Frank Norris
Der Ozean ruft
Frank Norris

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Vierzehntes Kapitel

Der Ozean ruft

Wenige Zeit, nachdem Wilbur zur Station gefahren war, erschien Jim an der Tür der Kajüte, eben als Moran am Tische die letzten Eintragungen in das Logbuch machte.

»Was gibt's?« fragte sie aufblickend.

»Chinaboy wollen gehen an Land, gehen Chinatown!«

»Also Landurlaub, nicht?« forschte Moran, »ihr seid schon einmal verschwunden, ohne »Auf Wiedersehen!« zu sagen, ich will meine Hand ins Feuer legen, daß ihr diesmal mit einem Opiumrausch wiederkommt. Seht zu, daß ihr fortkommt! Wir werden in wenigen Tagen hier andere Leute an Bord haben.«

»Gehen können?« fragte Jim unsicher?

»Ja, melde unsere Ankunft an, bei den »Sechs Kompanien!«

Hoang ruderte Jim und die Kulis an Land, kehrte aber dann mit dem Boot zum Schoner zurück und befestigte es am Heck.

Als er dann am Weg nach vorne an der Kajütentüre vorbeikam, rief Moran ihn an.

»Ich dachte, auch du bist mit an Land gegangen?«

»Viel Furcht«, gab er zur Antwort, »andere Boys gehen Chinatown, erzählen Sam Jup, diese mich töten. Nicht wollen Schiff verlassen, zwei, drei Tage, dann vielleicht. Oregon gehen. Bleiben auf Schiff, ihr brauchen Koch, ich sehr gut kochen. Wache halten auch für euch!«

Seit sie von Coronado weg waren, hatte sich der gezähmte Strandräuber tatsächlich auf dem Schoner nützlich zu machen gewußt. Er war die Unterwürfigkeit selbst und schien das Bestreben zu haben, sich Morans und Wilburs Zuneigung zu erringen.

Er verstand das Englisch der Chinesen besser als Jim und sprach es sogar fließender als Charlie es einst konnte.

Hoang hatte nun zwischen Wilbur und den Chinesen den Dolmetscher gespielt, hatte auch in der Küche gearbeitet und sich Wilbur von selbst angeboten, das Schiff oberhalb der Wasserlinie zu streichen.

Moran wandte ihr Augenmerk wieder ihrem Logbuch zu, Hoang aber ging nach vorn.

Während er auf dem Vorderdeck stand, beobachtete er, wie die Chinesen der »Bertha Millner« hinter einem Kiefernwäldchen verschwanden, um ihren Weg zur Stadt einzuschlagen.

Wilbur war nirgends zu sehen.

Hoang tat, als schösse er ein langes Tau auf, in der Tat beobachtete er aufmerksam die Station.

Diese war außer Rufweite. Kein Mensch weit und breit zu sehen. Die lange Küste wie das Hinterland waren einsam und leer, die Stadt in weiter Ferne.

Hoang kletterte ins Vorschiff und griff unter seine Koje.

»Was gibt es denn?« fragte Moran, als der Räuber ihre Kajüte betrat und die Tür hinter sich schloß.

Hoang blieb die Antwort schuldig, doch im selben Augenblick hätte sich diese auch erübrigt.

Moran wußte nun ganz genau, warum er da vor ihr stand.

»Mein Gott!« rief sie und sprang auf, »warum haben wir daran nicht gedacht?«

Aus Hoangs Ärmel glitt ein Messer in seine Hand.

Einen Atemzug lang erwachten in Moran alte Kräfte, ihr wilder Stolz und Zorn bäumten sich nochmals auf, um dann für immer in sich zusammenzusinken.

Sie war längst nicht mehr die Moran, wie in dem ersten Kampf an Bord der »Bertha Millner«, als eben derselbe Räuber ihr den Schatz abgezwungen hatte.

Vor zwei Tagen noch hätte sie keine Minute gezögert oder Erbarmen empfunden, sondern mit Hoang gerungen, sie würde einfach ein Tischbein ausgebrochen haben, um es ihm über den Schädel zu schlagen.

Aber sie hatte seither fühlen gelernt, was es bedeutet, unfrei zu sein, sich unter den Schutz eines anderen zu begeben, der mehr Kraft besaß als sie, sie war sich ihrer Schwäche bewußt geworden, nun wußte sie, daß sie ein Weib war und hatte es mit Stolz empfunden.

