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Das sechzehnte Kapitel

.War das wirklich die »Marie Antoinette«, die auf der Reede von Havre schaukelte und stand hier am Bollwerk Claus Piepgras? Er hatte graue Haare bekommen, aber sein Gesicht war dasselbe geblieben. Doch er erkannte Michel nicht, als dieser vor ihm stand, und der junge Leutnant hatte auch keine Zeit, lange mit ihm zu reden. Er faßte ihn an den Schultern.

»Leben die Schneidewinds noch? Meine Mutter, meine Schwestern?«

Claus vergaß, sich einen neuen Priem in den Mund zu stecken, und riß ihn nur weit auf. Dann aber kniff er die Augen zusammen.

»Was sollten sie nicht leben?« knurrte er. »Viel zu leben hat Mutter Schneidewind nicht, und die Töchter müssen tüchtig zugreifen, aber sie leben und sind gesund!«

Da stieg etwas in Michels Kehle auf, daß ihm das Sprechen schwer wurde und daß Peter für ihn die Unterhaltung übernehmen mußte.

»Dies ist nämlich Michel, der junge Schneidewind, und er ist französischer Leutnant geworden!«

»Und hat das Schreiben vergessen!« murrte Claus, der sich nun den Anschein geben wollte, als hätte er Michel gleich erkannt. »Seine Mutter hat immer nach ihm gefragt, und vor nicht langer Zeit habe ich von ihm sprechen hören. Er scheint ein ziemlich ordentlicher Kerl geworden zu sein; nur schade, daß er nicht lesen und schreiben kann!«

»Oho!« Michel bekam einen roten Kopf. »Meinst du, daß man Leutnant werden kann, wenn man nichts gelernt hat? Ich habe mehrmals geschrieben, aber niemals eine Antwort erhalten. Da habe ich die Briefe aufgegeben!«

Claus schüttelte den Kopf.

»Mache keine Ausflüchte, Herr Leutnant, sondern gehe in dich und gib mir einen langen Brief für deine Mutter mit. Sie weiß ja jetzt, daß du noch lebst, weil Tante Male es gesagt hat, die wie durch ein Wunder gerettet ist und die ich neulich mit unserm Schiff nach Hamburg gebracht habe. Die kleine Clarissa hat bei der Flucht geholfen, dieselbe, die wir einstmals mit ihrem Vater nach Frankreich brachten, und die sich freuen kann, glücklich wieder heraus zu sein. Aber sie steht freilich ganz allein in der Welt, und wenn Tante Male sie nicht mit zu deiner Mutter genommen hätte, würde sie nicht wissen, wohin sie sich wenden sollte. Aber wenn Tante Male auch lahm ist, so hat sie doch einen starken Geist, und sie hat gleichfalls einen Beutel mit Geld mitgebracht, der deiner Mutter sehr gelegen kommt.«

Also Tante Male war wirklich gerettet! Michel atmete tief auf und würde Claus noch mehr mit Fragen bestürmt haben, wenn nicht der Kapitän gekommen wäre, der für seinen Steuermann einige Aufträge hatte. Es war nicht mehr der alte Kapitän, sondern ein jüngerer Mann, der Michel neugierig betrachtete, ihn aber noch nicht anredete.

Da wollte sich der junge Leutnant gerade abwenden, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.

Mutter Tilda stand vor ihm, und neben ihr schleppte sich ein blasser Mann mit zwei Fischkörben ab.

»Na, Bastillenjunge, bist du auch entwischt? Verdenken kann ich es dir nicht; mein geliebtes Paris ist in dieser Zeit kein angenehmer Aufenthalt, aber wenn mal bessre Zeiten kommen, dann versuche ich doch wieder, mich hineinzuschleichen. Das ist nun doch meine Heimat, und einmal werden die Leute das Kopfabhacken doch sicherlich müde. Schmidt, komm mal her und gib die Hand! Er hilft mir jetzt beim Fischhandel, aber er mag es nicht gern. Er ist zu fein dazu, und deshalb muß er eigentlich doch geköpft werden, denn feine Leute kann ich nicht leiden. Aber wenn er Reisegeld nach Deutschland kriegt, will ich ihn gern ziehen lassen!«

»Dann gib ihn mir nur mit, Mutter Tilda,« entgegnete Michel. »Ich habe die Absicht, nach Deutschland zu reisen, und ich will die Reise für Schmidt bezahlen!«

»Nun sieh den Bastillenjungen an,« lachte Mutter Tilda, aber sie drückte Michel doch die Hand, während sich Bürger Schmidt die Augen wischte.

Er war im Dienst der Fischfrau hundemager geworden, und man konnte ihm ansehen, daß er für seinen häßlichen Streich seine Strafe reichlich empfangen hatte. In der Stunde der Versuchung war er eben schwach gewesen, und das passiert noch manchen Menschen heutzutage.

