen Kriege natürlich nicht eingefallen, das Wort Okkupation ohne besonderen Lärm durch das Wort Annexion zu ersetzen. Und obzwar er die damals leichte, dauernde Regelung mit der Türkei vergaß, vergaß er zugleich, wenigstens auf überkommene Türkenfreundschaft zu halten. Jetzt hatte Freiherr von Aehrenthal verschiedene Möglichkeiten. Er konnte die Galvanisierung am Bosporus neu betreiben. Er konnte aus den Wegzeichen des Berliner Kongresses die Reiseroute nach Saloniki studieren und vorbereiten. Er konnte dies mit Rußland im guten tun, was er vielleicht hoffte, er konnte es gegen Rußland mit Überlegenheit durchsetzen, was er sich zutraute. Die Kabinette waren damals ruhig. Er hatte verschiedene Möglichkeiten. Später stellte sich heraus, daß er alle zugleich versuchte.

Viel sprach er nicht darüber. Eigentlich gar nichts. Den Männern, die für die Zeitungen schrieben, kam er sehr zugeknöpft vor. Das war neu am Ballplatz, neu in Wien. Die Diplomaten fanden, daß er alles sehr abwog, daß er aber, wenn er überhaupt sprach, auf Ansichten bestand. Einen Botschafter Englands, das solche Lässigkeit sicherlich nicht gewohnt war, ließ er gelassen und mit Absicht Tag um Tag warten, ehe er ihn zum Kaiser führte. Er ließ sich nicht drängen. Man wußte nicht, wer auf ihn Einfluß hatte. Man wußte nicht, ob überhaupt jemand auf ihn Einfluß hatte. Es sah aus, als verließe er sich nur auf sich, auf seine Kenntnis der Dinge, auf seine Überzeugung. Was er tun wollte, was er überlegte, war sein Geheimnis. Niemand wagte es, den Mann eines verheißungsvollen Rufes zu stören. Bis eines Tages ein Brief auf seinem Schreibtisch lag. »Keineswegs ginge es an, daß der Minister des Äußeren und der Chef des Generalstabs ohne einander auseinanderarbeiteten. Jede Politik einer Großmacht hätte nur dann einen Sinn, wenn ihre Forderungen im Notfall auch durch die Ultima ratio also militärisch vertreten werden könnten. Ein Außenminister, der nicht wüßte, was von seinen Zielen und wie kräftig die Armee sie unterstützen könnte, vermöchte nur eine unsichere Politik zu machen« – –

Der Brief war kurz. Er trug die Unterschrift: Conrad von Hötzendorf.

 

Freiherr von Aehrenthal pflegte alle Schriftstücke mit peinlicher Sorgfalt zu erledigen. Er zögerte nicht, den Brief des Generals in der höflichsten Form zu beantworten. Er stimmte diplomatisch sogar zu. Aber er dachte nicht daran, irgendwem auch nur das Recht des Einblickes in die äußeren Angelegenheiten der Monarchie, in ihre Entwicklung, in ihren Ablauf zu gewähren. Seine Angelegenheiten wollte er allein im Kopfe haben. Wenn er nach dem Südosten hinuntersah, gefiel ihm manches nicht. Alle Überwachung durch das nach dem Mürzsteger Programm aufgestellte internationale Gendarmeriekorps, alle Maßnahmen der Ordnung, die Rußland gemeinsam mit der Monarchie durchgesetzt hatte, verhinderten es keineswegs, daß in ganz Mazedonien der Bandenkrieg, der Glaubensterror nicht zu bändigen war. Im Augenblick trieben es die ins Land einfallenden serbischen und griechischen Rotten am schlimmsten. Baron Aehrenthal erkannte die erste Gelegenheit, sich zu betätigen. Er warnte die Regierungen von Belgrad und Athen. Und zwar warnte er allein, ohne erst das an Mazedoniens Besserung mitbeteiligte Rußland zur Mitwarnung einzuladen. Alles, was Aehrenthal tat, pflegte doppelten Sinn zu haben, um doppelte Auslegung erfahren zu können. Es war ein Hauptbestandteil seiner diplomatischen Kunst. Wenn der Baron nicht erst mit dem Außenminister Rußlands über den neuen Schritt beriet, so mußte sich zunächst zeigen, wie fest die Gefühle der Freundschaft waren, die er als Botschafter in Petersburg sich hatte erringen können. Vielleicht ließ man die Selbständigkeitswünsche wirklich hingehen. Waren die Gefühle anders in Petersburg, so mochte man dort immerhin erkennen, daß fortan auch die Monarchie selbständig mitzusprechen wünsche. Übrigens war er sich, seit er eine Weile am Ballplatz saß, plötzlich durchaus nicht mehr ganz klar über die russischen Stimmungen. In die reine Heiterkeit der Freundschaft zwischen Romanow und Habsburg stieg seit kurzer Zeit neues, slawisch-nationalistisches Gewölk. Vor ihm mußte man auf der Hut sein, Aehrenthal wollte wissen, woran er war. Auch als die russische Regierung die Selbständigkeit Aehrenthals ohne Verstimmungszeichen vorbeigehen ließ, blieb die Art des Verhältnisses nicht eindeutig. Denn auch in das russische Ministerium des Äußeren war ein neuer Herr eingezogen: Iswolski. Ein Nationalist, ein Panslawist, der ohne Zweifel die siebenjährige Botschafterarbeit in Petersburg zunichte machen und leicht den Hof bereden konnte, daß noch weit nötiger als die Freundschaft mit Habsburg ein nationalistisches, massenbetörendes Ventil sei, durch das alle russischen Revolutionsgelüste gefahrlos verströmen müßten. Als die Warnungen an Griechenland und Serbien ziemlich wirkungslos verhallt waren, als die Banden in Mazedonien weiterplünderten, weitermordeten, zog es darum Herr von Aehrenthal vor, zunächst einmal gemeinsam mit Iswolski vorzugehen. Herr Iswolski sollte sich erst demaskieren, sollte erkennen lassen, wie er mit der Monarchie stand, ehe man auf ihn weniger Rücksicht nahm, als jene Gefühle russischer Freundschaften beanspruchten, mit denen man nach Wien gekommen war. Irgendwie würde man sich dann auch mit ihm auseinandersetzen. Konnten die mazedonischen Zwischenfälle selbst in kurzer Zeit beigelegt werden, so gab es dennoch bald wieder auf dem Balkan wichtige Arbeit. Vor allem auf dem Balkan. Der Balkan – der Freiherr von Aehrenthal sah es wohl – war das große Problem.

Mitten in Aehrenthals Sorgen und Gedanken traf Conrad von Hötzendorfs Brief. Man schätzte im Ministerium des Äußeren die Entwicklung allgemeiner Programme nicht sehr; namentlich dann nicht, wenn sie von außen ins Haus flatterten. Aber diesem General kam es gar nicht bei, auf allgemeinen Programmen zu verharren. Der General hatte ganz abstruse Einfälle. Er schien ein völlig anderes Weltbild zu haben als Aehrenthal. Und indes der Minister seine Neuorientierung in bezug auf Rußland erwog, indes er immer gespannter auf den Balkan sah, hatte Baron Conrad – italienische Sorgen. Weit mehr als Sorgen. Er war fasziniert von Italien. Es war ganz einfach: Freiherr von Conrad sah ein italienisches Gespenst.

Auch ihn hatte Franz Ferdinand nach Wien gerufen. Im Sommer 1906 hatte er ihn an die wichtigste militärische Stelle gesetzt. Baron Conrad hatte eine rasche Soldatenlaufbahn hinter sich, in der er Zeit zu einer Reihe militärischer, selbst im Auslande viel beachteter Werke gefunden hatte. Sein »Lehrbuch der Taktik« war das Lehrbuch der Armee. In seiner Jugend, noch im Mannesalter war er viel gereist. Nicht nur Frankreichs Schlachtfelder von 1870/71, die russisch-türkischen Schlachtfelder von Plewna und am Schipkapasse hatten ihn, der als Generalstabshauptmann in den Insurrektionskämpfen in der Herzegowina und Dalmatien, vier Jahre vorher schon in Bosnien im Feuer gestanden hatte, zu gründlichen Studienfahrten gelockt. Conrad war in Bulgarien und Rumänien gewesen; am Goldenen Horn, hatte in abenteuerlicher Verkleidung als Landmann Gordon die Räume von Iwangorod, Warschau und Lublin durchstreift, dort russischen Straßenbau, Festungsbau, russische Aufmarschmöglichkeiten, dann in anderer Verkleidung, abermals durch Monate, serbische Verhältnisse im Königreich studiert. In der Monarchie kannte er fast jeden Winkel. Die Menschen, die in der Monarchie, vor ihren Grenzen saßen, die Sprache und Wunsche, die Zukunftsträume dieser Menschen blieben ihm so nicht fremd. Oft war er in Italien gewesen. Von Freiherrn von Conrad konnte man glauben, daß er nicht nur mit dem Blick des Generalstäblers nach Wien kam.

