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Das sechste Kapitel

.Michel hatte eine Flintenkugel im Arm. Wie er dazu gekommen war, dessen konnte er sich nur mühsam entsinnen, Tante Male fragte ihn auch nicht weiter. Sie hatte ihren alten Freund, den Doktor Guillotin, holen lassen, der die Kugel langsam aus dem Fleisch ausschnitt, den blutenden Arm verband und Michel gleich einen großen Löffel voll übelschmeckender Medizin eingab, so daß er außer den Armschmerzen auch noch Leibweh bekam.

Tante Male saß an seinem Bett und sprach mit dem Doktor über ihn. »Was soll ich machen, Herr Doktor? Da lasse ich mir auf meine Kosten einen Neffen aus Hamburg kommen, der mir in allen Stücken helfen soll. Und nun geht er hin und stürmt mit dem andern Volk die Bastille, die ihn doch gar nichts angeht! Eine Nachbarin hat gesehen, wie er immer getrommelt und die wilden Horden angefeuert hat! Was mache ich mit ihm? Schicke ich ihn gleich nach Hamburg zurück?«

Doktor Guillotin nahm eine Prise. Er war ein kleiner Mann mit einer braunen Perücke und einem freundlichen Gesicht. Sein Rock war vertragen und sein gefälteltes Vorhemd nicht ganz sauber; aber seine Stimme klang sanft.

»Liebe Madame,« sagte er, »nach Hamburg können Sie den Buben nicht schicken, da er sich erst hier auskurieren muß. Und überdies würde ich vielleicht gleichfalls die Bastille gestürmt haben, wenn ich ein Bengel von elf Jahren gewesen wäre. Jetzt habe ich mich natürlich nicht an dem Unsinn beteiligt und flicke nur die Löcher, die gestern in Köpfen, Armen, Leibern und Beinen entstanden sind. Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs gewesen und werde nicht vor übermorgen fertig.«

»Warum konnte die Bastille nicht stehen bleiben?« rief Tante Male unwillig. »Der alte Kasten tat uns doch nichts.«

Doktor Guillotin nahm wieder eine Prise.

»Liebe Madame, wir wollen nicht von Dingen reden, die uns nichts angehen. Ich muß sagen, daß ich im allgemeinen dafür bin, daß alles in Frieden abgeht, und gestern ist ein rasender Lärm überall gewesen. Aber ich habe eine ganze Menge zu tun bekommen, und wenn es so weiter geht, dann kann ich mir von meiner Einnahme noch einen neuen Rock kaufen, den ich sehr nötig habe.«

Was Tante Male und der Doktor sonst noch sprachen, konnte Michel nicht mehr hören. Er hatte heftige Schmerzen im ganzen Körper, sein Kopf begann zu brennen, und er glaubte mit einem Male in Hamburg zu sein. Da war es schön. Die Glocken der Michaeliskirche läuteten, und die Leute gingen in die Kirche. Sein Vater auch und seine Mutter, und er mit den Schwestern hinterdrein. Wie groß und verständig Anne und Martha geworden waren, und wie schön die Orgel in der Kirche spielte! Dann ging der Pastor auf die Kanzel und las aus der Bibel vor. Das Evangelium vom verlornen Sohne, der in die Irre gegangen war. Aber als es ihm ganz schlecht ging, da dachte er an seinen Vater und ging reumütig heim. War Michel auch ein verlorner Sohn?

Unruhig warf er sich auf seinem Bette hin und her und weinte laut. Da kam Clarissa und legte ihm die kalte Hand auf die Stirn. Wer war nur noch Clarissa? Michel rief laut ihren Namen, und dann fuhr er in die Höhe. Vor seinem Bett saß Doktor Guillotin und betrachtete ihn aufmerksam. Dann gab er ihm wieder einen Löffel von der bittern Medizin und lachte, als Michel ein Gesicht schnitt.

»Ja, mein Junge, wer die Bastille stürmt, der darf sich nachher nicht wundern, wenn er für das Vergnügen die Rechnung bezahlen muß. Du wirst übrigens wieder gesund werden und kannst noch oft trommeln, das heißt, wenn dein Arm es vertragen kann.«

»Wo ist Tante Male?« fragte Michel, sich in dem leeren Zimmer umblickend, und der Doktor zuckte die Achseln.

»Sie hat andres zu tun, als an deinem Bett zu sitzen, mein Junge. Wir haben jetzt in Paris die Revolution, und da müssen alle Leute auf dem Posten sein, sonst ergeht es ihnen nicht gut!«

Die Revolution. Michel dachte noch ein wenig über dies Wort nach, bis er von neuem einschlief, was auch das Verständigste von ihm war, da er sich doch nicht rühren konnte, ohne große Schmerzen zu erleiden.