Am nächsten Tage spannte das Schiff, das einstmals »Marie Antoinette« geheißen hatte, die Segel aus und flog der Elbe zu. Der Name der armen Königin stand nicht mehr an seinen Planken: es hieß jetzt »Die Republik«, und mancher Aristokrat, der auf ihm das Weite suchte, machte zu diesem Namen ein böses Gesicht. Was ihm nicht viel half; denn eine französische Republik gab es nun einmal, und sie sollte auch noch manches Jahr bestehen. Eine ganze Anzahl von vornehmen Leuten ging auch heute wieder nach Hamburg; aber keiner bekümmerte sich um Michel, sondern betrachtete ihn vorsichtig aus der Entfernung.

Hatten sie doch gehört, daß der blutjunge Herr ein Offizier des republikanischen Heeres war, und sie wußten nicht recht, wie sie sich gegen ihn benehmen sollten. Sie ahnten ja nicht, welchem Abenteuer Michel sein Patent verdankte, und er hütete sich wohl, davon zu sprechen.

Am liebsten saß er mit Claus Piepgras zusammen und ließ sich von Hamburg berichten, und als das Schiff endlich wieder vor der alten Hansestadt anlangte, da kam es Michel vor, als wäre er gar nicht lange weggewesen.

Und dann stand er plötzlich vor einem bescheidenen Häuschen in einer kleinen Straße und fiel bald darauf einer blassen Frau um den Hals, lachte und weinte in einem Atem und betrachtete verwundert seine Schwestern, die fast ebenso groß wie er selbst geworden waren, und denen er es ansah, daß sie arbeiten gelernt hatten.

Und wer war das junge Mädchen, das neben seinen Schwestern stand?

»Michel, du kennst mich wohl nicht mehr!« sagte Clarissa. »Deine Tante und ich sind doch mit Mamsell Danneel nach Hamburg geflohen, und wir wohnen jetzt zusammen. Ich arbeite Hüte, und Mamsell Danneel gibt französische Stunden. Und Tante Male führt den Hausstand von ihrem Rollstuhl aus, und sie schilt hier geradesoviel wie in Paris. Doch ich bin jetzt Schlimmeres gewöhnt als ihr Schelten, und ich weiß, daß sie es gut meint!«

Aber Michel war doch ein wenig schwindlig von allem geworden, was in Hamburg auf ihn einstürmte, und es war ein Glück, daß seine Mutter ihn immer wieder mit glücklichen Augen betrachtete. Da wußte er doch, daß alles Wahrheit und kein Traum war, und daß er selbst sich so zufrieden vorkam wie noch nie in seinem Leben. Auch hatte er ja eine beträchtliche Menge von Goldstücken mitgebracht, und er freute sich, sie seiner Mutter geben zu können. Sie aber nahm nur einen kleinen Teil davon und gab ihm das andere zurück.

»Das ist dein Geld, Michel, und wer weiß, wann du es noch wieder gebrauchen kannst!« sagte sie, und Michel empfand, daß er noch jung war und viel erleben mußte, ehe er sich zur Ruhe setzen konnte wie mancher brave Hamburger Bürger, dem er auf der Straße begegnete.

Vorläufig sah es auch in seiner Vaterstadt bunt genug aus, und es waren so viele Franzosen hier, daß Michel sich manchmal einbilden konnte, in Paris zu sein. Es waren fast alle vornehme Leute, die jetzt versuchten, in Hamburg ihr Brot zu verdienen. Einigen gelang es, andere wieder hatten nichts anderes als Faulenzen gelernt, und ihnen ging es sehr schlecht. Clarissa gehörte nicht zu den letzteren; sie war eine geschickte Putzmacherin geworden, und sie konnte von ihrem Verdienst manchem armen Landsmann abgeben, der nicht so viel hatte als sie.

Und weil sie oft mit den Franzosen zusammenkam, so hörte sie allerhand Neuigkeiten aus Frankreich, und eines Tages kam sie ganz aufgeregt zu Michel.

»Hast du gehört, daß unser kleiner Kronprinz jämmerlich im Gefängnis gestorben ist? Nun haben wir keinen Ludwig den Siebzehnten mehr!«

Sie weinte, und Michel öffnete den Mund, um ihr von seinem Abenteuer zu berichten, schwieg dann aber lieber. Denn er hatte seinem Freund Peter noch zu guter Letzt geloben müssen, von dem, was er erlebt hatte, nichts zu verraten. Sein Versprechen muß man aber immer halten, und so erfuhr Clarissa nicht, was ihr wahrscheinlich große Freude gemacht hätte. Michel hatte auch andere Dinge zu bedenken. Erstens war da Bürger Schmidt, dem es sehr kümmerlich ging und der nirgends einen Verdienst finden konnte, und dann erschien auch eines Tages Peter wieder bei ihm, der damals wohl die Überfahrt mit ihm gemacht hatte, dann aber gleich weitergezogen war. Und zwar nach Holstein, in sein Heimatdorf, nach dem er sich so gesehnt hatte. Wie er aber glücklich dort war, fand er es nicht so schön, wie er gedacht hatte, und wollte nun wieder nach Havre.

