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Das fünfte Kapitel

.Michel hörte jetzt täglich von den Aristokraten sprechen, und er begann sie zu hassen, weil alle Leute, die im »Gebratnen Kaninchen« verkehrten, sie haßten. Er selbst hatte nie gewußt, was das Wort bedeutete, aber bald konnte er sich denken, wer die Aristokraten waren. Das waren die Edelleute, die um den König waren, die reich waren, während das Volk nichts zu essen hatte, die seidne Kleider trugen und Spitzenmanschetten und die sich nicht an ihrem eigenen Haar genügen ließen, sondern weiße Perücken auf den Kopf setzten, mit einer großen Schleife daran oder mit einem Zopf. Wenn die Gäste in die Wirtschaft kamen und sich ihr einfaches Essen, ihren Wein geben ließen, dann schlugen sie mit der Faust auf den Tisch und wußten immer neue Geschichten von den Aristokraten zu berichten. Denen gehörten herrliche Schlösser und Ländereien in ganz Frankreich, sie aßen jeden Tag die schönsten Gerichte, sie kleideten sich in Seide, und sie ließen ihre Arbeiter, ihre Bauern verhungern. Wenn diese armen Leute ihnen nicht die Steuern zahlen konnten, wie es von ihnen verlangt wurde, dann wurden sie ins Gefängnis geworfen und kamen meistens nicht wieder heraus. In Frankreich gab's überall große Gefängnisse, aber die Aristokraten kamen niemals hinein. Nur die Bürger und Bauern, die konnten darin vermodern.

Michel wurde es manchmal heiß und kalt bei diesen Erzählungen, und eigentlich tat es ihm leid, daß er damals Clarissa das Leben gerettet hatte. Sie war doch sicherlich auch eine Aristokratin, weil sie eine Gräfin war, und er nahm sich vor, wenn er wieder einem vornehmen Franzosen begegnen sollte, ihn zu töten oder wenigstens ins Gefängnis zu werfen. Manchmal hatte er soviel böse Geschichten abends gehört, daß er nicht gleich einschlafen konnte. Dann mußte er wohl an Clarissa denken, und ob sie auch so grausam gegen ihre Diener war, wie es allen Vornehmen nachgesagt wurde. Eigentlich war sie doch nicht sehr schlimm gewesen und ihr Vater auch nicht. Aber solche Leute sollten sich arg verstellen können; da kam ein Mann täglich in die Wirtschaft, der nichts andres tat, als die Aristokraten anklagen. Er nannte sich Berton, und er war ein bankerotter Kaufmann. Tante Male gab ihm ungern Kredit, weil er niemals seine Zeche bezahlte, aber er konnte so viel erzählen, daß er manche Gäste in die Wirtschaft lockte, die dann mehr aßen und tranken, als sie eigentlich wollten. Und da die meisten gut zahlten, so mußte Tante Male Berton gegenüber ein Auge zudrücken. Und wenn Berton von der Bastille sprach, dann hörten ihm alle Leute zu.

Die Bastille war nämlich eine alte Festung und das Hauptgefängnis von Paris, und in ihren dumpfen Kellern sollten Hunderte von armen Bürgern schmachten, weil sie vielleicht ihre Schulden nicht hatten bezahlen können oder sonst irgendeine Missetat auf sich geladen hatten. Aber auch eine ganze Menge von Unschuldigen schmachteten in den schrecklichen Gewölben; niemand wußte mehr ihren Namen, und wenn sie starben, dann warf man sie in die Seine, in den Fluß, der durch Paris floß.

Als Michel erst von der Bastille gehört hatte, da konnte er fast gar nicht mehr einschlafen, und als er eines Sonntags mit Herrn Schmidt ausgehen durfte, da bat er ihn so lange, bis dieser mit ihm vor das große, düstre Gebäude ging, das im Osten der Stadt lag und von deren Mauern einige Kanonen ihre Läufe auf Paris richteten.

Herr Schmidt wußte nicht so schreckliche Geschichten von der Bastille wie Berton; aber er meinte auch, diese alte Festung gehörte nicht mehr nach Paris. Doch der König hielt etwas von dem alten Kasten; er hatte eine Anzahl von Schweizergarden dort hingelegt, die die Festung bewachen mußten, und dann noch achtzig Invaliden, die dort ihr Gnadenbrot aßen. Herr Schmidt wußte diese Dinge ganz genau, weil er früher einmal in der Bastille gewesen war: nicht im Gefängnis, sondern beim Kommandanten, dessen Tochter ein Spinett hatte, das arg verstimmt war und keinen rechten Ton mehr angeben wollte. Da hatte er Herrn Schmidt holen lassen, von dem er zufällig gehört hatte, daß er mit allen Instrumenten Bescheid wußte, und bald war das Klavier wieder in Ordnung gewesen.

