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Das dritte Kapitel

.An diesem Abend wachte der Wind wieder auf, blies seine Backen und jagte hinter der »Marie Antoinette« her, daß sie einen Schrecken bekam und wie ein Pfeil durch die Wogen schoß. Und am nächsten Abend fuhr sie in einen Hafen hinein, an dessen Ufern eine ziemlich große Stadt lag. Das war Havre, und nun war man in Frankreich. Clarissa freute sich, nach Haus zu kommen. Sie war mit ihrem Vater fast ein Jahr weggewesen und sprach viel davon, wie es wohl ihrer Mutter erginge.

Um Michel bekümmerte sie sich nicht mehr, und er mußte nun auch an seine Mutter denken, die so weit von ihm war und die er einige Tage vergessen hatte. Nun kam wieder das Heimweh über ihn, und wenn nicht alles auf einmal so rasch gegangen wäre, dann würde er wohl geweint haben. Doch plötzlich lag das Schiff im Hafen, die vornehmen Herrschaften sagten ihm eilig Lebewohl, und Claus Piepgras brachte ihn zu einem Fuhrmann, der allwöchentlich mit einem großen Planwagen nach Paris fuhr. Er nahm oft Passagiere mit und erklärte sich bereit, Michel richtig nach Paris und zu seiner Tante Male zu geleiten.

Der Fuhrmann hieß Peter Petersen und war in Holstein geboren. Das aber war lange her; seitdem er einmal mit einem Schiff nach Havre gekommen und dort krank geworden war, hatte er sich mit dem Mädchen verheiratet, das ihn pflegte, und er war Fuhrmann geworden.

Aber er hatte doch noch etwas Wohlwollen für die Deutschen, und er kannte Michels Tante in Paris. Sie hatte eine kleine Schenke, und er trank manchmal ein Glas Wein bei ihr. Dann sprachen beide von Deutschland, und wie es dort wohl aussähe; keiner von ihnen hatte aber Zeit, einmal in die alte Heimat zu reisen.

Zwei Tage mußte Michel warten, bis der große Wagen mit Tonnen und Kisten vollgepackt war. Er wohnte in einem schmutzigen Stall, und einige schmutzige Jungen neckten und hänselten ihn. Was sie sagten, konnte er nicht verstehen, erst als der eine ihn einen duhmen Deitschen nannte, begriff er, daß sie ihn beleidigen wollten. Da prügelte er sie allesamt durch und hatte Ruhe vor ihnen.

Peter Petersen hatte auch allerlei für ihn zu tun: er mußte Pferde striegeln, was er nicht recht konnte, und dann wurde ihm aufgegeben, den Stall zu fegen. Die Arbeit gefiel ihm gleichfalls nicht sonderlich, und er dachte mit Sehnsucht ans Schiff, wo er mit der kleinen Gräfin gespielt und von ihr Süßigkeiten erhalten hatte.

Aber die Zeiten waren vorüber, und als er an einem kalten Herbstmorgen zwischen harten Kisten und Tonnen saß, da freute er sich, daß die vier braunen, schweren Pferde munter anzogen und daß er nun bald in Paris und bei der Tante Male sein würde.

Aber so schnell, wie er es sich dachte, ging es nicht. Langsam, langsam fuhr der schwere Wagen über holprige Wege. Zweimal am Tage mußten sich die Pferde ausruhen, und des Nachts wurde in einer Herberge eingekehrt, wo Michel dann bei den Kisten und Tonnen schlafen und aufpassen mußte, daß nichts gestohlen würde. Denn überall in Frankreich gab es viele hungrige Menschen, die gern stahlen, falls sie Gelegenheit dazu hatten, und Michel erhielt von Peter eine alte Flinte, mit der er auf jeden, der an den Wagen wollte, schießen sollte. Das war kein angenehmer Auftrag, besonders wenn man nicht schießen kann und einem vor Müdigkeit die Augen zufallen wollen. Aber Peter hatte solche schwere Hand, daß man ihm schon gehorchen mußte. Zum Glück kamen keine Diebe; doch je weiter der Frachtwagen nach Frankreich hineinfuhr, desto deutlicher war zu sehen, daß es den Leuten in den elenden Dörfern und kleinen Städten sehr schlecht ging. Immer liefen Männer und Frauen hinter dem Wagen her und baten um ein Stück Brot oder ein Kleidungsstück, und wenn sie nichts erhielten, dann verwünschten sie Peter, Michel und den Wagen.

»In Hamburg ist nicht solche scheußliche Wirtschaft wie hier!« sagte Michel eines Nachmittags. Da waren wohl ein Dutzend halb verhungerter Menschen hinter ihrem Wagen hergelaufen und hatten endlich mit Steinen geworfen, weil sie kein Brot erhielten.

