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Michel hatte mehrere Stunden fest geschlafen, als er geschüttelt und auf die Füße gestellt wurde.
»Es ist Zeit, Michel, komm mit!«
Der Junge wußte nicht, wozu es Zeit war, aber er war gleich wach und ging gehorsam neben Peter her, der ihn geweckt hatte. Er trug ein großes Gewehr in der Hand, und er gab an Michel ein blankes Messer.
»Damit du dich wehren kannst!«
Es war noch ganz dunkel. In einigen Häusern der Stadt brannte Licht, aber wie nun das große Königsschloß aus dem Dunkel aufragte, da sah man nur im Erdgeschoß einen schwachen Lichtschein. Da lag die Wache, die den König und seine Familie bewachen sollte.
Schon lange ging Michel nicht mehr allein mit Peter. Von allen Seiten kamen Frauen und Männer, die sich ihnen anschlossen. Sie sprachen alle durcheinander, und keiner von ihnen schien auch nur eine Stunde lang geschlafen zu haben. Sie hatten hier vor dem Schloß gewartet, um zur Königsfamilie zu gelangen. Sie waren müde und naß, denn es regnete noch immer, niemand schien viel zu essen gehabt zu haben, und daher waren sie alle sehr aufgeregt und zornig. Sie sprachen von den seidenen Betten, in denen der König und seine Familie in diesem Augenblick schliefen, und daß sie sicherlich satt zu Bett gegangen wären und daß am Morgen ein schönes Frühstück auf sie wartete. Und die Frauen und Männer, die neben Michel und Peter herliefen, malten sich aus, wie schön das Frühstück sein würde. In goldnen Tassen kam der heiße Kaffee, die Butter lag auf einer Silberschale, und es gab Brot, viel Brot, Eier und Fleisch dazu. Und die Kinder der Frauen saßen in Paris, froren in der kalten Herbstnacht und hatten nichts zu essen und zu trinken.
Wie Michel alle auf diese Weise um sich reden hörte, wurde auch er böse auf den dicken König, der so viel essen sollte und der keine Ahnung davon hatte, wie es war, in der Nacht im Regen zu stehen, müde und hungrig zu sein. Er dachte nicht daran, daß die vielen tausend Menschen freiwillig gekommen waren und daß sie nur hätten zu Hause bleiben können, wenn sie gewollt hätten; er wurde auch sehr zornig auf diese böse Königsfamilie und heulte und schrie mit den andern:
»Ich will den König und die Königin sehen! Sie sollen kommen und uns zu essen geben!«
Das Schloß lag hinter hohen eisernen Gittern, und die großen Türen waren verschlossen; aber plötzlich sprangen sie auf, und dann stürzte die ganze Horde in eine Seitentür des Schlosses. Einige Soldaten kamen ihnen entgegen, aber sie wurden gleich ermordet, und dann ging es eine kleine Treppe nach oben. Michel war mit in die vorderste Reihe gekommen, und er wollte auch in ihr bleiben, aber dann kamen große Männer von hinten, die ihn auf die Seite stießen und mit großem Geschrei in die Zimmer stürzten. Sie schlugen alle Soldaten tot, die ihnen in den Weg traten, und auch Michel fuchtelte mit seinem Messer herum und stach eine Fischfrau in den Arm, was diese sehr übel nahm und laut schrie, daß Verräter unter ihnen wären. Da drückte sich Michel hastig auf die Seite und in einen engen Korridor hinein, an dem die andern alle vorüberliefen. Und dann stand er plötzlich in einem kleinen Gemach, in dem eine Lampe ein behagliches Licht verbreitete und wo zwei Kinder aus den Betten gesprungen waren. Eine Frau stand bei ihnen und suchte sie zu beruhigen.
»Beruhigen Sie sich, mein Prinz, meine Prinzessin. Es ist das Volk, das Lärm macht, aber unsere braven Soldaten werden für uns wachen!«
In diesem Augenblick sah sie Michel mit dem Messer in der Hand vor sich stehen und legte über beide Kinder die Arme.
»Wer diesen Kindern etwas tut, der muß mich zuerst töten!«
Aber Michel dachte nicht daran, diesen Kindern ein Leids anzutun. Er sah auf den kleinen blonden Knaben, der ihn mit erstaunten Augen betrachtete und dann auf das größere Mädchen, das ihm zornig entgegenging.