Noch manchmal dachte er in seinen Fieberträumen an das Wort. Es war gewiß lustig, eine Revolution bei gesundem Leibe mitzumachen; wenn man aber arge Schmerzen hatte, dann verging einem das Vergnügen.

Draußen ging der Sommer weiter, und die kleine Wirtsstube, die in den heißen Monaten sonst nur wenig Zuspruch hatte, war den ganzen Tag voll. Die Leute sangen und schrien, oder sie schlugen mit den Fäusten auf den Tisch und sagten, wie sie Frankreich regieren wollten. Michel konnte sie von seiner kleinen Stube aus schreien hören, und wie er allmählich wieder besser wurde, mußte er mit seinem verbundnen Arm bei ihnen sitzen, und Tante Male zeigte ihn ärgerlich.

»Das ist einer von denen, die die Bastille gestürmt haben. Was hat er davon? Einen zerschossenen Arm, und ich kriege die Doktorrechnung!«

Im Grunde genommen war sie aber nicht so böse, wie sie sich anstellte, und die Gäste streichelten Michel und nannten ihn einen braven kleinen Deutschen. Ja, eines Tages erschien ein Mann in einer bunten Uniform, der Michel beinahe küßte und sich wunderte, daß dieser ihn nicht erkannte. Es war Berton, der ein Bürgersoldat geworden war und darauf zu achten hatte, daß in Paris nichts Schlimmes geschah. Er nahm den Mund sehr voll, und wer ihn sprechen hörte, der mußte glauben, daß er den Oberbefehl über die ganze Stadt zu führen habe. Er war aber nur ein gemeiner Soldat, den man Nationalgardist nannte, und Tante Male lachte ihn aus.

»Wollen mal sehen, Berton, was du tust, wenn du Pulver zu riechen bekommst!«

Da drohte er ihr mit seiner schwarzbehaarten Hand.

»Ja, Tante Male, wir wollen mal sehen!«

Er machte dabei ein so häßliches Gesicht, daß Michel ihm einen Rippenstoß gab.

»Meiner Tante darfst du nicht drohen! Hast du mich verstanden?«

Da murmelte Berton, daß er es nicht bös gemeint habe, Tante Male aber sah ihren Neffen zum ersten Male ziemlich freundlich an.

»Mache du nur keine dummen Streiche!« schalt sie dabei, aber ihre Stimme klang milde.

Und dann kam der Herbst. Die Zeit verging so schnell, daß Michel sich wunderte, wie die Blätter auf einmal gelb wurden. Sein Arm war wieder heil geworden, und er tat ihm nur weh, wenn er etwas Schweres hob. Er war auch gewachsen, und wenn jemand ihn nach seinem Alter fragte, dann machte er sich einige Jahre älter, und die Leute glaubten ihm, wenn er sagte, daß er vierzehn Jahre alt wäre. Sie dachten auch nicht viel an das, was Michel sagte. In Paris und seiner Umgegend passierte so viel, daß sich niemand lange um einen kleinen, fremden Jungen bekümmerte, der eigentlich in Paris nichts zu suchen hatte. Manchmal kamen Fremde, die berichteten, daß die Bauern in Frankreich aufgestanden wären und ihre Gutsherrn ermordeten, ihre Schlösser aufbrannten und eine Menge von Scheußlichkeiten begingen, an die sie sonst nie gedacht hatten.

Eines Tages kam auch Peter aus Havre in das »Gebratne Kaninchen«, begrüßte Michel und ließ ihn neben sich sitzen, nachdem er sich eine Flasche Wein bestellt hatte.

»Weißt du noch die Geschichte mit meinen armen Pferden?« fragte er, und als Michel bejahte, schmunzelte er vergnügt.

»Nun kann er keine Pferde mehr totschießen. Das war ein feiner Herzog, den ich recht gut von Ansehen kannte, und als die Räuber kamen und nach denen fragten, die Strafe verdient hätten, da habe ich seine Adresse gesagt. Ich dachte, eine kleine Lehre könnte ihm nicht schaden; aber wie sie ihm nun sein Schloß abgebrannt und all sein Geld genommen haben, da hat's mir doch leid getan.«

»Aristokraten dürfen einem nicht leid tun!« entgegnete Michel, und Peter schenkte sich noch ein Glas ein.

»Ja, so sprechen jetzt die Leute, die noch vor wenig Wochen vor den Aristokraten auf den Knien rutschten. Ich weiß nicht, aber als ich merkte, daß der Herzog von Laremont noch ganz kleine unschuldige Kinder hatte, da habe ich mich doch geärgert, die Geschichte von meinen Pferden erzählt zu haben. Na, ein bißchen habe ich die Sache wieder in Ordnung gebracht, indem ich die Herrschaften an Bord der ›Marie Antoinette‹ brachte, die gerade von Havre nach Hamburg segelte, und Claus Piepgras will gut für die ganze Gesellschaft sorgen.«

»Was fangen die vornehmen Leute denn in Hamburg an?« fragte Michel, der plötzlich ein rasendes Heimweh nach seiner Vaterstadt empfand. Peter zuckte die Achseln.

