Frank Norris
Der Ozean ruft
Frank Norris

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Drittes Kapitel

Lady Lette

Ein anderer Tag verging, ein zweiter. Ehe es Wilbur zu Bewußtsein kam, hatte er sich in sein neues Leben eingewöhnt. Eines Morgens erwachte er sogar mit dem echten Gefühl einer Freude an diesem Leben.

Mit jedem Tage wurde die Luft wärmer. Am fünften Tag nach ihrer Ausfahrt aus San Franzisko wurde es wahrhaftig heiß. Das Pech in den Decknähten der »Bertha Millner« wurde weich, aus den Masten träufelte das Harz.

Die Chinesen trugen auf dem Deck nur mehr einen ganz leichten Anzug aus Baumwollstoff.

Kitchell nahm längst weder Rock noch Weste. Das Ölzeug fing an, Wilbur unerträglich zu werden.

Schließlich sah er sich in der Notlage, von Charlie einen baumwollenen Anzug und ein Paar Sandalen, ebensolche, wie sie die Kulis trugen, gegen sein Taschenmesser einzuhandeln. Er nahm sich sonderbar darin aus. Der Kapitän unterwies ihn, wie er das Steuer führen müßte, und versprach sogar, ihm den Gebrauch des Sextanten und eine leichtverständliche Art der Küstennavigation zu erklären.

Ferner zeigte er ihm, wie man das Log las und den zurückgelegten Weg ungefähr errechnete.

Während seiner Wachen beschäftigte sich Wilbur zumeist damit, das Innere der Kajüte zu streichen, ebenso Türen, Schwellen und brüchige Leisten.

In der Mitte der folgenden Woche, als die »Bertha Millner« etwa in Höhe von Point Conception war, befestigte er mit drei Chinesen am Vormast einen Mastkorb nach Kitchells Anweisung.

Am nächsten Morgen, gerade während Charlies Wache, wurde ein Chinese hinaufbeordert; von da ab befand sich nun immer ein Wachtposten auf dem Mast.

Mehr denn einmal ließ Wilbur seinen Blick über die weite, glänzende Fläche des indigoblauen Ozeans wandern, um den Zweck des Ausgucks zu ermitteln. Schließlich trieb ihn seine Wißbegier zu Mitchell.

Der Kapitän war inzwischen ganz freundlich zu Wilbur geworden.

Einerseits freute ihn die Gesellschaft eines Weißen, anderseits begann er Vertrauen in Wilburs Urteil zu fassen.

Kitchell hatte schon des öfteren erwähnt, daß Wilbur scheinbar Verstand hätte.

»Siehst du, mein Sohn«, erklärte er Wilbur. »wir jagen natürlich dem Lebertran der Haie nach, aber außerdem beobachten wir jede Gelegenheit, die sich uns bietet, mag dies nun ein Wrack sein oder irgend ein anderer Fang. Bedenke nur die Prämien, welche die Versicherungen für die Bergung leck gewordener Schiffe bezahlen. Neben dem regulären Handel bietet die See tausend günstige Gelegenheiten zum Verdienen. Glaub mir, diejenigen, welche auf die großen Städte verzichteten und auf die See hinausfuhren, verdienten Tausende. Wegen der Wache aber, glaub mir's, mein Sohn, wenn du dein Auge umher spähen läßt«, er wies mit der Hand über den weiten Ozean, »scheint es wohl, als sei nichts da, aber glaub mir's, kein Fleckchen gibt es auf dieser dreckigen Erdkugel, wo du leichter Sachen, unerhoffte Sachen finden kannst, als auf der See. Wenn du das Land einmal hinter dir hast, kannst du tausend gegen eins wetten, daß sich etwas Unerwartetes ereignet.«

Am nächsten Tag war völlige Flaute. Der kräftige Nordwest, der sie vom »Goldenen Tor« hiehergebracht hatte, war zum Zephyr verwandelt.

Der Schoner glitt langsam nach Süden, gemach wie ein Tier auf der Weide.

Mittags, gerade nach der Mahlzeit, kam das milchblaue Wasser der durchsichtigen Flut in Strömung.