»Was wollen Sie hier, mein Herr?« fragte sie hochmütig. »Machen Sie, daß Sie herauskommen, ich lasse Sie sonst bestrafen!«
Michel mußte lachen. Das kleine Mädchen sprach beinahe wie Clarissa, an die er noch manchmal denken mußte, und der Junge gefiel ihm nicht schlecht. Und dann war es hier so gemütlich nach der kalten, dunklen Nacht draußen.
Er setzte sich in einen Lehnstuhl und nickte den Kindern zu.
»Seid unbesorgt, ich tue euch kein Leid! Ich will nur den König totmachen und vielleicht auch die Königin, aber sie scheinen beide nicht hier zu sein; dann werden wohl andre das Geschäft besorgen!«
Beide Kinder schrien laut auf.
»Du willst den König, unsern Vater, unsre teure Mutter töten? Du bist ein Ungeheuer!«
Der kleine Prinz ging mit geballten Fäusten auf Michel zu, der ein wenig verlegen wurde.
»So? Sind das eure Eltern? Dann tut es mir leid, etwas gegen sie gesagt zu haben. Aber sterben müssen sie doch wohl!«
»Warum denn?« fragte die Prinzessin, und Michel besann sich gerade auf eine Antwort, als die Tür von neuem offen ging und eine Anzahl Herren und Damen ins Zimmer stürzten. Sie waren meistens sehr leicht gekleidet, als wären sie eben aus dem Bett gekommen, und alle machten sie dumme Gesichter.
»Fliehen! fliehen müssen wir!« riefen sie, einer faßte die Prinzessin am Arm und ein andrer den Prinzen, und dann verschwanden sie mit solcher Eile, daß Michel ihnen kaum folgen konnte. Er tat es aber doch, sah noch auf seinem Wege, wie zwei Schweizergardisten getötet wurden, und war dann plötzlich in einem andern großen Zimmer, in dem ein vornehm gekleideter Mann stand, der sich ratlos umsah. Er war ziemlich dick und hatte ein gutmütiges, aber wenig kluges Gesicht.
»Majestät, Sie müssen sich dem Volke zeigen!« rief einer der Herren. »Sonst werden wir alle umgebracht!«
»Das kann ich mir gar nicht denken!« erwiderte König Ludwig, während er sich verlegen die Hände rieb. »Ich liebe mein französisches Volk, und es liebt mich. Warum will es mich umbringen?«
»Sire, Sie müssen gehen!« sagte eine klare Stimme hinter ihm, und Michel drückte sich in eine Ecke, daß ihn die Königin nicht sehen konnte. Er verstand nicht viel von Königinnen, weil er nur einmal eine gesehen hatte, aber es war gerade Marie Antoinette gewesen, die er gleich wieder erkannte. Wie stolz hielt sie sich, und wie gerade sah sie den Menschen in die Augen! Und dabei trug sie keine Krone auf dem Kopfe, sondern nur ihr blondes Haar, ein einfaches, weißes Kleid und ganz kleine, rote Pantoffeln an den bloßen Füßen.
In den Gängen des Schlosses wütete noch der Kampf. Es fielen Schüsse, und es kam Michel vor, als hörte er unter den vielen wilden Stimmen auch die von Peter. Und wahrhaftig, die Tür ging auf, und eine Reihe von Männern trat ein, von denen mehrere in reiche Uniformen gekleidet waren, während Peter nur seinen alten Rock trug, an den er ein wenig Goldband geheftet hatte. Aber er stellte sich vor die besser gekleideten Herren und redete den König an.
»Ja, Herr König, kommen Sie nur hinaus auf den Balkon und zeigen Sie sich dem Volk. Sonst gibt es noch mehr Spektakel, und es werden noch mehr von Ihren braven Soldaten totgeschlagen. Das ist doch nicht der Mühe wert. Und dann lassen Sie die Madame Königin auch nur gleich mitkommen und die zwei Kinder. Das macht einen guten Eindruck!«
Michel wunderte sich, daß Peter so sprechen konnte; aber niemand anders schien sich zu wundern. Die geputzten Generale, die mit ihm gekommen waren, redeten auf den König ein, und da es mittlerweile ziemlich hell geworden war, so trat der König auf den Balkon, der sich an seinem Zimmer entlang zog, verbeugte sich vor dem Volk, das in dichten Massen um das Schloß herumstand, und die, die eben noch wild auf ihn geschimpft hatten, riefen jetzt Hurra und verlangten auch seine Frau und die Kinder zu sehen.