Franz Ferdinand hatte ihn entdeckt, wie er Aehrenthal entdeckt hatte. Schon vor 1905 begann der General den Erzherzog zu fesseln, als er einen Triestiner Aufstand mit blitzschneller Entschlossenheit, dabei mit so kluger Umsicht niedergeworfen hatte, daß nur geringe Opfer zu beklagen waren. Gelegentlich der Manöver nahm ihn der Thronfolger auf eine Wagenfahrt mit, bei der die Art des Offiziers sich noch näher erkennen ließ. Schon flatterte hier und da in Wien einstimmig unter den Generalen, der Name Conrad von Hötzendorf auf. Im Herbst 1907 hatte seine ungewöhnlich klare Disposition die südtiroler Manöver im Nonstale entschieden, obgleich man Freiherrn von Conrad einen Teil der Truppen fortgenommen und sie seinem Gegner im Manöver zugewiesen hatte. Und seither sprach man von dem neuen General. Franz Ferdinand aber handelte. Es war die Art des Erzherzogs, daß er den Divisionär von Innsbruck einfach zu sich ins Belvedere rief und ihm erklärte, daß er nunmehr zum Chef des Generalstabes ausersehen sei. Es war die Art des Freiherrn von Conrad, daß er den Ruf mit der Begründung ablehnte, wie wenig gerade er zu solch einem Amt passe, ein Truppenführer, der nur an seiner Truppe, nur an seinen Arbeiten über die Truppe hing. Franz Ferdinand ließ ihn zunächst ziehen. Aber vier Wochen später mußte der Baron abermals die Reise von Innsbruck nach Wien antreten. Bedrückt, ahnungsvoll. Eine Stunde lang weiß er Einwände gegen die Ernennung. Eine Stunde lang hat Franz Ferdinand Gegeneinwände. Schließlich spricht Franz Ferdinand im Belvedere den gemessenen Befehl, die Stelle als Chef im k. und k. Generalstabe anzunehmen. Baron Conrad ist Soldat. Der Kaiser ist vom Thronfolger bereits vorbereitet. Am nächsten Tag ernennt der Kaiser den Freiherrn in Schönbrunn.

Der neue Chef des Generalstabes kam aus Tirol. Dort hatte er sich nicht bloß die Alpen, dort hatte er sich auch die Nachbarn angesehen. Und war als Brigadier von Triest oft genug nicht nur auf den Karst hinaufgefahren, hatte sich aufmerksam genug auch die Sendboten angesehen, die übers Meer von Italien kamen. Seit der Jahrhundertwende war die schwächste der Großmächte unruhiger denn je. Guicciardini hatte schon Ende 1900 in der Kammer zu Rom einen Entrüstungsschrei ausgestoßen, der nach Chlumeckis Aufzeichnung von damals die Monarchie anklagte, »als stünde die Okkupation Albaniens durch Österreich-Ungarn unmittelbar bevor«. Aber jetzt schwoll auch der Irredentismus bedenklicher als je. Noch hatte Baron Sonnino die Kraft zu der Erklärung: »Unsere Interessen im Trento sind ein höchst unbedeutend Ding im Vergleiche damit, was eine aufrichtige Freundschaft mit Österreich-Ungarn für uns bedeutet.« Aber Straße und Presse lärmten stets lauter. Niemand wußte, wie lange noch die Regierung den Mut aufbringen könnte, von den Lärmenden sich nicht fortreißen zu lassen. Im Winter zum Jahre 1907 erreichte die irredentistische Hitze den Siedepunkt. In Udine gab es große Umzüge. Sie wurden feierlich angesagt. Sie waren lange vorbereitet. Johlend trieb die Menge einen Esel durch die Stadt. Sie klopften das verstörte, ergrimmt bockende, im Grimm lächerliche Tier mit tausend Schlägen auf sein Hinterteil. Sie riefen dabei: » Evviva Francesco Giuseppe!« Udine lachte, die Versammlung aus ganz Italien lachte. Der König war zu dem Fest nicht nur erwartet, Viktor Emanuel kam auch wirklich. Freiherr von Conrad wußte all das. Überdies las er die italienischen Zeitungen fleißiger, als irgendwer, und er wunderte sich nicht weiter, daß unmittelbar nach den Küstenmanövern der Monarchie, unmittelbar nach dem italienischen Entrüstungssturm darüber, der Abgeordnete de Palma im »Mattino« nach größter »Erhöhung der Marineetats« schrie, »um Italien in einem Kriege mit Österreich-Ungarn die Gewähr der Beherrschung der Adria und die Möglichkeit zu geben, gleichzeitig zwei Kriegshäfen der Monarchie zu blockieren«. Wenn der Innsbrucker Divisionär nach Trient hinunterfuhr, stand dort Dante mit weit und sehnsüchtig nach Norden und Brenner gebreiteten Armen, Dante Alighieri, dessen Denkmal mit anzüglicher Inschrift auf österreichischem Boden »die italienische Nation« errichtet hatte. Nie fiel der Regierung in Wien ein, den Unterdrückten im Trento italienisches Wort, italienische Schrift zu verbieten. Nie fiel der Irredenta ein, hüben und drüben, andere Schriften, andere Bücher, andere Fremdenführer mit österreichischem Gelde zu drucken, als Manifestationen erstaunlichsten Hochverrates, denen keiner von Wien her zu wehren wagte. Reichsitalienische Unternehmungen wuchsen, Bau an Bau, im Trento, die alle vielleicht einmal nach leichter Umwandlung als Hospitäler eines Krieges dienen konnten. In Wien sah man nichts, merkte man nichts, hörte nur den italienischen Außenminister, der in Rom, indes die berauschte Udineser Menge ihren Esel trieb, sanfte und versöhnliche Worte sprach. Aber nur Baron Conrad wußte, woher die Versöhnlichkeit kam. Er übersah die politischen, übersah die militärischen Verhältnisse des Königreichs genau: Italien war nicht gerüstet. Italien war wirtschaftlich noch schwach und hatte vor allem keine moderne Artillerie.

Freiherr von Conrad glaubte nicht an den Dreibund. Er verwarf das Bismarcksche Knüpfwerk, in das der Kanzler einen falschen Faden aufgenommen hatte. Er verwarf die Politik des vierten Kanzlers Bülow, der Bismarcks Erbe mit unbelohnbaren, hoffnungslosen Artigkeiten fortspann. Keinerlei schöne Rede schmälerte die Skepsis dieses Generals, der allen, die es hören wollten, kühl ins Gesicht sagte, daß jeder Krieg der Großmächte den Dreibund sprengen und Italien bei den Gegnern finden werde. Überhaupt schien Conrads Zukunftsbild anders, als die Gegenwart und Zukunft, die Aehrenthal sah. Auch schien ihm nichts weniger gefestet, als das innere Gefüge der Monarchie. Natürlich wußte auch er, daß Österreich-Ungarns Verheißung der Einfluß auf dem Balkan war. Kein anderer Weg stand offen seit Bismarck, seit Königgrätz und Versailles, seit der deutschen Reichsgründung und Italiens Einheit. Aber zwei drohende Barrieren konnten den südöstlichen Marsch versperren: eine mißglückte Lösung des südslawischen Problems, und die Ansprüche ganz Europas auf das Türkenerbe.

An einen europäischen Konflikt glaubte Herr von Aehrenthal nicht. An einen Zusammenstoß aller, an eine Weltkatastrophe glaubte überzeugt Freiherr von Conrad. Italienische Spiegelfechtereien, Temperamentsausbrüche südlich leicht erregter Menschen wollte der Minister gelten lassen. Das Schwertziehen des eigenen Bundesgenossen sagte der General voraus. Aehrenthal verschwor sich, seine Noten so vorsichtig geschickt zu fassen, seine Schachzüge so fein zu stellen, daß keiner in Europa mehr als in Hitze geriet. Conrad aber sah die Feuerzeichen. Aehrenthal bewegte nur der Balkan und er blickte nach dem nächsten Weg. Er würde am kleinen Serbien vorbei, vielleicht über Serbien führen, mit dem die mächtige Monarchie – wahrscheinlich ohne jede Not zur Waffe – schon fertig würde. Freiherrn von Conrad bewegte das Zukunftsland der Monarchie nicht minder. Aber für ihn führte in naher Ferne der Weg dorthin nur durch Europa. Nur Aehrenthal konnte denken, daß Europa schweigen werde. Aber Conrad dachte, daß Europa nur eine Weile noch schweigen müsse. Italien gab er als Bundesgenossen verloren. Heute schon zeterte Italien um Valona, um Albanien, und Frankreich hörte ihm als eifrigster, liebenswürdiger Versteher zu. Denn Frankreich schwärmte für einen Freund im Dreibund, den es von Deutschland abziehen konnte und überdies gern nach dem Balkan wies, der fern von Tripolis lag. Noch ein Jahrzehnt: dann sprang Italien, wenn der Weg nach Saloniki gesucht werden mußte, wenn die Südslawen dringlich wurden, ins Lager der Feinde. Noch ein Jahrzehnt: dann marschierte mit dem erholten Rußland ganz Europa, dann starrte der Kontinent von Bajonetten. Aehrenthal sprach: der Weg nach dem Balkan führt an Serbien vorbei. Conrad erklärte: der Weg heischt Eile. Er führt über Italien durch Serbien.