Unter dem Bugspriet sangen die Wellen ihr Lied.

Es war heiß.

Über dem Hauptmast stand die Sonne als goldener Teller.

Die Chinesen schliefen oder sogen Opium. Charlie hatte Wache.

Kitchell döste in seiner Hängematte im Schatten des Hauptsegels.

Wilbur nahm seinen Farbentopf in die Kajüte und strich.

Tiefe Stille herrschte. Es war die Mittagsstille auf sommerlicher See.

Da brach ein Ruf der Wache im Mastkorb die Stille.

»Hoi – ho! Hoi – ho!« schrie der Mann und lehnte sich aus dem Korbe.

Dann legte er die Hände an den Mund:

»Hoi – ho, zwei, viele, viele Schildkröten voran, hoi – ho, alles die gleichen großen Schildkröten.«

»Hallo, hallo!« rief nun auch der Kapitän, aus der Hängematte gleitend. »Schildkröten? Wo denn?«

»Ich denke, etwa einige hundert Meter voran, vier Schildkröten, gerade vor unserem Bug.«

»Schildkröten, he! Steuer herum, Jim. Hole den Klüver dicht!« befahl er dem Manne am Ruder.

Dann rief er den Leuten vorne zu:

»Macht das Boot klar! Mein Sohn, Charlie und du, Wing, hinein ins Boot. Wacht doch auf und schlaft nicht schon wieder ein!«

Das Boot wurde hinausgeschnellt. Die Männer kletterten hinein, setzten sich schnell an die Plätze bei den Riemen.

»Nun los«, rief der Kapitän, der sich mit einem Fischhaken an die Spitze des Bootes gesetzt hatte. »Hallo, Jim«, schrie er zu dem Manne im Korbe hinauf. »Sag uns den Kurs an!« Die Wache nickte, daß sie verstanden hatte.

Die Ruder tauchten ins Wasser und das Boot schnellte in die angegebene Richtung.

»Kannst du rudern, mein Sohn?« klang Kitchells mißtrauische Frage.

Wilburs Antwort war ein Lächeln. Dann fügte er hinzu: »Sag Charlie und Wing, sie sollen die Riemen einziehen und gib mir ein Paar.«

Zögernd stimmte der Kapitän zu. »Nun«, meinte er bärbeißig, »was gedenkst du zu tun, Sonny?«

»Dir den Bob-Cock-Schlag zeigen, mit dem wir unser Boot führten, als wir Harvard schlugen«, gab Wilbur zurück.

Kitchell beobachtete voll Zweifel die ersten Schläge, dann sah er mit steigendem Interesse die Reichweite, die vortreffliche Beinarbeit, den Schwung, den leichten Einsatz und die tadellose Auslage

Das Boot schnitt wie ein Motorboot das Wasser, zwischen zwei Schlägen nahm man kaum ein Vermindern des Tempos wahr.

»Wenn ich auch jetzt etwas außer Form bin«, meinte Wilbur, »und noch an den Rollsitz gewöhnt aber ich glaube, es geht an.«

Kitchell bestaunte die menschliche Maschine, welche einst Nr. 5 in dem Yale-Boot gewesen war und sah, wie das Wasser vom Bug des Bootes sprühte.

»Mein Gott!« entfuhr es ihm unwillkürlich. Weit spuckte er über Bord und sog nachdenklich den braunen Saft aus dem Schnurrbart. »Sagte ich's nicht schon, daß du was verstehst, mein Sohn«, meinte er dann.

An der Spitze des Bootes stand nun der Kapitän und seine Augen suchten den Ozean ab, dann sah er wieder zu dem Chinesen hinauf im Mastkorb des Schoners. Er rief: »Halt! Riemen einziehen, langsam, ruhig jetzt, verdammte Gesellschaft! Dicht daran sind wir – bei Gott, vier Dinger, so groß wie die Platte eines Eßtisches!«

Man zog die Riemen ein.

Der Schuß des Bootes verlangsamte.

»Paddel heraus, setzt euch auf die Borde und paddelt behutsam.«

Die Männer taten so.