Das geschah denn. Michel, der noch immer unbeachtet in einer Ecke stand, verwunderte sich nicht wenig. Er dachte bei sich, daß er nicht so folgsam gewesen wäre. Aber die Generale wollten es; Peter stand noch immer im Zimmer, und seine Anwesenheit schien allen Höflingen Schrecken einzujagen. Endlich aber ging er wieder, und Michel merkte, daß es im Schloß ruhiger wurde. Aus Paris kam die Bürgergarde, und es schien, daß sie Anstalt machte, den König und seine Familie zu beschützen, obgleich sie es nicht sehr eilig damit zu haben schien.
Während das ganze Zimmer voll von den vornehmen Höflingen war, die dem König Ratschläge gaben und doch nicht zu wissen schienen, ob sie befolgt werden könnten, kam ein weißgekleideter junger Mann ins Zimmer, der eine große Kanne mit heißem Kaffee, einen Korb mit Brot und viele Tassen trug. Ohne sich um das Geräusch und Gewühl im Zimmer zu bekümmern, schenkte er eine Tasse nach der andern ein und gab sie dem König, der Königin und den zwei prinzlichen Geschwistern, die artig neben ihrer Mutter saßen und ihre Hand gefaßt hielten.
Jeder von ihnen nahm eine Tasse Kaffee und ein Brot, und dann begann der Weißgekleidete den andern Leuten einzuschenken, und Michel sah ihm sehnsüchtig zu. Er war auch durstig und hungrig, niemand aber beachtete ihn. Da sah er, wie der kleine Prinz mit seiner Mutter flüsterte, wie er sich dann eine Tasse Kaffee einschenken ließ, ein großes Stück Brot dazu nahm und ihm, dem Michel, beides brachte.
»Bist du nicht auch hungrig?« fragte er mit seiner klaren Stimme, und Michel nickte nur. Er nahm das Gebotne, aß und trank und fühlte sich hinterher sehr wohl. Immer mehr Menschen kamen in das Zimmer, um mit dem König zu reden, und auch die Königin mußte mit vielen Offizieren sprechen. Sie stand ganz nahe bei Michel, und er sah sie scheu von der Seite an. War sie wirklich eine schlechte Frau? Er konnte es sich kaum denken. Jedenfalls wollte er ihr doch lieber nichts tun.
Der kleine Prinz stand vor ihm und sah zu, wie er aß.
»Soll ich dir noch eine Tasse Kaffee holen?« fragte er, und als Michel bejahte, lief er lachend davon, um wieder mit Speis und Trank zurückzukehren. Er schob ihm auch einen Sessel hin.
»Bist du nicht müde vom langen Stehen?«
Seine Schwester war nicht so freundlich. Sie stand jetzt auch vor Michel und betrachtete ihn, aber mit ernsthaften Augen.
»Warum wolltest du eigentlich meine Eltern töten?« fragte sie, während Michel mit vollen Backen kaute und sich auf die Antwort besann.
Ehe er sie gefunden hatte, kam ihm die Königin zu Hilfe. Sie hatte sich von den Höflingen abgewandt und sich neben ihre Kinder gestellt.
»Der Knabe meinte es nicht so böse, wie er sagte,« erwiderte sie für Michel, und ihre Augen richteten sich voll auf ihn, daß er die seinen niederschlug und etwas Unverständliches murmelte.
Nein, diese Königin wollte er ganz bestimmt nicht töten. Sie war ja gar nicht böse, und ihre Stimme klang sanft und traurig. Was hatten nur die andern Leute, daß sie immer auf sie schalten und nicht mit ihr zufrieden waren? Wie er noch hierüber nachdachte, kam ein Herr ins Zimmer, der, sobald er Michel sah, seinen Degen zog und ihn töten wollte. Das war einer der Pagen der Königin, der Graf von Ferrand hieß und der über das Geschrei und das Getöse des Volkes sehr zornig war. Drei von seinen Kameraden waren von dem Volke getötet worden: nun sah er einen aus dem Volke in unmittelbarer Nähe der königlichen Familie und wollte ihm gleichfalls den Garaus machen. Michel lief es beim Anblick des bloßen Degens kalt über den Rücken, und er mußte an seine Mutter, an seine Schwestern denken, aber da hatte die Königin schon die Hand erhoben, und der junge Edelmann ließ den Degen sinken.
