Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das neunte Kapitel

.Michael blieb nicht lange in der Herberge. Mutter Tilda suchte ihn und schalt ihn aus, daß er ihr davongelaufen wäre. Sie war die ganze Nacht im Freien gewesen und hatte doch nichts Besondres erlebt: nicht einmal den König hatte sie gesehen, und mit ihm wollte sie doch reden. Nun stieß sie mit Michel herum und war böse auf ihn, obgleich er ihr nichts getan hatte. Sie ließ ihn auch nicht wieder von sich, und als nachher der große Menschenzug nach Paris zurückging, da saß Mutter Tilda auf einer Kanone, die von den Nationalgardisten nach Paris gebracht wurde, und neben ihr saß Michel, dessen Knie ganz steif geworden war, so daß er keinen Schritt machen konnte. Aber er achtete nicht des Schmerzes, sondern sah nach den Hofwagen, die sich im Zuge und ganz in seiner Nähe befanden. Der König, die Königin und ihre Kinder, alle, die zu dem Umgang des Königs gehörten oder die eine Stellung bei ihm einnahmen, zogen jetzt nach Paris. Das Volk wollte es, und die Ratgeber des Königs rieten, dem Volke seinen Willen zu tun. Wieder konnte Michel die ganze königliche Familie ganz aus der Nähe betrachten, und wieder mußte er an seine Schwestern, an seine Mutter denken.

Zwar hatten seine Schwestern niemals so schöne Kleider gehabt wie die Prinzessin, die neben ihrem kleinen Bruder im Wagen saß und mit finstern Augen um sich sah, aber Anne und Martha hatten ein ebenso blasses Gesicht und so helle, blonde Haare. Und wenn sie auf Michel böse gewesen waren, dann konnten sie gleichfalls so finstre Augen machen. Aber sie wurden bald wieder gut, und wie schön hatte er mit ihnen spielen können! Kam denn diese Zeit niemals wieder? Die Kanone holperte durch den Schmutz des aufgeweichten Weges, sie stieß, und Mutter Tilda schrie zornig, weil sie gleich hinuntergefallen wäre; aber kein Mensch achtete auf ihr Geschrei. Wenn sie fiel, dann fiel sie eben, und jemand andres setzte sich auf die Kanone. Und dann betrachtete Michel die Königin. Sie hielt den Blick geradeaus gerichtet, und wenn ihr Wagen manchmal hielt, weil die Landstraße zu voll war von Menschen und von Wagen, dann schlug sie die Augen nicht auf. Michels Mutter sah sich doch um, und wenn sie auch manchmal schalt, so konnte sie so freundlich lachen. So freundlich, daß Michel das Schlucken bekam, wenn er daran dachte. Aber diese Königin schien nicht mehr lachen zu können.

»Sie ist ein stolzes Weib, und wir wollen sie absetzen!« sagten die Frauen, an denen die Königin vorüberfuhr, und sie sprachen so laut, daß sie es hören mußte. Aber ihr Gesicht wurde nur noch stolzer und verschlossener; sie nahm den rotseidnen Mantel, den sie um die Schultern trug, und wickelte sich fester hinein. Und dann war auch der dicke König zu sehen. Die Frauen lachten, als sie ihn sahen, und nannten ihn einen guten Bäcker, weil er ihnen Brot bringen sollte. Auf der Straße nach Versailles waren ihnen nämlich einige Wagen begegnet, die mit vollen Mehlsäcken beladen waren. Sie hatten schon lange in Paris sein sollen, aber die Pferde waren ihnen von Räubern ausgespannt, und daher mußten sie warten, bis sie wieder Pferde gefunden hatten. Diesen wahren Grund aber glaubte kein Mensch, und jedermann war ganz davon überzeugt, daß nur der Zug zum König das Mehl in die Stadt gebracht hätte. Also hatte der Spaziergang nach Versailles doch genützt, und daß eine Menge Menschen dabei umgekommen waren, schadete nichts. Es gab noch immer genug Menschen auf der Welt, und vor allem zuviel Aristokraten.

So schwatzten die Frauen durcheinander, während die meisten von ihnen wieder zu Fuß liefen. Sie hatten in Versailles die Bäckerläden geplündert, und wer eine Pike hatte, der steckte ein großes Brot darauf oder einen Hut, eine bunte Uniform von den Schweizersoldaten, die in der letzten Nacht umgebracht waren.

Sechs Stunden dauerte es, bis Michel wieder vor seinem »Gebratnen Kaninchen« angelangt war, und Tante Male stand schon in der Haustür und sah nach ihm aus. Er hatte aber nicht viel zu berichten, weil er so entsetzlich müde war, daß er kaum auf den Füßen stehen konnte. Und von Mutter Tilda wußte er nichts mehr: in Paris hatte er sie aus den Augen verloren und auch Peter gar nicht mehr gesehen.