Während Herr Schmidt dies erzählte, betrachtete Michel die starken Wälle der Bastille, die durch einen tiefen Graben von der Stadt getrennt waren. Oben, unterm Tor, hing die Zugbrücke, und daneben stand ein großer Soldat in roter Uniform, der eine Muskete schulterte. Das war ein Schweizergardist, einer von den vornehmen Soldaten, deren Amt es war, den König und die Königin zu bewachen und zu schützen. Sie kamen alle aus der Schweiz, und daher hießen sie Schweizer und waren stolz auf den Namen.

Michel nahm einen Stein und wollte ihn nach dem rotröckigen Soldaten werfen, aber er warf zu kurz, und der Stein fiel nur in das schwarze Wasser des Grabens.

»Junge, Junge,« der ängstliche Herr Schmidt wurde ärgerlich; »willst du auch in die Bastille und dort sitzen, bis du schwarz wirst?«

»Ich will alle Schweizer totschlagen und die Bastille soll niedergerissen werden!« prahlte der Junge, und sein Begleiter legte ihm die Hand auf den Mund.

»Willst du still sein! Niemals nehme ich dich wieder hierher!« Die zwei hatten Deutsch miteinander gesprochen, daher verstanden die Umstehenden nicht, was sie redeten, aber ein langer Mann, der vielleicht gesehen hatte, wie Michel den Stein warf, trat auf ihn zu und gab ihm die Hand.

»Du bist ein braver Junge!« lobte er ihn. »Nächstens werfen wir alle mit Steinen nach der Bastille und nach den bunten Puppen, die sich Ludwig hält, damit er das Volk aussaugen kann.«

Herr Schmidt zog den Knaben mit sich fort.

»Solche Reden sind sehr böse, und du darfst sie nicht hören!« rief er. »Komm, wir wollen nach den Tuilerien gehen, wo die französischen Könige ehemals gewohnt haben, da kannst du wieder Respekt vor Ludwig kriegen. Denn wer in solch schönem Schlosse wohnen darf, der ist noch sehr begnadet!«

Michel aber rümpfte die Nase, als er das große Schloß betrachtete, das die Tuilerien hieß und das in einem großen Garten lag. Es standen hier und dort wohl Schildwachen, aber man konnte an der allgemeinen Verfallenheit sehen, daß nur Diener im Schloß waren. An der großen Gittertür, die in den Garten führte, standen viele Menschen und betrachteten gleichfalls das Schloß.

»Weshalb wohnt Ludwig nicht hier?« fragten sie.

»Weil er in Versailles lieber sein mag!« antworteten andre. »Die Östreicherin mag die Pariser nicht leiden. Sie mag überhaupt uns Franzosen nicht leiden.«

»Dann laß sie doch wieder nach Östreich gehen!«

»Ja, aber vorher soll sie uns das Geld wiedergeben, das sie uns gestohlen hat. Alle ihre Diamanten und Perlen, alle die großen Summen, die sie im Kartenspiel verloren hat!«

So sprachen die Leute miteinander, und sogar Herr Schmidt hörte schweigend zu und nahm nur ab und an eine Prise. Er war einer von den stillen Menschen, die keine Aufregung haben wollen und den Frieden über alles lieben. Wenn er sein tägliches Brot hatte und Tante Male ihm ein Glas Wein dazu gab, dann verlangte er nicht mehr.

Es gelang ihm, Michel mit sich fortzuziehen.

»Die Pariser sind ein unruhiges Volk,« sagte er kopfschüttelnd, »laß dich nur nicht mit ihnen ein! Komm lieber zu mir. Ich habe ein altes Klavier in Reparatur bekommen, darauf kann ich dich spielen lehren. Und dann will ich eine Maschine erfinden, mit der man bequem grobes Brot schneiden kann. Du mußt sie dir ansehen; vielleicht kann Tante Male sie gebrauchen!«

Aber Michel wollte keine Brotschneidemaschine sehen, und an Klavierspielen dachte er erst recht nicht. Sein Kopf war voll von der Bastille, die niedergebrochen werden sollte, und dann wunderte er sich, daß die Pariser einen König hatten, den sie nicht leiden konnten.

Nun kam der Sommer, und in Paris wurde es heiß. Das »Gebratne Kaninchen« lag zum Glück in einer engen und dunklen Gasse; hierher kam die Sonne nicht mit ihren glühenden Strahlen: und das war ein Glück, denn es gab mehr Arbeit als jemals. Immer mehr Leute kamen in die Wirtschaft, um zu essen und besonders zu trinken, und Michel wünschte sich manchmal ein paar Extrabeine, weil seine eignen oft sehr müde waren. Aber die gab es nun nicht, und er mußte sehen, mit seinem eignen Beinwerk fertig zu werden.