»Gib ihnen doch etwas, Peter!« setzte er hinzu. »Das muß schrecklich sein, wenn man immer hungrig ist und nie etwas zu essen bekommt!«

Der Fuhrmann lachte über Michels Worte.

Der Wagen fuhr gerade bergab, und die Pferde trabten ein wenig, so daß die Bettler zurückblieben.

»Meinst du, daß ich so viel Geld habe, um alle Bettler satt zu machen?« fragte er. »Ich habe selbst nur so viel, daß ich leben kann, und ich muß so viel Steuern bezahlen, daß ich manchmal nicht weiß, woher ich das Geld nehmen soll.«

»Wie kommt denn das?«

Peter Petersen zuckte die Achseln. »Das weiß ich ebensowenig wie du. Der König braucht viel Geld, und seine Königin will jeden Tag ein neues Kleid haben. Und dann sind bei dem König eine ganze Menge von Menschen, die Geld von ihm verlangen. Und dann –« der Wagen bog gerade um eine Ecke, und Peter riß seine Pferde zurück. Mitten im Weg lag eine große Kutsche, und neben ihr standen vornehm gekleidete Leute, die eifrig miteinander sprachen. Als sie den Frachtwagen mit den vier Pferden davor sahen, riefen sie dem Fuhrmann zu, zu halten. Aber Peter peitschte auf seine Tiere, fuhr um die Kutsche herum und wollte eilig weiterfahren. Da knallte es hinter ihm, sein bestes Pferd machte einen wilden Sprung und brach dann tot zusammen. Die andern Pferde standen von selbst still, und ein vornehmer Herr kam langsam und lachend näher.

Michel konnte nicht verstehen, was er sagte, aber das war auch nicht nötig. Er sah, was passierte. Peters andres Vorderpferd, das zweitbeste, was er hatte, mußte der Fuhrmann selbst aus- und vor die vornehme Kutsche spannen, vor der ein krankes Pferd lag. Das kranke Tier war ausgeschirrt und Peter ein Goldstück hingeworfen, und während die Kutsche schwerfällig weiterrasselte, stand der Fuhrmann auf der Landstraße. Sein eines Pferd lag noch tot im Geschirr, das andre war ihm weggenommen; nun konnte er sehen, wie er mit zwei Gäulen und dem schweren Wagen weiter kam.

»Waren das Räuber?« fragte Michel entsetzt, und der Fuhrmann nickte ernsthaft.

»Ja, das waren Räuber, mein Junge! So machen es hier die vornehmen Herrschaften, wenn es ihnen einmal so paßt.«

»Warum hast du dir das gefallen lassen?« fragte Michel weiter.

»Weil ich doch niemals Recht kriegen würde. Höchstens käme ich ins Gefängnis, und dazu habe ich auch keine Lust.«

.

Inzwischen waren einige Straßenbettler herangekommen. Als sie das tote Pferd sahen, schrien sie vor Freude, stürzten sich auf den Kadaver und zerstückelten ihn im Umsehen. Vom nächsten Dorf kamen noch mehr hinzu, die über das kranke Pferd herfielen und es gleichfalls töteten. Das war ein häßlicher Anblick, und Michel freute sich, als Peter langsam, langsam weiter fuhr. Er sagte nicht mehr viel, aber sein Gesicht trug einen bösen Ausdruck, und als er später durch eine Stadt fuhr, wo die prächtige Kutsche vor einem schönen Hause stand, da drohte er dorthin mit der Faust, und sein verwittertes Gesicht wurde so finster, daß sich Michel beinahe fürchtete.

Die Reise nach Paris ging nun noch viel langsamer, und die zwei Pferde waren abgetrieben, als sie eines Tages wieder in einer Herberge anhielten. Vor dem Stall stand ein großer junger Mann, der Peter auf Deutsch anredete.

»Nun, Alter, auch mal wieder hier? Verdienst du noch immer genug, daß es die Arbeit lohnt?«

»Der Herzog von Laremont hat mir ein Pferd totgeschossen, weil ich nicht gleich halten wollte, als er es befahl. Und dann nahm er mir auch noch mein bestes Handpferd und bezahlte es elend!«

Der andre lachte laut auf.

»Hast du einmal wieder gemerkt, wie die Aristokraten gut sind? Sie ziehen uns das Fell über die Ohren, und wir sollen uns noch bedanken! Aber vielleicht bedanken wir uns einmal gründlich!«

Er zeigte seine weißen Zähne und sah dann Michel an, der ihn ernsthaft betrachtete.

»Wen hast du denn da? Hast du dir ein fremdes Kind zugelegt?«

»Kinder habe ich selbst genug,« entgegnete Peter. »Dieser Bengel heißt Michel und geht nach Paris zu seiner Tante Male. Du kennst sie doch auch, Fernand: die Wirtin von dem ›Gebratnen Kaninchen‹!«

»Ob ich sie nicht kenne?« Der junge Mann schlug den Knaben freundschaftlich auf die Schulter. »Tante Male ist eine famose Frau, und sie gibt mir manchmal warmes Essen, selbst wenn ich nicht bezahlen kann. Aber meistens kriegt sie ihr Geld wieder; sie muß nur manchmal darauf warten!«

Fernand war sehr freundlich gegen Michel. Da Peter bei seinen Pferden bleiben wollte, erbot er sich, Michel die Stadt zu zeigen.