»Herr Graf, Sie wollen doch kein unschuldiges Blut vergießen, was hat Ihnen der Knabe getan?«
»Heute ist viel unschuldig Blut vergossen worden!« murmelte der junge Edelmann, und Marie Antoinette seufzte.
»Sie scheinen nicht mehr zu wissen, daß es nur im Alten Testament heißt, Auge um Auge, Zahn um Zahn; im Neuen Testament lernen wir, daß wir unsern Nächsten wie uns selbst lieben sollen!
Der junge Herr steckte seinen Degen ein und warf Michel einen Blick zu, als wollte er sagen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!
Michel wollte sich gerade vorsichtig aus der Tür schieben, als die Stimme der Königin ihn zurückrief.
»Geh nicht allein auf die Treppen, es könnte dir ein Leid geschehen. Herr General Lafayette, sorgen Sie dafür, daß dieser arme junge Mensch unbehelligt aus dem Schlosse kommt!«
Ein General, der am Fenster gestanden und auf die großen Volksmengen geblickt hatte, die noch immer das Schloß belagerten, machte ein sehr erstauntes Gesicht und maß Michel mit einem spöttischen Blick. Aber er wagte doch keinen Widerspruch, und einer seiner Adjutanten mußte den Jungen aus dem Schlosse bringen. Es war ein Glück, daß er diesen Schutz hatte, denn ins Schloß waren jetzt die Truppen von General Lafayette eingezogen, von denen noch die meisten zum Königspaar hielten und die laut sagten, daß sie jeden Pariser, der ihren König beleidigte, töten wollten. In den Sälen und auf den Treppen lagen manche Tote, die Michel noch am gestrigen Tage gesund und lustig aus Paris hatte ausziehen sehen. Da schauderte ihn noch einmal, und er nahm sich vor, der Königin recht dankbar zu sein und nicht mehr zu erlauben, daß schlecht über sie gesprochen würde.
Dann fiel ihm ein, daß er dem kleinen Prinzen nicht für den schönen Kaffee gedankt hatte, und beinahe wäre er umgekehrt, um das Versäumte nachzuholen, aber der vornehme Offizier stieß ihn unsanft ins Freie, und bald war er wieder mitten zwischen den Pariser Marktweibern, die verdrießlich vorm Schloß standen und noch viel mehr Spektakel und Blutvergießen wünschten, obgleich eine ganze Reihe von Toten an ihnen vorübergetragen wurde, bei deren Anblick sie in ein lautes Geschrei ausbrachen.
»Seht, da hat die Östreicherin wieder gemordet! Nun lacht sie sich ins Fäustchen und hofft, daß sie uns auch noch tot auf der Bahre liegen sieht! Aber wir wollen, daß sie selbst sterbe!«
Als Michel diese Worte hörte, wurde er zornig.
»Die Königin ist nicht böse!« rief er. »Sie hat mir zweimal das Leben gerettet, und ihr Sohn hat mir Kaffee gegeben.«
Da aber kam er schön an. Zwei große Frauen stürzten sich auf ihn, bearbeiteten ihn mit ihren Fäusten und hätten ihn wahrscheinlich totgeschlagen, wenn nicht Peter erschienen wäre und ihn mit sich fortgezogen hätte.
»Halte doch deinen Schnabel!« schalt er. »Glaubst du, daß du hier eine andre Meinung haben darfst als die andern Menschen?«
»Wir wollen frei sein!« brüllten die Weiber, und Michel hinkte eilig mit Peter davon. Ihm war von einer Frau der ganze Rock zerrissen worden, und dann hatte er auch noch einen Schlag gegen das Knie bekommen, daß er kaum gehen konnte. Er konnte nicht recht verstehen, was das für eine Freiheit war, bei der er nicht einmal seine eigne Meinung sagen durfte; aber als er Peter fragen wollte, fuhr dieser ihn noch einmal an, daß er schweigen sollte, und so kroch er wieder in der Herberge unter und ließ sich von der Wirtin den Rock flicken. Tante Male würde schön böse sein: das war sicher; aber warum erlaubte sie ihm auch, nach Versailles zu gehen? Es war wirklich kein Vergnügen dabei.