Sie kämpfte nicht, es kam ihr nicht einmal der Gedanke, zu kämpfen.

Unwillkürlich schrie sie:

»Maat – Maat! Ach, Maat, wo bist du denn? Hilf mir!«

Unter Hoangs Messer erstickte der Notschrei in ihrer Kehle.

Der »Schatz« lag in einem messingbeschlagenen Kasten unter einer der Kojen in der Kajüte, wohlverwahrt in zwei Säcken.

Hoang zog diese hervor, band sie zusammen, schwang sie über die Schulter und begab sich an Deck.

Er betrachtete aufmerksam den düsteren Himmel und die hochgehenden Wellen, prüfte Wind und Strom, um dann wieder nach vorne zu gehen, wo er die Ankerkette von der Winde löste, so daß sich der Schoner beim ersten heftigen Zuge unabwendbar losreißen mußte.

Das Boot hing indes immer noch am Heck an der Belegleine.

Hoang ließ die Säcke ins Boot fallen, schwang sich über Reling und ruderte gelassen zum Bollwerk der Station.

Den ursprünglichen Gedanken, mit dem Schoner in See zu gehen, hatte er sofort aufgegeben.

Nun war Chinatown sein Ziel, dort, im Schutze seiner Landsleute, glaubte er sich sicher. Kannte er doch die Verstecke, die von der See-Yup-Association für ihre Mitglieder bereitgehalten wurden, es waren Höhlen, von deren Bestehen selbst die »Polizei der weißen Teufel« keine Ahnung hatte.

Unbehindert, unbeachtet vollzog sich seine Fahrt zur Station.

Er war doch bloß ein Kuli, der ein paar Säcke auf der Schulter trug.

Zwei Stunden später war Hoang im Chinesenviertel von San Franzisko untergetaucht.


Wilbur war beim Anblick des ins Meer hinausstürmenden Schoners zunächst wie vom Blitz getroffen dagestanden.

Was war geschehen? Wo war Moran?

Da fuhr in ihm jäh eine dunkle, grauenvolle Ahnung hoch.

Plötzlich vernahm er Pferdegetrappel auf der Straße, die zur Feste führte.

Hongson war gekommen, er sprang von einem seiner Pferde, die sonst zum Einholen des Rettungsbootes dienten, er kam barhäuptig, außer Atem auf Wilbur zu.

»Um Gottes willen«, rief er, »Ihr Schoner, sehen Sie hin! Das Schiff hat sich losgerissen, nachdem ich weggelaufen war, um Ihnen zu sagen – – zu sagen – – das Mädchen an Bord – – es war entsetzlich!«

»Ist sie geborgen?« schrie Wilbur auf, brüllte, denn der Sturm wuchs mit jeder Sekunde an.

»In Sicherheit? Nein, tot ist sie – – irgend wer, ich glaube, einer der Kulis – – hat sie erdolcht! Ich kam hin, um Sie zum Essen einzuladen ...!«

»Getötet? Erdolcht? Wer? Ich kann's nicht glauben, nein?«

»Geduld, also um euch beide zum Abendessen herüberzuholen, da fand ich sie am Boden der Kajüte. Sie atmete noch! Ich trug das Mädchen an Deck, dort, dort verschied sie. Nun aber stürzte ich hierher, um Ihnen Nachricht zu geben und ...«

»Barmherziger Gott! Wer hat sie getötet? Wo ist Moran? Nein – – – es kann nicht wahr sein! Woher wissen Sie es? Moran – – – getötet!«

Der Schoner riß sich los, kurz nachdem ich ihn verlassen hatte.

»Moran getötet! Aber, nein, sie ist doch nicht tot, wir wollen uns überzeugen ...«

»Doch, sie starb an Deck, ich selbst brachte sie hinauf und legte sie ...«

»Wieso wissen Sie, daß sie wirklich tot ist? Wo ist sie? Kommen Sie, wir wollen zu ihr – – – zur Station!«

»Sie ist doch an Bord – da draußen!«

»Wo –, wo ist Moran? Mein Gott, Mann, sag mir, wo sie ist!«

»Da draußen an Deck des Schiffes. Ich trug sie hinauf, ich ließ sie auf dem Schoner, einen Messerstich hatte sie durch den Hals, dann kam ich zu Ihnen. Während ich unterwegs zu Ihnen war, riß sich der Schoner los, da treibt er hin auf dem Meer.«

»Wo ist sie, wo ist Moran?«

»Das Mädchen, auf dem Schoner ist sie, der da auf hoher See treibt!«

Wilbur preßte beide Hände an die Schläfen und schloß die Augen.

