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Das erste Kapitel

.Ein ordentlicher Junge weint nicht, auch wenn er erst zehn Jahre alt ist und auf einmal verreisen soll.

Im allgemeinen ist es ja natürlich lustig, in die weite Welt zu fahren, aber Mutter müßte eigentlich mit dabei sein und auch Vater. Obgleich Vater leichter entbehrt werden kann, von wegen des Rohrstockes, mit dem er so ungewöhnlich freigebig ist. Nein, Vater braucht nicht mit, aber es ist sonderbar, daß Mutter ihn, den Michel, so ganz allein schickt. Sie hat ihm nur den Reisesack gepackt, mit seinem besten Anzug darin, sie hat ihm auch noch eine große Wurst hineingelegt und ein Stück echtes Weizenbrot. Vom Bäcker in der Görttwiete hat sie es geholt, wo der Bürgermeister immer kauft, aber sie ist nicht einmal mit aufs Schiff gegangen. Vater und die zwei kleinen Deerns tun dies. Die kleinen dummen Dinger, die bloß Mädchen und also keine ordentlichen Menschen sind. Anne heißen sie und Martha, und sie machen sich nichts daraus, daß der große Bruder von ihnen geht. Vielleicht freuen sie sich, weil sie morgens und abends die Biersuppe kriegen, die Michel ihnen immer vor der Nase weggegessen hat. Mädchen brauchen ja nicht viel zu essen, aber ein richtiger Junge muß Mark in den Knochen haben.

Und ein richtiger Junge weint auch nicht: gut, daß es dem Michel wieder einfällt! Gerade wollte er sich ein paar Tropfen aus den weißbewimperten Augen wischen, da denkt er daran, daß nur die dummen Weiber weinen.

Er reckt sich in dem grauwollnen Kamisol, das ihm aus Vaters Arbeitsrock zurechtgeschnitten ist, und horcht bescheiden auf das, was ihm der Vater zu sagen hat, obgleich er es auswendig weiß.

»Ja, mein Junge, du mußt nun allein in das ferne Land ziehen, das Frankreich genannt wird und von dem die Hauptstadt Paris heißt. Da reden die Leute kein Deutsch, sondern Französisch, und du wirst diese Sprache auch erlernen müssen. Die Tante Male wird sie dich schon lehren. Sei nur recht gehorsam gegen sie! Du weißt, sie ist die Schwester deiner Mutter, und sie hat uns schon oft beigestanden, wenn wir mehr Geld brauchten, als wir einnahmen. Ihr Kinder habt so schrecklich großen Appetit! Wie gesagt, sie hat uns oft geholfen, und da sie schreibt, daß sie bei ihrem Geschäft in Paris einer Hilfe bedarf, aber keine Lust zu einem leichtsinnigen Franschmann hat, und mich fragte, ob du ihr wohl helfen könntest, so haben wir uns entschlossen, dich, lieber Michel, zu ihr zu senden, damit du ihr einen kleinen Teil der Dankbarkeit abtragen kannst, die wir der Tante Male schulden. Du wirst ein frommes und gehorsames Kind sein und dir Mühe geben, in jeder Beziehung der Tante nützlich und dienstwillig zu sein!«

So redete der Vater, der Schreiber bei einem Advokaten war und daher das Reden verstand. Er war ein kleiner, dürrer Mann und hieß Herr Michael Schneidewind.

»Schni, Schna, Schneidewind!« so riefen die Jungen wohl hinter Michel her, wenn sie sich mit ihm prügeln wollten, was ihm gerade so viel Freude machte wie den andern.

Wann würde er sich wieder mit ihnen verhauen? Es war zu dumm, daß ihm jetzt wahrhaftig die Tränen über die Backen liefen, was natürlich daher kam, weil der Herr Vater gleichfalls sein kornblumenblaues Tuch aus der Tasche nahm und sich umständlich schneuzte, obgleich er keine Prise genommen hatte. Und wie der Vater sich so die Nase wischte, da begannen Martha und Anne plötzlich zu weinen, so daß der Michel verächtlich über sie lachen wollte, wie das so seine Gewohnheit war; dann aber juckte es auch in seiner Kehle, und er heulte zum Gotterbarmen.