Die Südslawenfrage lag vor ihm offen. Kein Volk war begabter, kein Volk anhänglicher an Habsburg, als die Kroaten. Die Abhängigkeit von Ungarn, heute in kleinen Unfreundlichkeiten, morgen in heftiger Verweigerung aller Notwendigkeiten von Budapest ausgesprochen, konnte nicht ewig dauern. Die Kroaten, die mit den Ungarn nicht auskommen konnten, hätten gern mit Österreich gewirtschaftet. In Wien sah man die Neigung absichtlich nicht, weil man ängstlich nach Budapest sah. Unter den Südslawen der Monarchie konnten die Kroaten Führer sein. Sie wohnten von Agram bis an die Bocche di Cattaro. Freiherr von Conrad sah eine Südslaweneinheit, der machtvolle Entfaltung sicher war. Wenn Kroaten, Serben und Slowenen mißlaunig wurden im Hause der Monarchie, so mußten sie fort wollen. Das Nachbarhaus der Königsserben öffnete ihnen dann einladend die Tür. Die Königsserben waren monarchiefeindlich. Die Königsserben hatten »Aspirationen« genau wie Italien. Das Königreich nannten sie das Piemont des Balkans. Mancherlei war gesündigt worden an einem Bauernvolk, das nicht am Meere wohnte, dennoch Handel treiben mußte. Denn die serbischen Bauern waren reich. Aber seit die Karageorg im Belgrader Konak wohnten, begann es über alles Maß in politischen Hitzköpfen zu brausen. Die Sehnsucht stand auf, Balkanpiemont möchte groß, möchte vereint und selbständig werden. Was man in Budapest nicht merken wollte, oder von der verkehrten Seite auszutragen hoffte, was man in Wien nicht anders sah, weil man nur nach Budapest schaute: den Zwang einer südslawischen Lösung begriff man in Belgrad immer gründlicher, immer schneller, immer hoffnungsheißer. Freiherr von Conrad sah nicht nur die mächtige Südslaweneinheit. Er erkannte die Umrisse eines gewaltigen, der Monarchie gefährlichen Südslawenreiches. Glückte es, die katholischen Kroaten bei den Habsburgern zu halten, waren auf absehbare Zeit auch mit den orthodoxen Serben, obendrein wenn man ihnen wirtschaftlich entgegenkam, freundschaftlichere Beziehungen vielleicht möglich. Vielleicht … Wurde die Kroatenpolitik des Augenblickes fortgetrieben, so kam es zum Bruch. Zweierlei Lösung gab es in der Südslawenfrage: außerhalb der Monarchie oder innerhalb. Conrad kannte den Ballplatz. Conrad kannte die Ungarn. Er wußte, daß Stefan Tisza jedem Landerwerb abhold, ja feindselig gegenüberstand. Graf Tisza fürchtete den Mehrerwerb von Nationalitäten. Sein Evangelium und Brevier war in Ungarn das Diktat der Madjaren. Er wollte keine Serben mehr. Um das Reich der Stephanskrone als »integere« Einheit zu wahren, mußte er die Nationalitäten rund um die madjarische Insel schwer, die Kroaten fast mit der Faust niederhalten. Die Madjaren waren das intelligenteste, das Herrenvolk in Ungarn. Er hob nur sie aus Rassegründen. Jede Vermischung, jeder Zuwachs dünkte ihn schädlich. Wurden die Ungarn schwach, zerfiel die Stephanskrone. Tiszas Gedankengänge begriff Conrad. Ein starkes Ungarn wünschte auch er: aus Staatsgründen. Denn die Monarchie konnte ein kraftvolles Ungarn nur erhöhen. Aber wenn Tisza keinen Slawenzuwachs wünschte, wollte Conrad obendrein noch die Absonderung der Kroaten. Hier trennten sich die beiden Wege, die aus verschiedener Richtung gekommen waren und an der madjarischen Kreuzung sich getroffen hatten. Da sich Tisza und Conrad voneinander wieder entfernten, wollte der ungarische Staatsmann überhaupt keine südslawische Lösung. Weder innerhalb, noch außerhalb der Monarchie. Man würde sich irgendwie schon einrichten und fortfristen. Conrads Denken nahm die weitesten Steckpunkte. Er vergaß den General. Nur der Staatsmann Conrad dachte jetzt. Der ganze Zustand war unhaltbar. Selbst eine freundschaftlichere Annäherung Serbiens bei wirtschaftlichen Zugeständnissen blieb zeitlich begrenzt. Am fernen Horizont sah er die serbischen Fahnen flattern, neben die verbittert die Kroaten ihre Banner steckten. So gab es für den Staatsmann, der ein großes, starkes, altes Reich erhalten wollte, nur einen Weg: wenn jeder Nachbarschaftsversuch mißglückte, den unheilbaren Gegensatz entschlossen mit den Waffen auszutragen, die täglich Serbien selbst erhob. Ihn siegreich auszutragen, um dann allen Südslawen ein selbständiges Haus in der Monarchie zu bauen. Früher oder später hatte die Monarchie, wollte sie am Leben bleiben, in Wahrheit nur diese eine Südslawenlösung: innerhalb der Reichsgrenzen. Von solchem Zwang erkannte Aehrenthal überhaupt nichts. Was Tisza junkerstarr ablehnte, übersah er bureaukratisch. Das Problemhafte blieb ihm verborgen, Aehrenthal war überzeugt, daß inmitten seiner diplomatischen Geschicklichkeiten selbst ein gelegentlicher Waffengang mit Serbien, wenn man in Belgrad alle Besinnung verlor, höchstens unter Reibungen, dennoch ohne Konflikte mit Dritten auszufechten sei. Conrad aber rechnete mit Rußland, mit seinem französischen Bundesgenossen, selbst mit England. Er sah nicht die Akten, sah Weltspannungen, die nach Anlässen suchten, sah über Deutschland und englische Wirtschaftseifersucht hinaus die Kräfte, die gegeneinander zu drängen begannen und sich in dem Streit um jene Weideplätze, die jeder für sich haben wollte, entladen mußten. Nur so lange konnte Österreich-Ungarn Ordnung schaffen vor seiner Tür, für seine dreieinige deutsch-slawisch-madjarische Zukunft, als die Mächte nicht mitordnen konnten. Italien stand der Monarchie im Rücken, würde immerzu im Rücken stehen. Die Serbenfrage war hart vor der Kulmination, hatte sie indes noch nicht erreicht. Noch siechte Rußland. Die Südslawenfrage brannte jetzt in der italienischen Erledigung.

Die italienischen Umzüge dauerten an. Die Straßenfeste wurden ein nationaler Karneval. Das Geschrei aus allen Zeitungslagern wurde eine savoyische Symphonie. In Kärnten hielt Freiherr von Conrad die Herbstmanöver 1907. Es waren die ersten großen, freizügigen Manöver ohne Demarkationslinie. Dem Erzherzog Franz Ferdinand, der im Vorjahre erst den Baron aus Innsbruck gewaltsam in den Generalstab geholt hatte, mochte es eine Genugtuung sein, wie sehr der Kaiser, der nach Kärnten gekommen war, wie sehr der Generalstab, selbst die fremden Attachés über die blendenden Einfälle, über die strategische Genialität des neuen Mannes und schon über erste Veränderungen im Geist und in der Zucht des Heeres staunten. Baron Conrad aber erbat, kaum daß er im Manöverhauptquartier in St. Veit die Karten fortgelegt hatte, Audienz bei Franz Joseph. Der Kaiser war schon nach Klagenfurt gefahren, der General durfte kommen. In Klagenfurt war die Unterredung gnädig, ernst, dennoch kurz. Denn der Baron hatte gleich für des Kaisers erste Frage nach den Wünschen des Generals die restlos unzweideutige Antwort: »er beantrage den Krieg mit Italien.« –

Zug um Zug zeichnete der General dem Kaiser die Lage, die politische, die militärische. Italien fehlte nicht bloß die moderne Artillerie; in Oberitalien war ein Fort bei Verona das einzige, das überhaupt einigen Widerstand leisten konnte. Was an der Berggrenze stand, Befestigungen im Stile der Forts auf den Sieben Gemeinden, war in raschem Ablauf – je ein Tag, je ein Fort – mit Fünfzehn-Zentimeter-Geschützen niederzulegen. Der Einmarsch in die Po-Ebene wäre gar nicht aufzuhalten. Der Einmarsch würde zum Durchmarsch nach Mailand und Venedig.

Franz Joseph aber wehrte ab. Er wies auf die Bundesgenossenschaft hin.

Der General hatte jetzt alle Schärfe des Überzeugenwollens. Der Kaiser möchte sich doch diesen Bundesgenossen nur einmal näher ansehen. Bei der ersten Gelegenheit würde der italienische Angriff in den Rücken der Monarchie zielen – –

Aber der Kaiser schien nicht zu gewinnen. Österreich hätte nie einen Krieg begonnen … Auch wäre es schon zu spät …

Freiherr von Conrad widerstritt. Es wäre noch der Spätherbst da. In der italienischen Ebene wäre jeder Feldzug möglich um diese Zeit. Und er verbürge sich für die Entscheidung binnen vier Wochen.

Aber der Kaiser wollte nicht. Sein Minister des Äußeren schwor auf den Dreibund. Auch könne er nicht mitten im Frieden einen Krieg beginnen …

Der General fuhr nach Wien. Auch der Hof brach auf. Die Manöver waren ein geniales Spiel für hohe Zuschauer gewesen. Conrad suchte Arbeit, nichts als Arbeit. Nicht aus Sehnsucht nach eigenem Glanz war er ärmer um eine Hoffnung, reicher im Pessimismus um die Zukunft.