»Jetzt muß ich zurück!« rief Hodgson, »wir wollen das Rettungsboot holen und nachfahren, wir werden ihre Leiche bergen.«

»Nein, nein!« rief Wilbur, »es ist besser so! Laß sie, lassen wir sie, sie fährt hinaus in den Ozean, wieder in ihre See!«

»Aber der Schoner hält sich bei diesem Sturm keine zwei Stunden, er wird sinken!«

»Laß sein, es ist besser so, laß sie! Ich will es so!«

»Ich kann nun wirklich nicht länger bleiben! Es geht nicht!« erklärte Hodgson. »Der Sturm steigt auf. ich muß zur Station, meine Pflicht ...!«

Wilbur sagte nichts mehr, er sah nur nach dem Schoner.

»Ich muß gehen«, rief der andere nochmals, »wenn die Wache Signal gibt, ich muß zu meinem Dienst. Kommen Sie mit? Sie können ja doch nichts mehr ändern!«

»Nein!«

»Also, jetzt muß ich weg!«

Hodgson lief weg, schwang sich aufs Pferd und ritt in rasendem Galopp dahin, den Kopf unter den Böen geduckt.

Inmitten der sprühenden Wellen und des weißen Schaumes, in spritzenden Gischt gehüllt, kam die »Bertha Millner« in die enge Straße des »Goldenen Tores«.

Der Wind sang in der Takelage, die Wasser schäumten vorn am Bug, die Flagge knatterte im Sturm. Der Schoner stieß mit der Strömung hinaus. Gemeinsam mit den Wellen strebte er dem Ozean zu, der da draußen unter den hängenden Wolken nach ihm schrie.

Wilbur erklomm die Höhe des alten Forts. Er stand nun hochaufgerichtet auf den Granitblöcken, blickte hinüber und wartete.

Nicht ein einziges Mal hielt die »Bertha Millner« bei ihrer Todesfahrt an.

Wie ein losgerissenes Rennpferd, das Zaum und Zügel abgeworfen hat, stürmte sie dem Ozean wie einer Weide zu.

Immer näher kam sie, tanzend mit den Wellen, den Bugspriet wie einen Finger nach dem Meere gerichtet, nach Westen – in eine Welt der Romantik, der Abenteuer.

Schließlich, als das Schiff gegenüber dem alten Fort, kaum hundert Meter entfernt, vorbeizog, sah Wilbur Moran mit ausgebreiteten Armen und ruhigem Gesicht auf dem Deck des verlassenen, fliehenden Schiffes liegen, wie auf einer Bahre, still und stumm, die goldenen Zöpfe über der Brust.

Nun war sie allein mit der See, einsam im Tode, wie sie es im Leben gewesen war!

Moran ging aus Wilburs Leben, wie sie gekommen war, allein, auf treibendem Schiffe, des Meeres Beute.

Da zog sie hin mit dem Strom, dahin mit dem Sturm, weit, ewig weit hinaus auf den riesigen, grauen Ozean, der sie verstand und liebte und nun nach ihr schrie, der jubelnd dröhnte, da sie nun zu ihm kam, wie die Braut zum Bräutigam.

»Fahr wohl, Moran!« rief Wilbur, als sie vorbeifuhr, »fahr wohl! Fahr wohl! Moran! Du warst nicht für mich – nein, nicht für mich! Der Ozean ruft dich, Liebste, hörst du ihn? Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«

Der Schoner zog vorbei wie in einer wilden Jagd, schoß wie ein Pfeil durch den strudelnden Strom des »Goldenen Tores« und tauchte, neigte sich vor dem Pazifik, der ihm lockend seine Finger entgegenstreckte.

Diese umkrallten ihn, packten fest zu und zogen das Schiff jäh hinaus an die große, wogende Brust, die voll gewaltiger Freude stürmte und wallte, im wilden Frohlocken des Besitzens.

Wilbur blickte ihm nach.

Der Schoner wurde in der Ferne immer kleiner, ward zum Schatten, der auf der großen, grenzenlosen Wasserwüste dahinzog.

Immer schemenhafter wurde die »Bertha Millner«, schwand, erschien, hob sich empor, kaum mehr als ein Punkt am westlichen Himmel, ein Pünktlein, das schwand und blaßte, um endlich langsam eins zu werden mit dem Grau des Horizontes.


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