»Michel,« sagte er, »neulich habe ich einen Mann getroffen, der auch aus Frankreich kam und der glaubte, daß er meine Frau und meine Kinder in der Nähe von Havre ganz lebendig gesehen hätte. Nun will ich lieber mal nachsehen, ob das wahr ist, was der Mann gesagt hat. Wenn sie noch leben, da komme ich mit der ganzen Gesellschaft an; denn Frankreich ist mir ziemlich verleidet worden. General hätte ich doch wenigstens werden müssen!«

»Hast du gehört, daß der Kronprinz gestorben sein soll?« fragte Michel, und der andere legte den Finger an den Mund.

»Sei stille, mein Sohn! Auch hier gibt's Spione, und an der Sache, bei der wir geholfen haben, kann sich noch mancher die Zähne ausbeißen.«

»Wenn ich nur wüßte, weshalb die Republik mich zum Leutnant gemacht hat, wenn ich doch dem Kronprinzen zur Flucht verhalf?« meinte Michel, und Peter zuckte die Achseln.

»Mein Junge, unter den Republikanern sind noch viele, die eigentlich für das Königshaus sind und die es sich nur nicht merken lassen wollen. Das habe ich wohl gespürt, als ich noch im Ministerium diente, und mancher, der lauten Skandal für die Revolution machte, hat bloß so getan, um sein Leben zu retten. Und vielleicht werden wir noch in späteren Jahren erleben, daß wieder ein König nach Frankreich kommt. Mich soll's freuen, denn die Kopfabschneidegeschichte hat mir nicht gefallen, und Schmidt hätte was Besseres tun können, als die Guillotine zu erfinden. Spaß hat er auch davon nicht gehabt!«

Peter ging, um sich wieder nach Frankreich einzuschiffen, und Michel hörte später, daß er wirklich seine Frau gefunden hatte. Seine Kinder aber waren alle tot.

Es war Berton, der von Peter berichtete. Berton war gleichfalls nach Hamburg gekommen, und Michel begegnete ihm eines Tages auf der Straße. Ihm fehlte ein Bein, und er humpelte mühsam einher und schalt auf die Republik, in deren Diensten er in einer Schlacht verwundet worden war und die ihn ohne Pension entlassen hatte. Aber sein Schelten war nicht ganz aufrichtig, und Michel hörte von einem andern, daß Berton als Spion der Französischen Republik nach Hamburg geschickt worden war, um die geflohenen Aristokraten zu beobachten und nach Paris zu melden, was sie täten.

Da war es denn vorsichtiger, Berton aus dem Wege zu gehen, und Michel erzählte ihm nicht, wo seine Tante Male mit Clarissa wohnte.

Er hatte auch keine Zeit, sich mit andern Leuten zu beschäftigen; ein Hamburger Kaufmann, der von Michel und seinen Abenteuern erfahren hatte, bot ihm eine Stellung in seinem Geschäft an, in dem er besonders französisch zu sprechen und zu schreiben hatte. Zuerst hatte Michel keine Lust, Kaufmann zu werden. Dann aber sah er ein, daß er arbeiten mußte, um sein Brot zu verdienen und für seine Mutter zu sorgen, und als er die Arbeit einige Zeit getan hatte, gefiel sie ihm auch viel besser, als er gedacht hatte.

Abenteuer gab's allerdings nicht; aber davon hatte er vorläufig genug erlebt, und er war noch jung: wer weiß? vielleicht kam noch mancherlei Besonderes für Michel Schneidewind.

Gerade so, wie auch Bürger Schmidt noch nicht mit seinen Erlebnissen fertig war und noch mancherlei erleben mußte, ehe er zur Ruhe kam.

Jetzt aber war er Arbeiter am Hamburger Hafen geworden und verdiente nur so viel, daß er sein Leben fristen konnte. Mehr konnte er nicht verlangen, und er klagte auch nicht allzuviel. War das Leben in der Heimat doch soviel besser als in der französischen Fremde, wo ihm beinahe der Kopf abgeschlagen wäre. Er sprach niemals davon; wenn Tante Male ihn aber sah, und sie lud ihn manchmal ein, sich bei ihr satt zu essen, da fragte sie ihn wohl, ob er noch daran dächte, wie er sie oben auf den Boden vom »Gebratnen Kaninchen« eingesperrt hätte.

Er antwortete immer, daß er nichts mehr von der ganzen Geschichte wisse und wohl damals sehr krank im Kopf gewesen wäre.

Worüber denn alle, die diese Antwort hörten, herzlich lachten. Und das war seine einzige Strafe.

Und dann kam die Zeit, wo Michel manchmal in das Hamburger Straßengewühl blickte, oder an den Hafen ging und wieder Sehnsucht nach der Ferne hatte, nach ihren Abenteuern und Erlebnissen. Wo er sein Leutnantspatent betrachtete und sich den Kopf zerbrach, ob er immer nur Leutnant auf dem Papier bleiben sollte. Und es kam die Zeit, da die französische Republik immer siegreicher wurde und immer übermütiger, und alle Völker begannen, sich vor ihr zu beugen.

Michel aber stand am Hafen und träumte in die Ferne. Gesund war er, hatte Mut und Freude an Abenteuern. Sollte er immer nur träumen und niemals mehr etwas erleben?

Und die Wellen der Elbe plätscherten leise zu seinen Füßen.


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