Einer hatte Genugtuung: Aehrenthal.

 

Die Annexion stand vor der Tür. Das Zwischenspiel der Sandschakbahn, die Aehrenthal bauen wollte, um den Anschluß der Monarchie an Saloniki zu sichern – der Berliner Vertrag gab ihm das Recht zum Bau –, hatte den Lärm fast ganz Europas entfesselt, und Rußland in einem Augenblick von der Monarchie abgedrängt. Daß die Russen wegen eines Handelsweges, den Österreich-Ungarn nach dem Ägäischen Meere suchte, plötzlich selbst das Zusammenarbeiten in Mazedonien abbrachen, war nicht nur das Anzeichen neu heraufziehender Verstimmung: die Warnung an die Zukunft war ausgesprochen. Freiherr von Aehrenthal kannte jetzt die Dauerhaftigkeit, den Wert seiner Petersburger Botschafterarbeit. Was er ahnte, seit Iswolski der Mann der russischen Geschäfte war, wurde nunmehr Gewißheit. Es gab kein Zusammengehen mit Rußland für die Monarchie. Freiherr von Aehrenthal stand allein.

Das Sandschakintermezzo verhallte übrigens schnell. Selbst Frankreich, das die ganze Angelegenheit am wenigsten anging, dessen Verdächtigungen aber, daß niemand anders als Deutschland durch den Sandschak seinen Einfluß ans Südmeer zu tragen hoffe, am lautesten wetterte, selbst Frankreich gab Anzeichen beginnender Mäßigung. Da stieg, grell über dem Bosporus, ein flammendes Fanal in den Balkanhimmel und ganz Europa stand im Widerschein: die Jungtürken waren gegen Abdul Hamid marschiert. Die Kabinette bebten. Sie wußten nicht, war ihr Erbe verloren. Sie wußten nicht, war das Fanal am Bosporus das erste Zeichen des Erbschaftsbeginnes. Freiherr von Aehrenthal bebte nicht. Er erkannte die nächste Aufgabe klar. Er erkannte das Nächste immer klar. Es gab keine russischen Rücksichten mehr, gab überhaupt keine andere Rücksicht, als eine auf die Monarchie. Daran sollten Rußland, daran sollten die Kabinette sich gewöhnen. Österreich-Ungarn war so gut auf der Welt wie jeder andere. Der Versuch mit der Sandschakbahn war nicht nur ein groß-österreichisches Wirtschaftsprojekt, war auch ein ballon d'essai gewesen. Wenn die Jungtürken die neue, lebensfähige Türkei wirklich zustande brachten, so mußten Bosnien und die Herzegowina als dauernder Besitz schnellstens unter Habsburgs Dach gebracht werden. Man steckt nicht jahrzehntelang Milliarden in ein Land, um es dann mit einer selbstlosen Verneigung zurückzureichen. Es würde ein Kampf mit ganz Europa werden. Aber Freiherr von Aehrenthal war zuversichtlich.

Der Gedanke an die Ultima ratio kam ihm gar nicht. Er focht den Kampf auf seine Art. In Buchlau hatte er Iswolski die Angelegenheit mit warmen, überzeugenden Worten vorgetragen. Iswolski war ganz einverstanden gewesen, um so mehr, als Aehrenthal in der Erwartung sicheren englischen Widerstandes keineswegs etwas gegen die Öffnung der Dardanellen hatte. Nur den Zeitpunkt der Annexionserklärung hatte Aehrenthal so ganz nebenher mit diplomatischer Lässigkeit erwähnt. Iswolski hatte kaum darauf gehört. Aber seine Haltung mußte dann wirklich, als das Unwetter da war, kritisch werden. Sollte er daheim den Panslawisten sagen, daß er um den Akt gewußt und ihn dennoch zugelassen habe? Sollte er die Kenntnis von Buchlau leugnen? In England holte sich Iswolski dann überdies eine Absage für seine Dardanellenpläne. Aehrenthal hatte den gefährlichsten Gegner in der Annexionsfrage mit einer Waffe kampfunfähig gemacht, die weder ein Stilett, noch ein Rapier war. Eigentlich hatte er mit einem Mätzchen triumphiert. Aber noch blieb Europa, noch blieb das kleine Serbien. Die Türkei grollte und verhängte den Warenboykott gegen die Monarchie. Selbst Deutschland war verstimmt, denn Freiherr von Aehrenthal, der Großösterreicher, hatte selbst den Freund von der Annexion nicht verständigt. Im Sturme aller gegen den einen rauschten am Ballplatz die Akten. Aehrenthal erledigte gewissenhaft, mit beherrschten Nerven, spitzfindig die dritte und vierte Note, wenn die erste und zweite erledigt waren. Er ließ sich nicht einschüchtern, weder durch Drohungen, noch durch Konferenzvorschläge der Mächte, die er bereitwillig so annahm, daß die anderen sie nicht annahmen. Auch der Türkei gegenüber bewahrte er Geduld, so empfindlich der Warenboykott war. Er bot Entschädigungen an. Er behielt die Nerven im Notenaustausch mit Serbien. Amtlich verkündete er, ähnlich Bonaparte, der über seine Gesundheit aus dem brennenden Moskau berichtete, daß die Beziehungen zu den Kabinetten nie bessere gewesen. Jeden Satz aller Noten studierte er gründlich. Wenn die Serben einmal von den »Zarobiti« in Bosnien, von den dort »Versklavten« sprachen, so gab es eine Sondernote, die eine Richtigstellung erzwang. So ruhig, so sicher war er, daß er Worte klaubte. Einmal mußte Europa müde werden. Denn selbst die am nächsten betroffene Türkei gab nach. Sie nahm die Entschädigungen, den Sandschak und Geld. Nur das kleine Serbien gab nicht nach. Serbien war im Notenabfassen fast noch schneller und ebenso geschickt wie Herr von Aehrenthal.

Indes sich der Minister, mit geschwächtem Auge kurzsichtig über die Akten gebeugt, von Referat zu Referat fortspann, von denen eins schließlich der Kabinette Herr werden müßte, war man ruhelos im Belvedere, ruhelos im Generalstab. Franz Ferdinands Wertmeinung über Freiherrn von Aehrenthal begann Abkühlung zu werden. Freiherr von Conrad aber haßte Akten und Papier, wenn das Leben Notwendigkeiten diktierte. Freiherr von Conrad suchte schließlich eine Aussprache mit Freiherrn von Aehrenthal. Er sprach wiederum von der Südslawenfrage, vom Zwang, sie jetzt zu lösen und sie überhaupt zu lösen. Sprach von der Aussichtslosigkeit, sich je mit einem Gegner wie Serbien, der zäh sei und im Phantastischen seiner seelischen Anlage jeden Maßstab für Wirklichkeiten verliere, auf die Dauer verständigen zu können. Er sprach von unvermeidlich kommender Weltkatastrophe, wenn der Kriegskeim, der heute noch eine örtliche, im Ausgang unbedenkliche Angelegenheit der Monarchie sei, nicht heute ausgerodet werde. Noch immer sei Rußland unerhört, noch immer Italien nicht schlagbereit. Und selbst wenn es losschlüge: er, Chef des Generalstabs, bürge für gleich günstiges Endergebnis. Er spreche nicht vom Prestige, spreche von Existenzfragen der Monarchie. Selbst wenn Serbien plötzlich nachgäbe, wäre die Operation unvermeidlich. Es wäre nur Aufschub, selbst wenn man den Serben den »Korridor nach der Adria« schenkte. Gefährlichster Aufschub: um den Operationstisch müßten später sezierlüstern alle Nachbarn stehen. Dies sei das letzte Glockenläuten für die Monarchie … Und Aehrenthal horchte. Von militärischen Dingen verstand er nichts. Den Sandschak hatte er als Entschädigung für die Annexion den Türken zurückgegeben, obgleich dort die erneute türkische Herrschaft eine schwächere Trennungsschranke zwischen Serbien und Montenegro war, als die Herrschaft der Monarchie. Iswolski hatte er die Dardanellenöffnung angeboten, ohne zu merken, daß dann eines Tages die Russen vielleicht doch in der Adria erscheinen konnten. Aber Conrad sprach gar nicht von militärischen Dingen. Er gab europäische Zusammenhänge. Der Staatsmann sprach. Der Soldat gab Völkerpsychologie und Weltwirtschaftskunde. So groß war die Macht dieses Geistes, der die Zukunft umspannte, daß Aehrenthal alle Referate vergaß. Ja: Aehrenthal schwankte. Plötzlich begriff er. Plötzlich erhob sich eine andere Welt. Hinter den Aktenregalen stand zum erstenmal für ihn das Leben, die Not des Lebens, der Kampf um das Lebendürfen. Aehrenthal schwankte und gab sich bezwungen. Freiherr von Aehrenthal war für den Krieg.