»Ich weiß nichts davon. Claus sagte, er hätte schon das letztemal ein halbes Dutzend Aristokraten auf seinem Schiff gehabt, und einer von ihnen wollte sehen, Tanzmeister zu werden und der andere Schneider. Ich weiß nicht, ob's wahr ist, und es ist mir auch egal. Jetzt ist in Frankreich die Zeit gekommen, wo der gemeine Mann mal etwas Ordentliches werden kann, und deshalb bin ich hier in Paris. Ich will General werden.«

»General?«

Zweifelnd sah Michel den dicken Mann in seinem Fuhrmannskittel an, der eigentlich nicht aussah, als könnte er die goldgestickte Uniform anlegen, in der sonst die Generale einhergingen. Aber Peter trank noch ein Glas Wein.

»Ja, mein Junge, mach nur nicht so große Augen. Bis jetzt haben die Vornehmen regiert, und nun kommen die einfachen Leute an die Reihe! Ich bin erst zur See gefahren und habe meine Arbeit gehabt, und das Fuhrgeschäft hat nicht viel Geld und immer nur Plackerei gebracht. Also muß die Reihe jetzt an mich kommen, und ich will General werden. Meinst du, daß ich dies Geschäft nicht verstehe, dann kriegst du eine Jacke voll!«

Und er sah Michel so drohend an, daß dieser hastig erklärte, Peter würde sicherlich einen vorzüglichen General abgeben.

Da war Peter zufrieden, bezahlte seine Zeche und ging davon, nachdem er Michel versprochen hatte, ihn auch General werden zu lassen, sobald er groß wäre.

Michel vergaß ihn bald. In Paris war es noch immer sehr unruhig. Die Geschäfte gingen schlecht, und es hieß auf einmal, bald gäbe es kein Brot mehr. Das Mehl, das von dem Lande in die Stadt kommen mußte, blieb aus, und viele Bäckerläden schlossen ihr Geschäft, weil sie nicht mehr backen konnten. Da rotteten sich die Leute zusammen, schalten und fluchten; und der König und die Aristokraten bekamen von neuem die Schuld. Der König sollte das Mehl nach England verkauft haben, wo gleichfalls eine Teurung war, und sein eignes Volk ließ er darben. So hieß es auf den Straßen, und Tante Male, die noch immer etwas für den König und seine Gemahlin übrig gehabt hatte, wurde auch bedenklich. Sie buk zwar ihr Brot selbst und hatte noch einen Vorrat Mehl im Hause, aber wenn dieser aufgebraucht war, was sollte dann werden?

Die Mehlnot dauerte den ganzen September hindurch, viele Bäckerläden wurden geplündert, und wo die Plündrer nichts fanden, da schlugen sie den Bäcker tot, wenn er sich nicht rechtzeitig davongemacht hatte.

Bald gab es auch kein Fleisch mehr, keine Fische; Tante Male hatte ihre liebe Not, noch ein paar Kaninchen, einige Dutzend Froschschenkel für ihre Gäste aufzutreiben, und in einigen Wirtschaften gab es schon Katzen- und Hundebraten, und weder die Katze Mimi, noch der Pudel Nello durften auf die Straße gelassen werden, weil sie dann sicherlich gefangen und gleich aufgegessen wurden. Sie schienen selbst zu ahnen, daß ihnen eine Gefahr drohte: sie waren beide sehr artig, und Mimi legte sich auf den Mäusefang mit solchem Eifer, daß es manchmal ganz rührend anzusehen war. Sie fraß ihre Beute auch meistens auf, manchmal aber brachte sie Nello eine Maus und legte sie vor ihn nieder, als wollte sie ihm klar machen, wie herrlich dieser Leckerbissen schmeckte. Aber Nello war nicht an Mäusebraten gewöhnt und beschnupperte die kleinen Tiere kopfschüttelnd. Er war mehr für einen soliden Knochen, den aber gab es in dieser Zeit nicht, und er mußte sich kümmerlich mit allerlei Abfällen ernähren, die ihm keine Freude zu machen schienen. Und Michel mußte an das gute Hamburger Brot und die Wurst denken, die ihm seine Mutter auf die Reise mitgegeben hatte. Wie mochte es wohl in Hamburg aussehen? Manchmal schoß ihm doch ein Gedanke an die liebe Heimat durch den Kopf, dann aber kam ein Auftrag, eine Arbeit für ihn, und er vergaß die schöne, alte Stadt mit den hoch ragenden Türmen.


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