Aber nicht lange, denn sein Vater wischte sich nicht mehr die Nase, sondern richtete sich steif in die Höhe und sah den Sohn strafend an.

»Hast keinen Grund zum Weinen, Michel! Dir wird's gut gehen, sofern du nur brav und ordentlich bist! In deinen Sack hat die Mutter was Gutes für dich gelegt, was wir alle selbst gern gegessen hätten, und nun paß auf, daß du in das richtige Boot kommst, und schicke einmal Nachricht!«

Ob der Vater sonst noch etwas an ihn gesagt hatte, wußte Michel später nicht mehr. Er konnte sich nur dunkel entsinnen, daß man ihn in ein Boot geschoben hatte, das auf der grauen Elbe schaukelte. Und als er wieder zur Besinnung kam, da stand er auf Schiffsplanken und sah auf die Stadt zurück, in der er geboren war, und von der er wußte, daß sie Hamburg hieß und eine mächtige Handelsstadt war.

Hochauf ragten die Türme der Stadt, der alte Michel, in dessen Schutz seines Vaters Haus stand, und nach dem er sicherlich getauft war! Michel war immer stolz auf diesen Patenonkel gewesen, war oft in den hohen Turm geklettert und hatte sich die Aussicht von seiner durchbrochenen Galerie angesehen. Da wehte immer der feinste Wind, der entweder aus Westen oder aus Osten kam und die Elbe manchmal blau färbte und manchmal grau. Und es war so lustig gewesen, die weißen Segelschiffe zu sehen, die wie große Schwäne der Nordsee zusteuerten.

Damals hatte Michel wohl gewünscht, daß er auch einmal auf solchem Schiff in die Ferne reisen möchte, wie nun aber dieser Wunsch so schnell in Erfüllung ging, da wäre er doch lieber auf festem Grund und Boden geblieben und nicht zu Tante Male nach Paris gefahren.

Aber dazumal wurden die Kinder noch niemals nach ihrem eigenen Willen gefragt, und wie nun der Steuermann zu ihm trat und sich erkundigte, warum er ein so dummes Gesicht machte, da setzte sich Michel die Wollkappe fester auf den Schädel und erwiderte brummig, daß er noch niemals dumm gewesen wäre.

»Kiek mal an!« Claus Piepgras betrachtete ihn mit listigen Augen. »Sei man nicht grob, mein Jung, denn kriegst wat mit de Pietsch!«

Aber er lachte, als Michel ihn ungläubig anstarrte.

»Ne, wir hauen nicht gleich, Jung! Du bist ja auch ein Passagier, und wir sollen dich in der großen Seestadt Havre abgeben, daß du gleich weiter nach Paris befördert wirst. Unser Kaptein und dein Vater kennen sich ja so'n bißchen, und darum wirst du nicht allzuviel bezahlt haben. Da kannst du denn ein wenig mithelfen, daß hier auf dem Schiff alles in Ordnung geht. Unser Schiffsjunge ist uns weggelaufen, und wir konnten in der Eile keinen wiederkriegen. Gerade zu dieser Reise nicht, wo wir so feine Fracht nach Frankreich haben. Einen leibhaftigen Grafen, seine Tochter und noch eine Mamsell!«

»Was ist ein Graf?« fragte Michel, der dem Steuermann aufmerksam zugehört hatte, und dieser holte sich ein braunes Stück Tabak aus der Tasche und steckte es hinter die Zähne.

»Mußt nicht so dumm fragen!« erwiderte er. »Ein Graf ist was sehr Feines und ein großer Herr. So, wie bei uns in Hamburg die Senators sind, oder noch mehr. Mußt nicht so dumm fragen!«

Er ging breitbeinig davon, aber Michel lief hinter ihm her.