Des Kapitäns Stimme senkte sich zum Flüsterton, er kehrte den Leuten den Rücken, die freie Hand gab ihnen Zeichen. Als Wilbur über das Wasser blickte, sah er nah unter der Oberfläche, kaum sechzig Meter weg, etwas Rundliches, Grünes. Es sah aus wie ein schwimmender Seetank.

»Halt – steuerbord«, flüsterte der Kapitän. »Vor wärts – backbord, alles stop, halt, halt!«

Die Begebenheit nahm die Spannung eines Dramas an – ein kleines Drama mitten auf hoher See.

Unmittelbar packte Wilbur Erregung. Er fand, daß dies Leben trotz allem nicht so reizlos sei. War das doch ein ebenso aufregender Sport wie das Jagen der Hirsche!

Zoll um Zoll stieß das Boot nach vorne. Kitchells flüsternde Stimme wurde so leise wie die eines verscheidenden Kindes.

»Alles ruhig – – ru – hig –«

Plötzlich stieß er mit dem langen Haken schnell zu und schrie:

»Ich hab sie, faß doch die Schwanzflosse, dummes Luder, schnell, laß nicht los, hast du sie, Charlie? Wenn sie auskommt, du Schwein, ich spieß dich mir dem Haken auf ... so ... recht so ... weg von dem Maul. Zum Teufel, ist das ein gewaltiges Vieh! Schon dachte ich, sie kommt uns aus. Genau, als ich den Haken zustieß, sah sie mich und tauchte.« Schnell zerrte man das rosig-grüne Tier über Bord. Es schlug, stampfte, plantschte und warf sich wild herum. Der Schildpattrücken maß beinahe einen Meter im Durchmesser.

Der Haken in seinem Leibe saß fest, gerade unter dem einen Vorderbein. Unter dem Schild stand der Schlangenkopf und der Nacken hervor, runzlig wie der eines Greises.

Es schnellte den Kopf von einer Seite zur anderen und schnappte. Kitchell schlug nach ihm mit einem Paddel. Die Schildkröte fuhr mit dem Kopfe danach, faßte das Holz und teilte es, mit einem Biß nur, in zwei Stücke.

»Seht ihr, ich sagte es, aufpassen, wenn das ein Arm gewesen wäre, he? Hallo, was gibt es?«

Vom Schoner scholl ein gedehnter Ruf.

Kitchell erhob sich im Boot und beschattete mit dein Hute seine Augen.

»Was fehlt ihm denn jetzt wieder«, brummte er mit dem unguten Gefühl eines Kapitäns, der sein Schiff sich selbst überlassen hat.

»Ich hätte Charlie oder dich, Sonny, an Bord lassen sollen, Wer plärrt denn da so, ich werde nicht schlau daraus.«

»Der oben im Mastkorb«, rief Wilbur, »Jim ist es, schau, er schwenkt die Arme.«

»Warum denn schwenkt er mit den verdammten Armen?« knurrte Kitchell, denn es schien sich etwas zu begeben, was er nicht begriff. »Da, schon wieder ruft er, horch – ich kann gar nichts verstehen, was der brüllt. Der wird gleich aufhören, wenn ich ihn am Kragen fasse. Ich dreh dem Kujon den Kragen um, bis er nach hinten schauen muß, wenn er sehen will, wohin er geht. Wozu schwingt er so blödsinnig die Arme und brüllt wie ein Besessener. Was will er denn, Charlie?«

»Verstehe Jim nicht, kann nichts sagen. Vielleicht er sagen, kommen zurück – zu Schiff, Schiff.«

»Werden ja sehen. Riemen heraus, Leute, vorwärts. Nun, mein Sohn, leg ein bißchen von deinem Yale-Schlag an.«

Jim im Mastkorb schrie und schwenkte seine Arme immer noch wie ein Irrer, als das Boot schon wie ein Blitz zum Schoner zurückflog.