Am nächsten Morgen war er wieder der alte. Die Mächte hatten Serbien die Verzichtsnote erpreßt. Von Bosnien, von der Herzegowina beanspruchte es nichts mehr. Und der tolle Georg hatte abgedankt. Es war die herrlichste Note, die je auf Aehrenthals Tische lag. Daß Rußland nicht dreinfuhr, vielmehr selbst das Belgrader Fieber kühlte, weil schließlich Deutschland in Petersburg die Geduld verlor und an den Säbel griff, deutete er zugleich als militärischen Triumph der Mittelmächte, der jetzt erwiesen sei, auch ohne daß man das Schwert ziehen mußte. Wahrscheinlich verstand das Baron Conrad gar nicht. Wichtiger als die Hirngespinste eines Generals über Kroaten, Serben, Italiener, wichtiger als seine Meinung über europäische Zusammenhänge war der große diplomatische Erfolg. Freiherr von Aehrenthal gab sich zufrieden. Alle Welt gab sich zufrieden. Er war der bedeutendste Staatsmann der Zeit.

Der Sturm der Annexion verrauschte. Das letzte Glockenläuten verhallte für die Monarchie. Von diesem Augenblicke war Freiherr von Conrad nicht mehr für den Krieg.

 

Er arbeitete jetzt an Rüstungsfragen. Wenn er die Zeit versäumt sah, daß man der umlauerten Monarchie durch zuvorkommenden Angriff die Grenzen sicherte, sollte die Rüstung wenigstens stahlblank sein, die der Verteidigung galt. Wohin Freiherr von Conrad auch blickte, stand für ihn der Feind. Italien schärfte Waffe um Waffe. Auf der Hochfläche der Sieben Gemeinden wuchs Fort neben Fort, Die Italiener bauten plötzlich, indes sich der Freiherr von Aehrenthal bald nach einem überraschenden russisch-italienischen Stelldichein mit Herrn von Tittoni verbindlich in Racconigi traf, modernste Panzerfortifikationen. Das Küstenland war von Agenten überschwemmt. Nicht nur die Italiener unternahmen Adriareisen gern. Englische Reisende schrieben Bücher über Dalmatien, die König Peter von Serbien mit Vorliebe für seine Bibliothek im Konak annahm. Seton Watson hatte für nichts leidenschaftlicheres Interesse als für die südslawische Frage. Franzosen, die sonst selten reisen, zeigten jetzt eine Vorliebe gerade für das schwer zugängliche Bosnien, das voll von serbischen Wühlern steckte. Freiherr von Aehrenthal, dem Aktenbehandlung und Politik nahezu als gleiche Begriffe galten, war der merkwürdige Zwischenfall begegnet, daß er die Unechtheit von Verschwörerakten nicht erkannt hatte, die ihm von seinem Belgrader Gesandten als Dokumente eines zuverlässigen Spions zugeschickt worden waren. Aehrenthal übergab sie dem Historiker Friedjung zur Verwertung. Als aber im Friedjungschen Prozeß in Agram die Anklagen gegen die »großserbische Propaganda«, die nicht nur nach Serbien, sondern längst auch nach Kroatien übergriff, lächerlich scheiterten, war die südslawische Frage für Aehrenthal vorläufig wieder erledigt. In Galizien unternahm Graf Bobrinski Rundfahrten. Er brachte mit russischem Geld russische Verwandtschaftsgefühle, die natürlich friedlichen, brüderlichen Annäherungen dienten. Der Zar spendete, damit auch die ruthenischen Kirchen in Galizien Prunkstücke besäßen, zyrillische Bibeln mit schwer goldenen Kreuzen. Der Zar war ja der geistliche Oberhirt auch der ruthenischen Popen. Er beschenkte überdies die ruthenischen Lehrer, denn die Ruthenenkinder sollten in allen Schulen rechtgläubig fromm erzogen werden. Der Aufschwung der Tschechen aber, deren »ungekrönter König« Kramarz nach häufigen Reisen nach Rußland, wo er begütert war – Professor Masaryk und der Abgeordnete Klofac zogen Belgrader Besuche vor –, im Parlament erklärte: »Der Dreibund ist ein abgespieltes Klavier«, – der Aufschwung der Tschechen lehnte sich auch an Frankreich. Als Prag eine neue Wasserleitung brauchte, lag eine Reihe von billigen, doch guten Röhrenangeboten österreichischer und deutscher Industrien vor. Die Tschechen wählten indes das schlechteste, teuerste, aber französische Angebot. Überall, wohin Freiherr von Conrad sah, war Unterminierung. Die Serben allein, auch noch die Tschechen hätte er begriffen. Aber es war klar, daß alle in Europa wühlten. Gegen die Monarchie allein war solch ein Haß kaum zu erklären. Aber die Reise durch die deutschen Häfen fiel ihm wieder ein, die Studienfahrt mit einem von Albert Ballins Direktoren, auf der er über die Größe deutscher Werften gestaunt hatte. Er begriff, daß Deutschland hier zu treffen war. Der englische Kampf um die Welthandelsschaft und gegen ihren Schutz durch deutsche Flotten, der Kampf gegen den deutschen Anspruch auf gleiche Seerechte, der als Abrechnung unvermeidlich war, wie einstens etwa die serbische Lösung, die Vorbereitung des englischen Krieges setzte zunächst im Bundesland ein, das zugleich ein deutscher Weg nach dem Osten werden konnte. Der Bund war gesprengt, Deutschland allein, wenn Österreich-Ungarn durch Zersetzung fiel. Vielleicht hätte die Monarchie mit den andern gehen können, aber in Ischl hatte Kaiser Franz Joseph keinen Sinn für König Eduards Vorschläge. Mißglückte also auch die Sprengung, war jedenfalls die Monarchie als Kampfgegner auch durch Wühlarbeit geschwächt. Aehrenthal aber sah gar nichts. Aehrenthal war blind. Er spann sich am Ballplatz von Akt zu Akt. Auf der Fahrt nach Racconigi hatte er die neuen italienischen Panzerwerke natürlich nicht gesehen. Er glaubte nicht an sie. Daß er in Agram nur nicht die richtigen Großserben vor Gericht gestellt hatte, gab er nicht zu. Von Agram wollte er überhaupt nichts mehr wissen. Über Bobrinski und die Goldkreuzbibeln lachte er. Den Kaiser Franz Joseph wollte er erheitern: »Der Generalstab sieht Geister.« Dem Kaiser erwiderte Baron Conrad unerschüttert: »Eure Majestät werden diese Geister recht bald materialisiert sehen.« Weiter sagte er nichts mehr. Der große Zusammenstoß war für ihn nahe. Er arbeitete an Rüstungsvorlagen.

Die Art seines Arbeitens war so peinlich genau, wie die Art des Freiherrn von Aehrenthal. Nur ging er vom großen Grundbau erst ins notwendige Kleine, die Akten waren ein Verkehrsmittel, wie die Sprache. Die Grenzen mußten stark gemacht werden. Er wußte jede Stelle, jeden Punkt, wo er Schutzwerke gegen den Anmarsch der Italiener brauchte. Mit seinen Offizieren war er – das Unentbehrlichste für die beschwerliche Wanderung hatte sein Diener auf ein Maultier verpackt – oft und lange genug über das Plateau von Lavarone, quer über die Grenzalpen gegangen. Er kannte das Isonzotal, den Karst, wie die eigenen Taschen. Er wußte, daß die Serben über Visegrad, über die bosnische Grenze einfallen würden, wenn sie einmal kämen. Überall dort wollte er gepanzert sie erwarten. Es kamen Notwendigkeiten an der rumänischen Grenze, kam der Karpathenschutz hinzu. Man müßte an Ungarn denken, wie an Österreich. Die Artillerie war veraltet, seit Italien sich umbewaffnete. Wenn man nicht überlegen sein konnte, mußte wenigstens ein Schutz da sein, der gegen die neuen Panzerungen aufkam. Freiherr von Conrad überrechnete Ziffer an Ziffer. Bei schmerzlichster Sparsamkeit mußte er 470 Millionen fordern. Schönaich, der Kriegsminister beider Reichshälften, sollten diesen nicht allzu üppigen Betrag für die Sicherheit einer Großmacht von den Delegationen der Monarchie verlangen.

Sie tagten in der ungarischen Hauptstadt. Der Kaiser begrüßte ihre Sprecher in Budapest. Österreichs und Ungarns Ministerpräsidenten weilten dort, der Honvedminister, der gemeinsame Kriegsminister war da. Und Aehrenthal. Der Chef des Generalstabes hatte mit den Delegationen nichts zu tun. Er saß in Wien. Ob der von ihm geforderte Kredit bewilligt sei, meldete ihm aus der Sitzung keine Depesche. Indes, am nächsten Morgen las er die Bewilligung in den Blättern. Alles hätte der Kriegsminister durchgesetzt: die ganze Summe, die ganzen 250 Millionen … Freiherr von Conrad war sprachlos. Er rief die Mitarbeiter. Was sollte all das bedeuten? Ausflüchte der Mitarbeiter. Aber jetzt war Conrad auch schon marmorhart, wie sie ihn bisweilen kannten, mit den eisgrauen, eiskalten Blicken, die alle fürchteten. Hinter seinem Rücken hatte der Kriegsminister selbständig ein Rüstungsprogramm entworfen, das den beanspruchten Betrag fast um die Hälfte herabsetzte. Und den Referenten hatte er verboten, bei schwerster Strafe untersagt, mit dem Chef des Generalstabes, mit ihrem eigenen Chef, über das Thema auch nur zu sprechen. Sie wüßten von nichts …

Eine Depesche an den Kaiser. Fieberhaft wird, bis die Bewilligung der Audienz eintrifft, der ursprüngliche Entwurf noch einmal bearbeitet, der Freiherr nimmt ihn nach Budapest mit. Der Kaiser erklärt, daß die Angelegenheit schon erledigt sei. Die Delegationen hätten ihren Beschluß schon gefaßt. Der General bestürmt den Kriegsherrn, das Thema den Ministern selbst vortragen zu dürfen. Dagegen hat der Kaiser keinen Einwand.