Aber sein guter Anzug war von oben bis unten mit Kot bespritzt, sein Knie war geschwollen, und er hatte sich so erkältet, daß er kaum aus den Augen sehen konnte. Da kam er also gleich ins Bett, und Tante Male schalt leise über die verrückten Menschen, die unschuldige Kinder mitnahmen auf ihre Abenteuer. Aber sie wagte nicht laut zu murren, denn, obgleich sie Französisch sprach wie eine Französin, so war sie doch keine, und wenn es den Parisern einfiel, einmal daran zu denken, dann würde sie vielleicht weggejagt und ihr kleines Haus ihr genommen werden.

Michel erholte sich bald. Im ganzen hatte er sich bei der Sache recht gut unterhalten, und sobald er einmal Zeit hatte, lief er zu den Tuilerien. Da wohnte der König jetzt mit seiner Familie, und weil das Schloß sehr verfallen war, mußten viele Handwerker daran arbeiten, um es wieder ordentlich instand zu setzen.

Michel kannte einen Tischler, der bei seiner Tante manchmal ein Glas Wein trank. Der hatte im Schloß zu tun, und als Michel hinkam, war er gerade vor einem Seiteneingang, um einen Tisch in die Zimmer des Kronprinzen zu bringen. Er hatte nichts dagegen, daß Michel ihn begleitete, und auf diese Weise stand der Junge bald in einem einfach eingerichteten Gemache, in dem Prinz Karl Ludwig mit einigen Soldaten spielte. Als er Michel sah, machte er ein erstauntes Gesicht. »Wer bist du, und was willst du hier?«

»Ich wollte mich erkundigen, wie es dir und deiner Schwester geht,« erwiderte Michel etwas verlegen, während der Tischler, mit dem er gekommen war, in ein anderes Zimmer ging, um hier eine Arbeit vorzunehmen.

»Es geht uns allen nicht gut!« entgegnete der Kleine ernsthaft. »Meine Mutter weint viel, und wir möchten alle wieder nach Versailles. Aber wir dürfen ja nicht!«

Der kleine Prinz sprach altklug und viel verständiger als andre Kinder seines Alters. Er war jetzt der Kronprinz, weil sein älterer Bruder vor einiger Zeit gestorben war. Und Michel wunderte sich nicht über seine Klugheit: er konnte begreifen, daß ein Prinz verständiger sein mußte, als andere Kinder.

»Kennst du mich wieder?« fragte er, und der Kleine schüttelte den Kopf.

»Ich sehe so schrecklich viele Menschen, und sie wollen alle, daß ich sie kennen soll. Ich bin böse auf sie alle. Früher ist meine Mutter immer lustig gewesen, nun weint sie alle Tage. Das kommt von den schlechten Menschen!« Da mochte Michel ihm nicht sagen, daß er die Bekanntschaft des Prinzen in Versailles gemacht hatte, und er wollte sich gerade wieder aus dem Zimmer schleichen, als zwei kleine Mädchen eintraten, sehr geputzt und sehr hochmütig. Das eine war die Prinzessin Marie Therese, das andre seine Reisegefährtin Clarissa. Er erkannte sie gleich. Sie war allerdings älter und größer geworden, aber sonst hatte sie sich gar nicht verändert. Sie war sehr elegant gekleidet, wie er sie niemals gesehen hatte.

»Clarissa!« rief er und wollte ihr die Hand reichen. Sie aber tat einen Schritt zurück und sah ihn hochmütig an.

»Wer sind Sie, junger Mensch, und was wollen Sie hier in den Zimmern des gnädigen Prinzen?«

Er bemerkte gar nicht ihr hochmütiges Gesicht: so freute er sich, sie wiederzusehen.

»Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?« fragte er weiter. »Ich sah dich nur ganz kurz, als wir vom Schiffe kamen. Ist die Demoiselle noch bei euch?«

Unbefangen fragte er, und die Prinzessin lächelte über den einfach gekleideten Knaben, der so fröhlich darauflos sprach, aber Clarissa bekam einen roten Kopf und richtete sich stolz auf: »Sie sind ein Unverschämter, und ich werde den Dienern Bescheid sagen, daß Sie aus dem Schloß gewiesen werden!«

»Der junge Mensch behauptet, dich zu kennen,« sagte die Prinzessin mit einem spöttischen Lächeln, und Clarissa errötete noch stärker.

»Er lügt abscheulich, Hoheit, ich bitte Sie, ihn hinausweisen zu lassen!«

»Gewiß!« die Prinzessin schellte mit einer silbernen Glocke, und ein Diener trat ein, dem sie einen kurzen Befehl zurief. Da nahm dieser Michel am Kragen und leitete ihn nicht sehr sanft durch weite Gänge und Treppen, bis an eine Seitentür. Dabei schalt er ihn aus und drohte ihm mit dem Gefängnis. Michel antwortete natürlich nichts. Er sah ein, daß es wohl unbescheiden war, sich in das Königsschloß einzudrängen, aber daß Clarissa ihn nicht kennen wollte, ärgerte ihn mehr, als er sich eingestehen mochte. Und als hinter ihm kleine, eilige Schritte erklangen, da drehte er sich nicht einmal um. Dann aber faßte ihn der kleine Kronprinz an die Hand und drückte ihm etwas hinein.