Kitchell war mit Wut geladen:

»Oh«, knurrte er durch die zusammengepreßten Zähne, »wenn ich dich nur schon mit meinen beiden Händen packen könnte, du brüllende, gelbe Galgensuppe, glaub mir, du wirst tanzen. Halt's Maul«, schrie er, »du blöder Hund, kommen wir nicht so rasch wie nur möglich?«

Das Boot legt sich längsseits, der Kapitän, beweglich wie Quecksilber, schwang sich über die Reeling.

Die gesamte Besatzung stand am Bug, schaute und zeigte nach Westen.

Jim rutschte die Strickleiter herunter und sprudelte seine Neuigkeiten heraus.

Ehe noch seine Füße das Deck berühren konnten, hatte Kitchell ihn wieder in die Wanten gestoßen, ihn mit wütenden Schimpfworten überhäufend.

»Schrei doch«, rief der Kapitän, als er den Chinesen wie einen geschreckten Affen wieder hochklettern sah. »Schrei doch noch ein wenig, ich würde noch schreien, wäre ich an deiner Stelle. Warum schreist du nicht und schwenkst die Arme, du verdammter, gelber Filou?«

»Yes, Sir«, brachte der Kuli heraus.

»Was sagst du? Charlie, frag ihn du, warum er so schrie.«

»Ich glauben – Schiff«, antwortete Charlie seelenruhig und sah nach der Steuerbordseite.

»Schiff! sein sehr, sehr krank«, kauderwelschte der Chinese auf der Strickleiter und sagte dann noch einige Worte auf Chinesisch für Charlie.

»Er glaubt, daß das Schiff in Seenot ist«, dolmetschte Charlie. Inzwischen konnten der Kapitän, Wilbur und alle andern, etwa acht Seemeilen entfernt, ein Segel erkennen.

Trotz der großen Entfernung konnten sogar die ungeübten Augen Wilburs auf den ersten Blick wahrnehmen, daß etwas da nicht war, wie es sein sollte.

Keinesfalls ging jenes Schiff vielleicht nicht richtig über die Wellen, oder erweckten Takelage und Segel auch nur den Anschein einer Unordnung; solche Einzelheiten zu unterscheiden, verhinderte die zu große Entfernung. Aber in gleicher Weise, wie ein erfahrener Arzt, nach einem Blick nur in das Gesicht seines Patienten, aus dem sonst unklaren Ausdruck schon das Urteilswort »Tod« sprechen kann, erfaßte Kitchell den Fremdling mit einem Blick und rief aus:

»Wrack!«

»Yes, Sir, ich denken, sehr krank.«

»Ach, geh zum Teufel, oder – geh nach unten und hol schnell mein Glas – los!«

Das Glas wurde gebracht.

»Mein Sohn«, rief Kitchell, »wo ist der Mann mit dem Verstand, Sonny, komm mit mir herauf.«

Beide kletterten in die Wanten zum Mastkorb hoch.

Kitchell blickte durch das Glas.

»Es ist eine Barke«, stellte er beobachtend fest, »mit Eisen gebaut, – etwa siebenhundert Tonnen – und in Seenot. Dort am Besan sieht man ihre Flagge – könnte norwegisch sein – vor der Gaffel des Besans flattert das Notsignal. Schau durchs Glas, was sagst du, mein Sohn? Bei Gott, die wirft es mächtig hin und her.«

Wilbur griff nach dem Glase und bekam den Fremdling nach mühevollen Versuchen endlich mitten ins Blickfeld.

Es war wirklich, wie Kitchell gemeint hatte, eine Barke, die Flagge ließ auf einen Norweger schließen.

»Wie sie rollt!« sagte Wilbur erregt.

»Mir eigentlich unerklärlich«, gab Kitchell zu, »so eine Barke müßte doch vom Ballast fest genug sein, um nicht so zu rollen.«

»Was mögen die beiden Flaggen am hintern Mast bedeuten, rot und weiß im Viereck die eine, ein Spitzwimpel in derselben Farbe die andere?«

»Das heißt H B: ich brauche Hilfe.«

»Ich kann niemand an Bord ausnehmen. Wo kann die Besatzung sein?«

»Die ist sicher da«, bemerkte Kitchell.