»Hier wohnt nämlich unser König Ludwig,« erklärte er. »Seine Frau heißt Marie Antoinette, und sie kommt aus Östreich. Dann sind da auch noch Kinder, ein kranker Kronprinz und noch ein kleiner Prinz und seine Schwester. Sie taugen alle nichts, und wir werden die ganze Gesellschaft nächstens absetzen!«

Hierauf sagte Michel nichts, weil er nichts von Königen und Königinnen verstand, aber er sah sich doch neugierig in der Stadt um, die, wie sein neuer Freund ihm erzählte, Versailles hieß, und wo der König in einem mächtigen Schlosse wohnte, das in einem herrlichen Garten lag.

Nachdenklich betrachtete Michel das weitläufige Gebäude, vor dem ein großer Teich lag. Hier standen eine Unmenge von Sandsteinfiguren, die alle miteinander Wasserstrahlen in die Höhe schleuderten. Da waren Männer und Frauen, hie auf Hörnern bliesen; sie warfen einen feinen Strahl Wasser in die Luft, und dann taten Pferde mit Fischschwänzen dasselbe und große Eidechsen und andres Getier, das Michel in seinem Leben nicht gesehen hatte. Dieser Teich mit den springenden Wassern war wirklich ein herrlicher Anblick, und obgleich Michel alles, was er sah, mit Hamburg verglich, so wußte er doch nicht, etwas Ähnliches in Hamburg gesehen zu haben. Wie ihn nun Fernand weiterführte, eine große Allee entlang, zu einem kleinen Schlößchen und zu kleinen, zierlich gebauten Hütten, da riß er seine Augen noch mehr auf.

»Dies ist Trianon und weiter hin Kleintrianon,« erklärte Fernand. »Hier wohnt die Königin meistens und macht dummes Zeug.«

»Was tut sie denn?« frug Michel, und der andre hob die Schultern.

»Ganz genau weiß ich es selbst nicht, aber, das ist ganz gewiß: sie ist eine böse Person, und wir sollten sie nur wegjagen. Gerade wie die andern Aristokraten.«

In diesem Augenblick fuhr ein offener Wagen langsam an den zwei Wandrern vorüber. Zwei Damen saßen darin und zwei Kinder, und die eine Frau sah Michel so ernsthaft an, daß er seine Kappe vom Kopfe riß und einen Kratzfuß machte. Die Frau neigte leise den Kopf, und die zwei Kinder nickten freundlich.

Der Wagen fuhr weiter, und Fernand stieß den Jungen in die Seite. »Du scheinst mir ein Aristokrat zu sein!« sagte er mißvergnügt. »Was hast du die Königin zu grüßen? Sie ist eine Östreicherin und will unser Land verderben!«

»Sie hat ein sehr nettes Gesicht!« erwiderte Michel trotzig, worauf der andre lachte.

»Das sagt jedermann, der sie zuerst sieht, aber es ist nichts an ihr, und wir müssen sie los sein, gerade wie alle Aristokraten!« Er schalt noch eine Weile weiter, als er aber Michel wieder in die Herberge brachte, war er schon wieder vergnügt und ließ sich von Peter in Speise und Trank freihalten, wobei er unendlich viele Geschichten erzählte, die alle davon handelten, daß in Frankreich die Wirtschaft ganz miserabel wäre und er alles ganz anders einrichten wollte.

Fernand war kein schlechter Mensch; er mochte nur durchaus nicht arbeiten und trieb sich überall umher. Einmal war er Soldat und eine Zeitlang in Deutschland gewesen. Es hatte ihm aber auch dort nicht gefallen, und nun suchte er manchmal hier, manchmal dort eine Kleinigkeit zu verdienen, um dann wieder tüchtig faulenzen zu können.

Er kannte viele Menschen in Paris und ging manchmal nach Versailles, um zu sehen, was der König und die Königin trieben. Wenn er dann etwas recht Böses über sie hörte, dann schmückte er die Erzählung noch recht aus und berichtete sie in irgendeiner Wirtschaft weiter, wofür er manchmal freies Essen und freien Wein erhielt. Denn die Pariser waren ebenfalls mit ihrem Königspaar unzufrieden und hörten gern, wenn sie schlecht gemacht wurden.

Alles dies lernte Michel erst allmählich. Jetzt verstand er das meiste, was er hörte, noch nicht und freute sich nur, die Königin gesehen zu haben und von ihr gegrüßt worden zu sein.


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