»Wann fahren wir denn eigentlich ab?« erkundigte er sich. Denn das Schiff lag still auf dem Wasser und schien nicht daran zu denken, seine weißen Segel aufzusetzen und wie ein Schwan in die Nordsee hinauszuziehen.

Aber Claus Piepgras wiederholte: »Mußt nicht so dumm fragen!« und ging gemütlich weiter.

Da fand Michel es richtig, an seinen Reisesack zu gehen, sich das Stück Weizenbrot aus der Görttwiete herauszuholen und es langsam aufzuessen. Abschiednehmen macht hungrig, und wenn die Mutter auch gesagt hatte, daß das Brot noch bis nach Frankreich reichen sollte, so hatte sie wohl ebensowenig Ahnung, wie lange die Reise nach diesem geheimnisvollen Lande dauerte wie Michel selbst. Wo lag es denn eigentlich? Hinter Glückstadt oder Kuxhaven? Während Michel darüber nachdachte, aß er sein Brot ganz auf, und es schmeckte ihm so gut, daß er nur bedauerte, wie gar nichts mehr davon übrig blieb.

Er hatte sich auf einen großen Haufen von Tauenden gesetzt und sah wieder nach seiner Vaterstadt. Es war dunkel geworden, und der Laternenmann in Hamburg ging jetzt wohl von einer Laterne zur andern, um sie langsam anzuzünden. Das war immer ein langes Geschäft, und die Jungen liefen hinter den alten Männern her, um ihnen das Feuerzeug zu stehlen und sonst dumme Witze zu machen. Dann kam denn der Stadtvogt oder der Nachtwächter mit einem Stock; aber die Jungen konnten immer schneller laufen als die alten Männer.

Ob es in Paris bei Tante Male auch solche Lustigkeit gab?

Michel wollte grade darüber nachdenken: da kam Claus Piepgras und führte ihn nach unten. In eine kleine, muffige Höhle, wo eine Hängematte leise hin und her schaukelte. Michel kroch hinein und schlief gleich ein. Als er dann erwachte, wußte er nicht, wo er sich befand, und konnte nicht begreifen, daß alles um ihn schaukelte. Auch aus der Hängematte konnte er nicht kommen, bis sie sich von selbst umkehrte: da fiel er hinaus. Und dann kamen so entsetzliche Gefühle über ihn, daß er einsah, sterben zu müssen. Das war ärgerlich, und deswegen brauchte ihn sein Vater nicht nach Frankreich zu schicken, damit er gleich auf der Reise seinen Tod fand. Aber, wenn es gestorben sein mußte, dann wollte Michel gleich die gute Wurst verzehren, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte. Die gute Mutter! Michel sah sich um. Er war allein in der kleinen Koje mit der schwingenden Hängematte, und da konnte er nach Herzenslust heulen. Einmal vor Übelkeit und dann auch vor Sehnsucht. Und dabei biß er ein Stück nach dem andern von der Wurst ab, kaute sie und schluckte sie mit Anstrengung hinunter, bis er wieder an seine Mutter dachte und der Bissen ihm im Munde quoll. Aber er fand noch Kraft, die kleine Tür seiner Koje aufzustoßen und auf einer steilen Leiter nach oben aufs Deck zu kriechen. Hier wehte ihm ein frischer Wind um die Nase, und der Schoner hob und senkte sich mit den Wellen. Nur an einer Seite lag ein Streifen Land, und von Hamburg war nichts mehr zu sehen.

Michels Seekrankheit hatte nachgelassen; er wollte sich gerade auf dem Deck umsehen, als er neben sich ein heftiges Weinen hörte. Da lag unter einer Holzbank ein kleines Mädchen und schien gerade so krank zu sein, wie er es gewesen war. Sie trug einen roten Sammetmantel, und ihre blonden Haare waren weiß gepudert; auch hatte sie Ringe an den Fingern, aber darum weinte sie doch und sagte etwas in einer Sprache, die Michel nicht verstand.