»Dann ist sie aber sehr gut getarnt«, wandte Wilbur ein, indem er dem Kapitän das Glas zurückreichte.

»Und doch scheint sie fast leer zu sein«, meinte nun der Kapitän und in seinen Worten lag ein Wilbur unbegreifliches Interesse.

»Wo können die Boote sein?«, fuhr Kitchell fort, »ich sehe kein einziges Boot.« Dann folgte lange Stille.

»Es sieht wie Dunst aus, was über ihr schwebt«, bemerkte Wilbur.

»Auch ich sehe das, die Luft zittert sogar etwas. Keine Boote – kein einziges Boot, und kein Mensch an Bord.« Da senkte auf einmal Kitchell das Glas und wandte sich zu Wilbur. Er war plötzlich völlig verändert. In seinen Augen erschien ein anderer Ausdruck, über der Nase furchte eine Zornesfalte, sein Kiefer streckte sich nach vor.

»Sonny«, sprach er und starrte Wilbur mit verkniffenen Augen an. »Ich habe wohl gemerkt, daß du schlau bist. Ich könnte wohl den Kulis etwas vormachen, dich aber vermag ich bestimmt nicht anzuführen. Der Anschein zeigt uns ein treibendes Wrack, weißt du auch, was das für uns bedeutet? Denk einmal nach darüber!«

»Ein treibendes Wrack?« wiederholte Wilbur.

»Sollte eine Bemannung an Bord sein, ist diese wohl verborgen – wohin kamen aber die Boote? Ich möchte annehmen, daß das Schiff verlassen wurde. Ist es dir klar, was das für uns – für dich und mich bedeutet?

Es heißt«, er nahm Wilbur bei den Schultern und keuchte ihm die Worte in gieriger Erregung ins Gesicht. »Es bedeutet – Bergungslohn, weißt du – Bergung, Bergung! Hast du eine Vorstellung, wie hoch eine Bergungsprämie ist, für einen Siebenhunderttonner? Nun, ich will es in deinen Schädel einprägen, verlaß dich drauf. Das heißt also ungefähr fünfzig- bis siebzigtausend Dollar, ohne Rücksicht auf die Ladung, die das Schiff hat. Wir wollen sagen sechzigtausend – macht für jeden dreißig! Was sagst du jetzt? Und was habe ich gesagt? Tausend zu eins kann man wetten, auf See stößt du immer auf Überraschungen!«

»Dreißigtausend«, sprach Wilbur gedankenlos nach.

»Ja doch, freu dich mein Sohn«, rief der Kapitän. »Hör zu«, führte er weiter aus und schob das Glas hastig in das Futteral zurück, »ich bin Alvinza Kitchell, neunundneunzig Lumpen und ich geben einhundert. Ich fasse jede Gelegenheit, die sich mir zeigt. Wenn jene Barke verlassen ist, und ich sage dir, sie ist es, dann gehört sie uns. Ich bin von Natur aus mehr ein Küstenpirat als alles andere. Mag dies Kulischiff zur Hölle fahren, wir gehen auf Seeraub, du und ich. Wir nehmen die Barke und schleppen sie in den nächsten Hafen – wenn ich mich nicht irre, ist es San Diego – dort holen wir uns die Bergungsprämie und wenn wir mit ihr schwimmen müßten. Bist du dabei?« Er streckte Wilbur seine Hand hin. Der Mann zitterte wirklich vom Kopf bis zu den Füßen. Es war unmöglich, sich dem Reiz zu entziehen, der in der Ungewöhnlichkeit der Situation lag: Der Mastkorb des Schoners, die scharfe salzige Luft, die bewegte Gruppe der Chinesen, das Indigoblau des warmen Ozeans und dort drüben das verlassene, treibende Wrack. Der leichte Schiffskörper rollte auf den Wogen, der helle Streif des Unterwasserschiffs blinkte in der Sonne.