Der Chef des Generalstabes hält Vortrag vor den Ministern der Monarchie. Zwei Stunden aus dem Stegreif, ohne Vorlagen, ohne Notizbücher. Um Waffen für das Heer, um Schanzen für die Grenzen zu erreichen, spricht er von Europa, von Rassenproblemen und transatlantischer Weltwirtschaft, von kommenden historischen Notwendigkeiten. Er malt einen grell belichteten Horizont, gegen den die Schwächen der Monarchie als schwere Schatten sich abheben. Die Schwächen der Monarchie zeigt er kalt, hart, ohne Rücksicht. Jede Scharte ist da, jeder Riß, durch den der Gegner eindringen wird. Von schimmernder Wehr ist keine Spur. Die Rüstung hat eigentlich nur Löcher, schadhafte Spalte und Beulen. Er gibt die Ziffern der Monarchie, die Ziffern des deutschen Bundesgenossen, die Ziffern aller Gegner, die möglich sind, aller Kombinationen, die wahrscheinlich sind. Der Russisch-Japanische Krieg ist längst vorbei. Rußland wird zum Koloß. Freiherr von Conrad liebt die Märchen nicht: das Tönerne des Kolosses ist eine Fabel. Er rechnet aus allem das Mindestmaß an Vorsicht, an Selbsterhaltung heraus, das die Monarchie sich schuldig wäre. Zwei Stunden spricht Freiherr von Conrad.

In Wahrheit ist sein Monolog ein Duell. Hier sitzt Lexa von Aehrenthal, der »österreichische Bismarck«, gefeierter Sieger gegen Europas Kabinette, den der dankbare Kaiser in den Grafenstand erhob. Er ist hochgewachsen, und selbstbewußte Sicherheit ist in ihm, die Überlegenheit böhmischen Grundadels, der nie bescheiden war in der Monarchie. Er hat die Überlegenheit der Herkunft überdies durch Fleiß ohne Aufhören vertieft, ein vielbelesener, stets vergrübelter Aristokrat, den die Mutter, die nächsten Anverwandten Stolz einen Bücherwurm nannten, ein Ungewohnter unter den Genossen seines Standes, die scheu und voll Bewunderung den Erfolg anstaunten. Er ist es schließlich gewohnt, daß jeder seinem Worte lauscht, sofern er – und dann oft derb und schroff betont – ein Wort zu sprechen überhaupt gewillt ist. Er nimmt es hin als selbstverständlich, daß alle vor ihm sich neigen, wenn er, ein seltener Gast aus eitler Einsamkeit, vom Allerheiligsten auf dem Ballplatz in eine Gesellschaft tritt. Es scheint, daß er voll Güte gegen alle Diener ist, die nicht mit Widerspruch, kaum mit dem Wagnis eigener Ansicht zu ihm kommen. Dem Gläubigen hat der Herr der Heerscharen das Amt, die Unfehlbarkeit des Amtes geschenkt. Der Ballplatz ist die Residenz des neuen Groß-Österreich, das er mit dem Absolutismus aus Alt-Österreich regiert. Immer ist die Würde, der Abglanz um ihn, den der Erfolg ihm gab, durch die Schlichtheit und Wortkargheit noch verstärkt, die vom Erfolg bloß aus halben Sätzen hören will. Er ist der unerreichte Meister, der Herr der Minister, in deren Mitte er hier thront. Sein Wink erhebt sie, sein Wink stürzt sie. Ruhig läßt er zu ihnen den Rivalen sprechen. Freiherr von Conrad ist klein, kaum Mittelgröße. Seine Gelenke sind so feingliedrig, wie Aehrenthals Knochen stark und breit erscheinen; erst wenn der Freiherr ein Wort mit rascher Geste unterstreicht, glaubt man an federnde Kräfte in seiner Zierlichkeit. Er kommt von verdientem, an Gütern ungesegnetem Soldatenadel. Sein Kopf, seine machtvoll geschliffene Stirn haben edlen europäischen Schnitt, den Schnitt zeitloser, nicht in Nationen gegliederter Menschen. Alles an ihm scheint vergeistigt, alles abgeklärt, Gliederung, Formen, selbst die Farben. Seine Stimme hat nicht die Ansätze zur Rauheit, zur Abgebrochenheit, wie die des Grafen Aehrenthal, der vor ihm sitzt, sie strömt mit warmem, baritonalen Kolorit. Die Blicke sind nicht kurzsichtig, gleich Aehrenthals müdegelesenen Augen, sie blicken ins Weite, hell erleuchtet von einem starken, inneren Strahl, und sie tauchen tief, wenn sie aus der Ferne zurückkommen, in die Augen derer, die ihm zuhören sollen. Es gibt keinen, den der Stolz dieser Blicke verwundete. Seine Bescheidenheit ist Sprichwort. Aber schon gab es viele, die sich beschämt von ihm abwandten, weil sie den Blick nicht ertrugen, und manche, die sein Blick erledigte. Er nimmt es hin als selbstverständlich, daß jeder ihn als gleich ansieht, wenn er, ein heiterer, stets rücksichtsvoller Gast, aus dem Allerheiligsten im Generalstab in eine Gesellschaft tritt. Es scheint, daß er voll Güte gegen alle ist, daß er alle anhört, alle prüft, die zu ihm mit anderer Ansicht kommen. Alle Helfer erkennt er an als Bundesgenossen, nur nicht Gott. Er wagt es gegen Franz Ferdinand, wagt es gegen Kirche und Erzbischöfe, wagt es an katholischem Hof, wo er übrigens nicht oft zu sehen ist, ein Freigeist und Kenner skeptischer Philosophen zu sein. Mit dem Grafen Aehrenthal hat er wirklich eine einzige Ähnlichkeit: Beide entdeckte, beide rief Franz Ferdinand. Zwar ist Freiherr von Conrad trotz unerbittlicher Erzieherstrenge der Abgott der Offiziere, denn er scheint ein Vorbild. Aber noch ist ihm der Erfolg versagt. Er hat nur Meinungen. Zwei Stunden lang trägt er sie vor.

Alle lauschen. Jeder lauscht, wenn Conrad einmal spricht. Auch die Minister und Aehrenthal vergaßen Zeit und Ort. Als aber Aehrenthal erwachte, besann er sich, daß ihm, trotz seiner gern gepflegten Schroffheit, bisweilen auch das Maliziöse nicht fremd.

»Was meint der österreichische Herr Minister?«

Herr von Bienerth meinte, daß der Vortrag des Herrn Chefs des Generalstabes ungemein interessant gewesen wäre, daß Österreich aber die Forderungen nicht aufbringen könnte. Der Minister des Äußeren wandte den Kopf.

»Was meint der ungarische Herr Ministerpräsident?«

Er meinte, daß der Vortrag des Herrn Chefs des Generalstabes ungemein fesselnd gewesen wäre, daß aber auch Ungarn den ihm zugemuteten Teil nicht leisten könnte.

»Ich bin ganz dieser Meinung«, erklärte der Minister des Äußeren. »Sie sehen: es geht nicht. – Ich danke dem Herrn Chef des Generalstabes für seinen ungemein fesselnden und interessanten Vortrag.«

Freiherr von Conrad achtete nicht einmal auf Aehrenthals diesmal so sichtlich geschliffene Form. Er spürte die leise Lächerlichkeit, die um ihn gebreitet werden sollte, aber sie traf ihn kaum, sie bedrückte ihn nicht, denn nur die Zukunft bedrückte ihn, für die er die Verantwortung nicht mehr zu tragen wußte. In der Ofener Burg bat er um den Abschied. Franz Joseph verweigerte ihn. Er wußte trotz Aehrenthals Gegnerschaft keinen besseren General. Freiherr von Conrad begann, an den 250 Millionen herumzurechnen. Von den Tiroler Befestigungen konnte ein Drittel ausgeführt werden. Der Karpathenschutz blieb fort. Ungedeckt blieb die Grenze gegen Serbien. Die Hochfläche von Lavarone durfte also sechs Millionen kosten. Mit der Artillerie mußte er sich kläglich einrichten. Hätte er im Audienzsaal der Wiener Hofburg von Franz Joseph nicht den Befehl an den Kriegsminister Schönaich ertrotzt, daß die von ihm geforderten großen 30,5-Mörser in Bau gegeben würden, hätte er gegen die Grenzforts der Italiener überhaupt keine Waffe besessen. Denn der Kriegsminister verzettelte nicht nur die bewilligten 250 Millionen, wozu er nicht berechtigt war, über fünf Jahre, für die ihm niemand die Kriegsministerschaft garantierte; band also nicht bloß auch einem Nachfolger die Hände. Er gab zögernd auch die Mörsermodelle in Bau. Wenn Skoda den Bau nicht vermöchte, wollte Conrad das Geschütz bei Krupp in Arbeit geben. Er hatte es eilig. Spruchreif war das Modell schon, als Herrn von Schönaich im Kriegsministerium Auffenberg ablöste, der sich dann freilich die selbstverständliche Befolgung eines unzweideutigen kaiserlichen Befehls als Erfinderschaft und Verdienst der Einführung jener Mörser anrechnete. Aber sonst war für die Artillerie nicht viel zu tun. Über den Sorgen konnte Freiherr von Conrad wirklich den Vortrag im Ministerrat vergessen, und daß er gern hatte gehen wollen. Er rechnete jetzt nur und rechnete. Er schien ein Spartaner der Pflicht.