Herr Berton war verreist. Er sollte in der Provinz sein und Reden gegen den König halten, wie der lange Fernand erzählte, der eines Tages ankam und sich ein gebratnes Kaninchen geben ließ.

Er schalt gleichfalls auf den König und seine Beamten, die das Land so schlecht regierten, daß es eine Schande war.

Tante Male verbot ihm, in ihrem Hause so häßliche Reden zu führen, und Michel freute sich, daß Herr Schmidt sie nicht hörte, weil er doch so für den Frieden war.

Herr Schmidt war nämlich nach Versailles zu einem vornehmen Herrn eingeladen, um ein Klavier und auch eine große Puppe in Ordnung zu bringen, die nach der Musik des Klaviers tanzte. In Versailles sollte viel los sein; die Leute, die in der Wirtschaft verkehrten, berichteten davon. Dort kamen eine Menge von Volksvertretern zusammen, die über Frankreichs Wohl und Wehe beraten sollten, weil der König nicht genug vom Regieren verstand.

Michel wäre gern einmal nach Versailles gegangen; eine ganze Menge von seinen Bekannten gingen hin und erzählten, wie nicht allein die Aristokraten, die hohen Geistlichen, sondern auch ganz einfache Bauern dort zu sehen waren und wie sie neue und bessere Gesetze machen wollten.

Aber Tante Male ließ ihren Neffen nicht so lange aus dem Hause. Ihre Magd war ihr davongelaufen; sie mußte selbst viel arbeiten, und Michel mußte ihr helfen. Das war ärgerlich, und der Junge ertappte sich mehrmals auf dem Gedanken, aus dem Hause zu laufen und nachzusehen, was es Neues in Paris gäbe.

Und einmal, wie er verdrossen an einem schönen Sommermorgen vor der Tür stand, in den hellen Sonnenschein blickte und sich wie ein Sklave vorkam, ging ein junger Mensch an ihm vorüber, der ihn einen Augenblick betrachtete und ihm dann zunickte.

»Nun, was hast du mit meinem seidnen Rock gemacht?«

Es war der Jüngling, der damals, im Garten von Herrn Martin, den Anzug mit ihm gewechselt hatte.

»Den Rock habe ich verwahrt,« erwiderte Michel. »Wollen Sie ihn wieder haben?«

Der andere lachte. »Gewiß nicht; er gehörte mir ja gar nicht. Ich hatte ihn einem Aristokraten gestohlen, aber die Häscher waren hinter mir her, und ich wäre beinahe ins Gefängnis gekommen. Aber, wie ich deinen schmutzigen Rock trug, da erkannte mich niemand, und ich bin entkommen.«

»Sie sind also ein Dieb?« erkundigte sich Michel, und der junge Mensch zuckte die Achseln.

»Die Aristokraten haben uns so lange bestohlen, jetzt ist die Reihe des Stehlens an uns. Was tust du hier übrigens?«

Michel antwortete ihm, daß er bei seiner Tante wohne und ihr helfen müßte, worauf der andre in ein lautes Gelächter ausbrach.

»Gibt es noch solche Narren, die bei ihren Tanten hinter dem Ofen sitzen, wenn es soviel Lustiges zu erleben gibt? Komm du nur mit mir! Heute wollen wir die Bastille zerstören, und du sollst dabei helfen!«

.

Er riß Michel mit sich fort und sprach so aufgeregt auf ihn ein, daß der Junge plötzlich eine glühende Lust verspürte, auch etwas zu erleben und einige Aristokraten zu töten, wie jeder brave Franzose dies mußte.

Also lief Michel mit dem Fremden in einen heißen Julitag hinein, durch Straßen, die immer voller von Menschen wurden. Mit einem Male hatte er eine Trommel um den Hals gebunden und trommelte wie besessen darauf los. Andre Knaben trommelten auch, und viele Erwachsene trugen einen Säbel, eine Pike, eine alte Muskete, und je weiter der Zug sich der Bastille näherte, desto wilder schrien die Menschen. Und nicht allein Männer und Knaben waren im Zuge: viele Frauen liefen auch mit, und einige hatten kleine Kinder auf dem Arm.

Und dann lag die Bastille vor ihnen. Die Zugbrücke war hochgezogen, die roten Schweizersoldaten standen bei den Schießscharten, und eine Reihe von alten Invaliden blickte über die Mauer.

»Herunter mit der Zugbrücke!« schrie das Volk. »Wir wollen niemanden etwas tun, wir wollen nur die Mauern der Festung einreißen und die armen Gefangnen befreien. Herunter mit der Zugbrücke!«

Und wenn die Menschen nicht schrien, dann trommelten Michel und seine Genossen, die kleinen Kinder begannen zu weinen, und es war ein Lärm, daß einem die Sinne vergehen konnten.