»Natürlich bin ich dabei, Kapitän«, sagte Wilbur, und nahm Kitchells dargebotene Hand, »wenn dabei dreißigtausend Dollars für fast nichts zu haben sind, werde ich genau so Seeräuber spielen wie du.«

»Nun gut, doch kein Wort davon zu den Kulis.«

»Aber, wie willst du mit den »Sechs Kompanien« fertig werden? Bist du nicht verpflichtet, die »Bertha Millner« heimzuführen?«

»Verdammt«, rief Kitchell aus, »ich hab' keine Lust mehr, Kapitän eines Ölschiffes zu sein, ich bin Pirat.«

Mit funkelnden Augen liebkoste er die schwankende Barke.

»Mein Gott«, brummte er, »sie ist doch sauber? Eine kleine ›Klondike‹, komm, mein Sohn.«

Sie kletterten beide die Strickleiter abwärts. Kitchell befahl einige Leute ins Boot, das am Heck festlag. Dann folgte er mit Wilbur. Charlie verblieb an Deck mit dem Auftrage, den Schoner zu steuern.

Das Boot huschte über die Wellen, Wilbur bediente die Ruder. In kürzester Zeit erreichten sie die Barke. Wenngleich diese wesentlich größer war als die »Bertha Millner«, rollte sie doch in beunruhigender Weise. Jedes Aufsteigen des Schiffskörpers ließ das Unterwasserschiff zum Vorschein kommen, über und über mit Muscheln behangen, mit Seetang bedeckt. Die Vorder-, Haupt- und Marssegel waren gesetzt, ebenso die unteren Stagsegel und Royals. Doch die Brassen, die Taue an den beiden Rahenden, schienen gelöst zu sein, die Rahen schwangen in ihren Blöcken. Der Besan geigte auf, der Besanbaum schlug lose über dem Steuerhaus, wenn das Schiff bald links, bald rechts rollte. Der Hauptmast bewegte sich in seinem Schuh, die Enden und Backstage hämmerten. Eine unbeschreibliche Verlassenheit und Öde herrschte auf der Barke.

Noch nie hatte Wilbur etwas so trostlos Einsames gesehen.

Drei Schiffslängen vor der Barke stand der Kapitän auf und schrie:

»Bark ahoi!«

Keine Antwort kam.

Dreimal ließ er den Ruf hinüberhallen, dreimal bildete der Schlag des Besanbaumes, begleitet vom Klatschen der Segel, den einzigen Widerhall.

Frohlockend kehrte sich Kitchell zu Wilbur.

»Ich glaube, sie ist unser!« flüsterte er.

Nun waren sie nahe genug heran, um am Achterschiff den Namen lesen zu können: Lady Letty ...

Eben las Wilbur laut den Namen, als eine mächtige braune Rückenflosse, wie das dreieckige Segel eines Luggers, die Wellen zwischen Boot und Barke teilte.

»Haifische«, meinte Kitchell. »Da, noch einer!« rief er schon im nächsten Augenblick, »wieder einer! verflucht, da wimmelt das ganze Wasser von ihnen! Die wittern etwas auf der Barke, verlaß dich drauf.«

Dann wiederholte er, von Ungewißheit getrieben; »Bark ahoi!« Wieder blieb der Ruf ohne Antwort.

Das Boot war jetzt unmittelbar zur Barke gekommen. Gleich darauf vernahmen sie ein gedehntes, zitterndes Zischen.

»Was war das?« fragte Wilbur überrascht.

Kitchell schüttelte nur den Kopf.

In dieser Minute neigte sich die Barke nach ihrer Seite, sie konnten rasch einen Blick aufs Deck werfen.

Es war nur einen Atemzug lang, bis die Barke wieder nach Steuerbord rollte, aber er reichte für Wilbur und den Kapitän aus, um die klaffenden, aufgerissenen Deckplanken, das aufgewölbte Deck, welches in einer Ecke geborsten und zersplittert war, zu überblicken.