 

Mit Freiherrn von Aehrenthal aber gingen die Reibungen weiter. Er war kein Gegner, der vergaß oder schonte, auch wenn er im Sieg war; Freiherr von Conrad war ein Soldat, der nicht an Kapitulation dachte, solange nur Aussicht auf Kampf bestand. Er hatte Franz Ferdinand hinter sich, mit dem er bisweilen in heißen Streit geriet, dem er bisweilen den Verzicht auf Amt und Würde anbot, wenn der Thronfolger in allzu tobenden Wallungen Sachlichkeit und Form vergaß. Er hatte den gleichen Franz Ferdinand hinter sich, der ihm dann bewegte Briefe der Versöhnlichkeit schrieb, ihn zornig einen Hartkopf schalt und, da er den Kopf nun einmal nicht entbehren könne, jedesmal wieder zurückbat. Zwischen Belvedere aber und Ballplatz hatten alle Beziehungen aufgehört. Franz Ferdinand war enttäuscht, Graf Aehrenthal schien ihm blind, von Aktenbündeln benommen, ohne Horizont. So viel der Thronerbe beim Kaiser vermochte – gegen Aehrenthal vermochte er nichts. Der Kaiser, der als junger Herrscher Venetien und die Lombardei verloren hatte, dankte Aehrenthal im Ausgang seiner Herrscherzeit Bosnien und die Herzegowina, zwei weite, blühende Provinzen. Schon dies war viel, daß er gegen den Minister den General hielt, nicht nur, weil darin Franz Ferdinand störrisch war, noch mehr, weil auch auf ihn das Wesen Conrads, das starke, sichere Licht, das aus seinem Blick, von jedem seiner Worte, von jedem seiner Gedanken strömte, nicht ohne Eindruck blieb. Freiherr von Conrad aber hätte nicht aufgehört, Aehrenthal zu befehden, wo immer, wann immer er es für nötig hielt, auch wenn Franz Ferdinand nicht hinter ihm gestanden hätte. Die Reibungen gingen unaufhörlich weiter. Der General stieß mit dem Minister in den Rüstungen zusammen, in der italienischen Frage. Die Spannung mußte schließlich der Explosion zudrängen. Um so mehr, als jedes Schutzfort an der Tiroler Grenze schließlich durch Aehrenthals Veto schon fiel, noch ehe Freiherr von Conrad zu bauen begonnen. Und die Explosion war plötzlich da, als der österreichisch-ungarische Botschafter in Rom, in einer der vielen Angelegenheiten, die in Aehrenthals Verbrüderungswerk mit Italien beständig schwebten, gar nichts von Energie, gar nichts von Haltung hatte erkennen lassen. Freiherr von Conrad schluckte den Ärger nicht hinunter. An Aehrenthal schrieb er: »Ihr Botschafter in Rom vertritt nicht die Interessen der Monarchie.« Der Graf antwortete scharf, der Baron noch schärfer. Jetzt hatte Aehrenthal genug. Er ging zum Kaiser. – –

Franz Ferdinand aber schickte seinen Kanzleichef zum Baron. Der Bruch sei unvermeidlich. Natürlich würde sich der Kaiser für Aehrenthal entscheiden. Die Enthebung sei beschlossene Sache, der Kaiser aber wünsche, morgen mit dem General selbst über den Rücktritt zu sprechen. Um keinen Preis bitte er, Franz Ferdinand, die Flinte ins Korn zu werfen. Vielmehr beschwöre kaiserliche Hoheit den Baron, dem Heere »in der Aktivität« weiter anzugehören. Conrad hörte es im ungeheizten Zimmer seiner Soldatenwohnung an. »Wenn ich hier meine Ruhe habe, ist mir alles recht. Aber wenn man will: ich bleibe auch aktiv« … Und zum erstenmal mit leisen Zügen der Verbitterung: »Mir ist das alles eins« … In Schönbrunn ist der Kaiser mehr als gnädig. Der Baron hätte immer offen als Mann zu ihm gesprochen. So könnten sie beide auch jetzt als Männer offen miteinander sprechen. Der Freiherr hätte fortwährend Anstände mit seinem Minister des Äußeren. Seinen Minister des Äußeren könne er nicht entlassen. Dessen Politik müsse er, der Kaiser, mitmachen. Darum enthebe er den Baron, aber ernenne ihn zu seinem Truppeninspektor.

Freiherr von Conrad blieb im Heer, Blasius von Schemua wurde sein Nachfolger, der nicht weiter hervortrat. Conrad ging den spärlichen Aufgaben seiner neuen Würde nach, die ihn schwerlich ausfüllten. Aber nicht allzu lange nach der Schönbrunner Audienz wurde er nach dem Belvedere gerufen. Viel Zeit zum Veratmen hatte er nicht gehabt. Im Belvedere wartete Franz Ferdinand höchst ungeduldig.

Der Baron müsse also nach Rumänien – –

Rumänien? Conrad versuchte abzuwehren. Warum denn gerade er? Zumal das doch Sache des Chefs des Generalstabes wäre. Aber Franz Ferdinand bestand auf seiner Wahl. Conrad hätte die ganzen Verhandlungen geführt, hätte alles mit König Karol durchgesprochen. Er wisse mit allem Bescheid. Wen sollte er, Franz Ferdinand, denn eigentlich schicken? Baron Conrad fuhr nach Rumänien.

Mit Karol und Averescu verhandelte er in Bukarest. Wenn Rußland Krieg begann, sollte das Königreich an der Seite der Monarchie sein. Über den Aufmarsch hatten die Rumänen Bedenken. Aus Sorge vor Bulgarien sollte das rumänische Heer erst vor Bukarest versammelt werden. Dann wollte man es bei Galatz tun. Conrad wollte die Truppenversammlung in der Moldau. König Karol hatte die Ehre des Oberbefehls. Die Monarchie hatte die Wahrheit des Oberbefehls. Es stimmte alles. Freiherr von Conrad fuhr nach Wien zurück. Und ging spazieren.

 

Aehrenthal starb. Vor seinem Sarg, dem höfische Anordnung ein »Gepränge ohne Präzedenz« mitgab, neigte sich Europa. Der größte Staatsmann seiner Zeit war tot. Noch aber hatte man im Familienerbbegräbnis in Böhmen den Sarg nicht beigesetzt, da riß von einem Stoß, von einziger Durchschütterung das Haus entzwei, das Lexa von Aehrenthal in sechsjähriger Gottähnlichkeit gebaut hatte. Der Balkankrieg brach aus. Plötzlich stand Aehrenthals ganzer Bau zersplittert. Nie wurde schneller, nie grausamer eines Staatsmannes Werk verneint. Nichts hatte er erkannt, alles hatte er verkannt. Und in die Erinnerung an ihn drängte jetzt sich eines Mahners Bild: Conrad von Hötzendorf … Die Geister begannen sich zu materialisieren. Es geht jetzt Schritt um Schritt, die Ereignisse sind ohne Hemmung, der Horizont ist hoffnungslos. Serbien bittet die Monarchie um neutrales Wohlwollen gegen den »türkischen Unterdrücker« und vereinbart mit Bulgarien Mobilisierung gegen Österreich-Ungarn. Sie alle, Serbien, Bulgarien, Griechenland, Montenegro, denen der noch nicht beendete Tripoliskrieg das Signal zur türkischen Erbschaftsteilung gab, rufen den Schirmherrn aller Slawen, den Zaren, als obersten Richter über Krieg und Kriegsausgang an. Aber der König von Montenegro wartet nicht auf den Zaren. Seine Angst ist, daß der Krieg im letzten Augenblick noch Trugbild sein und abgesagt werden könnte. Er läßt die Kanonen gegen Skutari feuern. Das Wetter ist da. Blitzschläge fallen bei Kirkilissa, Kumanowo, bei Adrianopel und Tschataldscha. Die Serben marschieren gegen Bulgarien. In den Rücken der Bulgaren marschieren die Rumänen. Der Handel um Albanien beginnt. Der König von Montenegro will Skutari nicht verlassen. Jetzt beginnen die Kabinette vom ersten Schreck sich zu erholen. Sie werfen eine Weile, da Poincaré einen Vorschlag wußte, der nicht durchdrang, mit hundert »Formeln« herum. Sie werden abgelöst durch den Kinderglauben an den » Status quo«. Auf der Londoner Reunion duellieren sich, indes der Abwechslung halber jetzt wieder die Türken auf Adrianopel vormarschieren, die Botschafter Rußlands und des Grafen Berchtold um Skutari. Vor Cattaro marschieren österreichisch-ungarische Gebirgsbrigaden. Die Torpedoboote schrillten in der Bocche. Der König von Montenegro weinte. Dann besetzten, als er dennoch abzog, Skutari die Detachements der Mächte. In Bukarest wurde Frieden gemacht, ein Frieden, der keinem recht war. Die Bulgaren rollten die Fahnen ein. Die Serben rüsteten heimlich zum Einmarsch in Albanien. 1914 wollten sie es tun … Noch einmal hatten die Noten, die Akten, die Kabinette zum Schlusse triumphiert. Ein paar Monate Schweigen und Erschöpfung. Dann kracht ein Donner in die Stille der Müden. Jetzt waren die Geister wirklich materialisiert. Franz Ferdinand lag ermordet.