Jetzt wurden lange Leitern über den Festungsgraben gelegt, eine Schar von Männern kletterte hinüber, und endlich senkte sich langsam die Zugbrücke. Was dann geschah, wußte Michel später niemals mehr ganz genau. Er wußte nur, daß er trommelnd in die Festung einzog, daß um ihn her lautes Geschrei und Gejubel war, daß Schwerter und Piken blitzten und daß er plötzlich sah, wie einem alten Mann der Kopf abgeschlagen wurde. Da überkam ihn ein großes Entsetzen, und er wollte die Trommel wegwerfen und nach Hause eilen. Er konnte aber nicht aus dem Getümmel heraus und mußte erleben, wie das Volk eine Reihe von Soldaten tötete und dabei patriotische Lieder sang. Und dann gab man ihm eine Hake in die Hand, und er mußte auf die Steinmauern der Festung losschlagen, wie Hunderte von Männern und Knaben neben ihm.

Aber er konnte bald nicht mehr. Den ganzen Tag lang hatte er getrommelt und geschrien und nicht einmal ein Glas Wasser erhalten. Nun hatte er keine Luft mehr, auch noch die Mauern der Bastille auseinander zu schlagen und vielleicht die ganze Nacht arbeiten zu müssen.

Die Volksmenge lief in den Kellern umher und suchte nach Gefangnen. Sie fand nur einen; einen alten Mann, der von vielen Armen ins Freie getragen wurde und der ein so unglückliches Gesicht machte, daß man merkte, er wäre lieber in seinem stillen Gefängnis geblieben.

Aber die Menge hatte ihn befreit, und wohl zwanzig Frauen reichten ihm ihre Kinder, damit er sie küssen sollte. Und zwei junge Mädchen schnitten ihm sein weißes Haar ab, weil sie daraus Armbänder zum Andenken an ihn anfertigen lassen wollten. Auch dies schien der befreite Gefangne nicht gern zu mögen, und einmal schrie er ganz laut, daß er in Ruhe gelassen werden wollte. Aber da wurde gerade der Kopf des Kommandanten bei ihm vorüber getragen, und er mußte sich freuen, daß die Leute von ihm nur die Haare haben wollten.

Müde trottete Michel endlich nach Haus. Die Geschichte war ja wohl ganz lustig gewesen, aber nun freute er sich auf ein gutes Gericht im »Gebratnen Kaninchen«. Tante Male würde ihn wohl schelten und auch vielleicht prügeln: aber, was hatte sein neuer Freund Henri gesagt? Aus Tanten sollte man sich nichts machen. Das wollte er denn auch nicht, und vielleicht konnte er seine Tante bald wieder prügeln. War er nicht ein großer Kerl geworden und hatte geholfen, die Bastille zu zerstören? Wer so etwas konnte, der brauchte sich von niemand mehr befehlen zu lassen.

Als Michel bei diesem Gedanken angelangt war, erhielt er einen so heftigen Schlag gegen den Arm, daß er fast hingefallen wäre. Er hielt sich aber aufrecht und sah sich um, weil von hinten der Schlag gekommen war. Da feuerten einige Leute ihre Flinten hinter einem jungen Menschen her, der bei Michel hatte vorbei laufen wollen. Eine Kugel hatte ihn aber in den Rücken getroffen, und er fiel zur Erde.

Michel erkannte in ihm seinen Genossen Henri.

Die von hinten geschossen hatten, kamen jetzt näher.

»Dies ist ein Dieb!« sagten sie. »Der hat im Gedränge einer Menge von Patrioten den Geldbeutel aus der Tasche gezogen; dafür muß er sterben!« Dabei griffen sie in Henris Tasche und holten wirklich einige Beutel heraus. Erschrocken lief Michel weiter. Eigentlich hatte er Henri ein wenig bewundert, daß er sich selbst einen Dieb nannte und sich gar nicht schämte. Nun ereilte ihn gleich die Strafe für seine Sünde.

An diesem Abend war es sehr lustig in Paris. Auf den breiten Straßen jubelte das Volk und freute sich, daß die Bastille gefallen war und dem Erdboden gleich gemacht werden sollte. Viele Menschen faßten sich an und tanzten auf der Straße, und andre hatten so viel Wein getrunken, daß sie erst lachten und dann weinten.

Michel aber wurde es immer schlechter zumute. Sein Arm begann heftig zu schmerzen, und er hatte nur einen Gedanken, so bald wie möglich nach dem Hause seiner Tante zu kommen. Und wie er vor dem »Gebratnen Kaninchen« stand, da fiel er mit einem schweren Seufzer auf die Türschwelle nieder.


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