Kitchell schlug sich auf den Schenkel:

»Kohle!« rief er erregt, »Anthrazitkohle, die hat Gas gebildet, ohne sich zu entzünden, nur Gas ohne Feuer. Dieses Gas trieb das Deck auf, da half eben nichts, das Deck mußte aufplatzen. Riechst du das Gas? Kein Wunder, daß die »Lady« zischt und rollt – die ganze Ladung ist zu Gas gewandelt – die Barke wird immer leichter. Ich grübelte lange nach, wie sie bei solchem Wetter Schiffbruch leiden mochten. Mein Gott, nun ist alles restlos klar!«

Das Boot lag längsseits. Kitchell wartete ab, bis sich die Barke zu ihnen herüberlegte, ergriff dann ein Tau der Hauptrahe, das über die Reeling hing, und schwang sich aufs Deck.

»Gib acht!« rief er dem nachfolgenden Wilbur zu, »es wäre gewiß kein Spaß, mitten zwischen die Haie zu fallen, mein Sohn. Schau, zu Hunderten sind sie da. Die wittern etwas an Bord, ganz sicher.«

Wilbur richtete sich auf dem schwankenden, geborstenen Deck hoch, überall strömte Kohlengas hervor. Es gab eine Hitze wie im Backofen. Metall konnte man überhaupt nicht anfassen.

»Das Schiff ist bestimmt verlassen«, brummte der Kapitän. Er zeigte nach den losen Tauenden.

»Ach, es ist eine verfluchte Situation, mein Sohn glaub mir das. Aber jetzt sehen wir uns erst die Kajüte an!«

Er stürzte nach achtern. Aber es war unmöglich, die Kajüte zu betreten Sobald die Tür derselben aufgerissen wurde, wallten dichte Gaswolken heraus und warfen sie zurück.

Nach dem dritten Versuch taumelte der Kapitän zurück.

»Wir können einstweilen nicht hinein«, würgte er hervor, »doch ich konnte einen Toten sehen, neben dem Tisch auf dem Boden. Es scheint der alte Kapitän zu sein. Er hat seine falschen Zähne ausgespuckt. Ich ahnte es, daß an Bord eine Leiche sei.«

»Es ist noch eine da«, meinte Wilbur, »sieh doch dort hin!« Hinter dem Steuerhaus auf dem Achterschiff ragte eine Hand und ein Unterarm aus dem Ölzeugärmel heraus. Wilbur lief hin und schaute in den engen Raum zwischen Steuer und Steuerhaus. Erstarrt blickte er in ein Paar Augen, – Augen, die lebten.

Kitchell kam herbei.

»Also, doch noch einer, der lebt«, sagte er, über Wilburs Schultern blickend, »ein Matrose, der soll uns an der Bergung nicht hindern. Die Barke ist und bleibt ein Wrack. Zieh ihn doch da heraus, mein Sohn, merkst du nicht, der Junge ist vom Gas betäubt«

In dem schmalen Raum zwischen Steuerhaus und Rad hockte, niedergekauert wie ein verschreckter Hase im Versteck, ein junger Bursche. Er war so fest in die Ecke geklemmt, daß Kitchell das Haus wegstoßen mußte, um heranzukommen.

Der Junge brachte kein Wort heraus. Vom Gas betäubt, glurte er sie mit glasigen Augen an.

Wilbur schob seine Hand unter den Arm des Burschen und hob ihn auf. Es war ein großer, starker Junge mit gerötetem Gesicht und milchig grauen Augen. Wie in schwerem Wetter war er ins Ölzeug gekleidet.

»Nun, Sonny, das ist ja eine schöne Geschichte bei euch hier an Deck«, sagte Kitchell.

Der Junge – er mochte zweiundzwanzig sein – stierte ihn an und lächelte hilflos.

»Heraus mit ihm aus dem Gas. Bring ihn zum Boot, mein Sohn, Ich schau nochmals in diese vermaledeite Kajüte.«

Kitchell drehte sich um und stieg ins Achterschiff hinunter. Wilbur aber legte seine Arme um den Jungen und folgte dem Kapitän.

Kitchell war bereits außer Hörweite und Wilbur stolperte über das schlingernde Deck, den jungen Burschen an seiner Seite stützend, da hörte er diesen einen tiefen Atemzug tun.

Seine Brust hob sich, Wilbur starrte ihn mit dem unterdrückten Ausruf an:

»Mein Gott, es ist ein Mädchen!«


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