Totenruhe über Europa. Einer der letzten Männer, dem der Erzherzog in Serajewo noch die Hand zum Abschied gedrückt hatte, war Conrad von Hötzendorf gewesen. Längst war der Baron nicht mehr spazierengegangen. Als der Balkan unruhig, als Europa unsicher wurde, hatte der Thronfolger ihn noch einmal geholt. Conrad hatte gemurrt, Franz Ferdinand befohlen. Bei der Jahrhundertfeier der Leipziger Völkerschlacht hatten sie sich zerzankt. Der Erzherzog hatte einen seiner Anfälle gehabt. Conrad verschwand damals nach Steiermark, der Kabinettschef stöberte ihn auf. Der Thronfolger schrieb einen seiner bewegten Briefe, acht Seiten lang. Seit Leipzig hatten sie einander kaum gesprochen. In Serajewo war alles vergessen. Von dort war der Baron vor der Abreise des Erzherzogs mit seinem Stab auf die alljährliche Generalsreise gegangen. In Agram trifft ihn die Nachricht von dem Attentat. Er telegraphiert an den Kaiser, daß es besser wäre, die Generalsreise abzubrechen, und die Generale heimzuschicken. Er selbst gehe nach Wien.

Er ging dann nach Tirol. Noch konnte zu Europas Beruhigung der Schein gewahrt werden. In Wien entrüstete sich laut der Gesandte eines befreundeten deutschen Staates: »Ob es so weit schon gekommen, daß man sich, jede Ohrfeige müßte gefallen lassen.« Die hohen Militärs wiederholten Moltkes Wort: »Daß es zur Katastrophe einmal kommt, das wissen wir: je früher, um so besser für uns …« Aber die hohen Militärs in Wien wußten nichts. Niemand wußte etwas. Vielleicht verhandelte Graf Berchtold mit Berlin, vielleicht auch nicht. Jedenfalls: von seinen Plänen und Handlungen wußte keiner.

Am Wiener Ballplatz wurden dann die Minister zusammengerufen. Der Chef des Generalstabes, den man aus Tirol zurückgeholt hatte, wurde vom Grafen Leopold Berchtold, der den Vorsitz führte, als Experte befragt. Er hatte lediglich über militärische Aussichten zu sprechen, kein Wort zur Situation. Weder von einem Ultimatum an Serbien, noch sonst einem Ultimatum war die Rede. Freiherr von Conrad entwickelte die Möglichkeit jeder gegnerischen Konstellation und verbarg seine Auffassung nicht, daß die Monarchie einem Kriege nach drei Fronten nicht gewachsen sei. Er berief sich dabei auf die gleiche Anschauung, die er über die Gefahr einer solchen Verwicklung seit Jahren schon zum Ausdruck gebracht hatte. Er ging dabei auf jede Einzelheit eines möglichen internationalen Zusammenstoßes ein. Da warf Graf Berchtold eine Frage auf: Ob sich die Chancen der Monarchie in den nächsten Jahren verbessern würden? Freiherr von Conrad dachte an den Vortrag zu Budapest, an die Widerstände der Ungarn, an seine zweihundertfünfzig Millionen Rüstungskredit, an das ganze Rüstungstempo, an die Rüstungen der anderen. Er hätte lügen müssen: nein, die Chancen könnten sich nicht verbessern. Sie könnten sich im Gegenteil bei der geringen Neigung in der Monarchie für Aufwendungen an das Heer und bei der immer drohenderen nationalistischen Propaganda nur verschlechtern. Es war die geforderte, rein sachliche Antwort des militärischen Experten. Weiter fragte Graf Berchtold nichts. Dann ging man auseinander.

Zur entscheidenden Sitzung wurden die Minister ein paar Tage darauf in die Wohnung des Grafen Berchtold gerufen. Der Kaiser war nicht gekommen. Aber Stephan Tisza war da, Graf Stürgkh für Österreich, Freiherr von Conrad, der Kriegsminister Krobatin, endlich ein Fachmann der Marine. Wieder führte Leopold Berchtold den Vorsitz. Zwei höhere Beamte aus dem Präsidialbureau des Ministeriums des Äußeren, beide mit allen Feinheiten und Genauigkeiten des Französischen, der Diplomatensprache, wohl vertraut, harrten als technische Hilfskräfte des wichtigen Aktes ihrer Verwendung.

Leopold Berchtold verlas eine Note. Niemand erhob Einwand. Nur Tisza schwankte eine Weile. Alle Verwicklungen, die für Ungarn nationale Probleme beschwören konnten, waren ihm unbehaglich. Aber auch Tisza gab schließlich die Zustimmung.

Die Note enthielt Schärfen. Daß die Zulassung von Vertretern der Monarchie bei den Belgrader Untersuchungen gefordert wurde, war jedem klar, denn der Verdacht war nahe, daß nicht nur Pasitsch, daß das Königshaus selbst in den Königsmord verwickelt war. Die Note hatte schärfste Fassung, wie es sein mußte, wenn man die Auffassung vertrat, daß die brutal herausgeforderte Monarchie volle Genugtuung und die Sicherheit bekommen sollte, daß die serbische Wühlarbeit aufhören werde.

Jetzt ging man an die endgültige Formulierung des Wortlautes, die letzten Abänderungen wurden besprochen. Die Diplomaten berieten sie. Die beiden Stilisten aus dem Ministerium des Äußeren feilten dann noch. Die Soldaten hatten keinerlei Entscheidung. Der fertige Text wurde noch einmal verlesen. Die Sitzung wurde darauf sofort geschlossen.

In Schönbrunn verlor der alte Kaiser nicht einen Augenblick die Fassung. Er wußte jetzt, daß die Monarchie unterminiert war, daß sie zwischen Untergang und letzter Rettung schwebte. Freiherrn von Conrad fragte er, wie es um die Mobilisierung stünde, ob alles in Ordnung sei. Vollkommen, beruhigte der General. Ohne Merkzeichen der Erregung unterschrieb Franz Joseph vor dem Minister des Äußeren die Kriegserklärung. Der aber als einziger die Katastrophe angesagt hatte, ein Prediger in der Wüste Jahr um Jahr, dem Ballplatz verhaßt als unbequemer Geisterseher, ein Schwadroneur für Aehrenthals Ministerkollegen, die hinter ihm Intrigen spannen, der öffentlichen Meinung verschrien als Parteihaupt eines Krieges, dessen Voraussicht niemand begriff: jetzt stand Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf ganz allein. Er hatte an eine Abwehr gedacht in rechtzeitigem Angriff, 1907 und 1909, als herausgeforderte Auseinandersetzungen die Monarchie nicht erschüttert, die Menschheit nicht verblutet hätten. Nunmehr mußte Europa der Kampfplatz sein, die große Szenerie war da, alle mußten sie nunmehr kommen: Rußland und Frankreich, England und Italien – ganz Europa, mit dem Conrad das Ringen hatte verhüten wollen. Die Zeit von 1907 und 1909 war vorbei: seit damals hatte er, je weiter das zweite Jahrzehnt fortschritt, den Krieg am liebsten vermieden gesehen. Denn er konnte nur mehr die letzte schwere Verteidigung bedeuten. Die Frage ging nicht mehr um Größe und Glanz, die Frage ging um Sein oder Nichtsein. Vielhundertjähriges sollte erweisen, ob es stehen, ob es stürzen wollte. In den Sturmtagen rief der alte Kaiser aus: »Gut, wenn es sein muß. Aber dann wollen wir wenigstens mit Anstand untergehen.« Verhängt schien die Zukunft, nur das Recht des Kaisers, das Recht aller, die mit ihm im eigenen Hause leben wollten, war klar. Ohne Merkzeichen der Erregung unterschrieb er die Kriegserklärung.

Die Diplomaten aber redeten nicht mehr. Auch die Minister schwiegen. Sie hatten dem Freiherrn von Conrad den Angriff verwehrt, als er der Katastrophe zuvorkommen wollte, sie hatten ihm dann, als er gegen den Angriff um Waffen kämpfte, die Waffen abgeschlagen. Aber jetzt sahen sie alle nur auf ihn. Plötzlich fiel ihnen ein: Er war die Hoffnung der Armee. Er war der Kopf des Heeres. Auf ihn kam es an, er war der Retter. Von ihm konnte man alles verlangen. Jetzt gab es nur mehr die Ultima ratio. Wortlos fuhr Baron Conrad ins Hauptquartier.


 << zurück weiter >>