»Was willst du?« fragte er die arme Kleine, die ihn mit erloschenen Augen anstarrte.

Sie richtete sich halb auf, um gleich wieder auf den Bretterboden zu sinken. »Laß mich!« sagte sie in einem fremdartigen Deutsch. »Ich muß sterben!« »Sterben?« Michel, der sich wieder ganz frisch fühlte, lachte. »Du bist nur krank vom Schaukeln! Das sind kleine Mädchen immer, wenn sie aufs Wasser kommen.«

Nun richtete sie sich von neuem auf.

»Bist du denn nicht krank gewesen?«

Sie hatte schöne, blaue Augen, und sie gefiel Michel ein wenig. Obgleich ihm eigentlich kein Mädchen gefiel. Statt der Antwort brach er ein Stück von seiner Wurst ab und steckte es dem Mädchen in den Mund.

»Das ist gut gegen die Krankheit,« erklärte er. »Das ist Wurst von Schlachter Zipfel in der Pelzerstraße. So was Gutes hast du noch nie gegessen.«

Sein Ton klang befehlend, und die Kleine schluckte und kaute gehorsam an dem, was ihr in den Mund gesteckt war. Und vielleicht ging das Schiff etwas leiser, oder sie war schon in der Besserung gewesen: jedenfalls kroch sie unter ihrer Bank hervor und hob die Hand Michel entgegen.

»Hilf mir, daß ich wieder auf die Füße komme!«

Da lachte er laut und drehte ihr den Rücken.

»Hilf dir nur selber!« sagte er. »Anne und Martha müssen mir helfen, wenn ich es haben will; aber ich brauche es nicht zu tun!«

Claus Piepgras kam und half der Kleinen in die Höhe.

»Nun, kleines Fräulein, wo hast du denn deinen Vater und deine Mamsell, die auf dich passen soll?«

Die also Gefragte schob sich die langen Haare aus dem Gesicht. »Ich glaube, daß mein Herr Vater tot ist und die Demoiselle auch!« erwiderte sie gleichmütig, und der Steuermann lachte.

»Nu, sie werden vielleicht noch einmal lebendig werden! So, Michel, hole mal einen Korbstuhl für das kleine Fräulein und bringe ihr nachher Kaffee. Ich will dir zeigen, wo du ihn holen kannst!«

Michel machte große Augen. Er selbst hatte rechte Sehnsucht nach der braunen Gerstenbrühe, die die Leute damals Kaffee nannten: aber er hoffte eigentlich, das kleine Mädchen würde ihn bedienen.

Darin hatte er sich nun getäuscht. Als Claus ihm den Weg in die kleine Kombüse zeigte, wo ein dampfender Kessel auf dem Feuer stand, drückte er ihm bald einen Silberbecher voll Kaffee in die Hand.

»Siehst du, dieser Becher gehört der kleinen Gräfin, bringe ihn ihr und dieses Stück Zwieback. Frage sie auch, ob sie mehr haben will, und warte auf ihre Befehle!«

»Von Mädchen lasse ich mir nichts befehlen!« begann Michel, aber der Steuermann gab ihm einen derben Puff, daß er fast gegen die Wand taumelte.

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»Wenn ich dir was sage, dann hast du zu gehorchen!« Da wurde Michel so kleinlaut, daß er den Becher ganz demütig dem kleinen Mädchen brachte und sie nur verstohlen von der Seite betrachtete. Was war nur an ihr, daß sie anders sein sollte als seine Schwestern Anne und Martha? Ihr Mantel war allerdings aus Samt und ihr Kleid aus seinem Wollstoff. Auch hatte sie lange blonde, mit weißem Puder bestreute Haare, die vielleicht besser waren als glatte Flechten. Was aber sonst Besondres an ihr war, konnte er nicht begreifen, und daher kroch er lieber auf die andere Seite des Schiffes und ließ das Mädchen, das eine Gräfin genannt wurde, ihren Kaffee allein trinken.


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