»Sei nicht betrübt!« flüsterte er ihm zu. »Vielleicht darfst du mich ein andres Mal besuchen! Mädchen sind oft sehr dumm!«

Michel betrachtete sein Geschenk. Es war ein kleiner Soldat in der Uniform der französischen Nationalgarden, die jetzt den König und die Stadt bewachen sollten. Nachdenklich steckte er den Zinnsoldaten in die Tasche, und dann sah er, daß vor dieser Seitentür, aus der er gewiesen war, eine Reihe von Frauen standen oder saßen. Sie waren in dicke Wolltücher gehüllt, denn es war gegen Ende November und recht kalt; aber sie hielten lange Strümpfe in den Händen und strickten fleißig.

»Nun, kleiner Bursche,« fragte eine von ihnen, »was hattest du denn bei den Aristokraten zu suchen?«

»Ich wollte mal sehen, wie es den Königskindern ginge, und da – –«

»Und da wurdest du an die Luft gesetzt! Natürlich, mein Junge! Die vornehmen Leute setzen uns immer an die Luft, wenn sie uns nicht nötig haben. Aber unsre Zeit kommt auch einmal! Dann setzen wir sie an die Luft, und du kannst dabei helfen!«

Die andern Frauen strickten, lachten und schalten, als jetzt ein Wagen mit vornehm geputzten Damen und Herren bei der Pforte vorfuhr und die ganze Gesellschaft ausstieg. Das waren die Höflinge des Königs, die sich in Samt und Seide kleideten, während das Volk noch immer kein Brot hatte und viele Menschen vor Hunger starben.

Einen dieser Herren erkannte Michel. Es war der Graf von Melion, der Vater von Clarissa. Der Graf kannte ihn natürlich nicht, und wenn er sich seiner erinnerte, so würde er es sich nicht merken lassen.

So war es denn auch. Der Graf sah Michel einen Augenblick an, wandte dann die Augen von ihm ab und schritt an ihm vorüber.

Hinter ihm her lachten die Strickerinnen und drohten ihm mit ihren blanken Nadeln.

Von diesem Besuch in den Tuilerien erzählte Michel nichts an Tante Male; sie fragte auch nicht, wo er gewesen war. Sie hatte andres zu denken. Das Ladengeschäft ging schlecht, und wenn sie auch schon oft wieder ein Faß Wein bei Herrn Martin bestellt hatte, so tranken viele Leute ihren Wein aus, bezahlten aber nicht gut. Niemand hatte Geld und jedermann wollte essen und trinken. Nur manchmal kamen einige Gäste, die nicht aus Paris waren und die niemand kannte. Das waren verwegen ausschauende Gesellen mit unheimlich blickenden Augen. Diese Gäste bezahlten gut; sie hatten Goldstücke und Silbertaler in der Tasche und sie ließen etwas draufgehen. Von ihrem Gelde blieb manches im »Gebratnen Kaninchen« hängen, und wenn Tante Male auch seufzte, daß sie für diese Menschen Essen kochen mußte, so sagte sie niemals etwas über sie.

Nur, als eines Tages ein Mann zu ihr kam und einen goldnen Kelch bei ihr verkaufen wollte, da schüttelte sie den Kopf.

»Gestohlnes Gut kaufe ich nicht!«

Der Mann begann zu schimpfen, doch, als sie fest blieb, bezahlte er seine Schuld in blanken Goldstücken.

Michel wußte sehr bald, wer diese reichen Gäste waren. Es waren die Räuber, die auf dem Lande die Schlösser und Kirchen ausplünderten und anzündeten, die schon viele Gutsherren und Geistliche getötet hatten und denen ihr Geschäft so gut gefiel, daß sie es immer weiter fortsetzten. In ganz Frankreich empörten sich die Bauern gegen ihre Schloßherren, und mancher von diesen, der es gut mit seinen Leuten gemeint hatte, wurde ebenso getötet wie die, die ihre Untergebenen schlecht behandelt hatten.

Wer aber viel Geld zusammengestohlen hatte, der brachte es nach Paris, um es dort zu verjubeln.

Es war eine schlimme Zeit. Selbst Herr Schmidt sagte es, der mit einem Male wieder aus Versailles zurückkehrte, weil es für ihn nichts mehr zu tun gab. Die vornehmen Herren, deren Musikinstrumente er ausbessern sollte, waren entweder ins Ausland geflohen oder nach Paris zum König gegangen. Und hier dachten nur ganz wenige daran, Musik zu machen oder eine lustige Gesellschaft zu geben, bei der ein Konzert veranstaltet wurde. So also ging es Herrn Schmidt ebenso schlecht wie den meisten ehrlichen Leuten, und da war es ein Glück, daß er immer zu Tante Male kommen konnte, um sich satt zu essen. Soviel hatte sie immer noch, und manchmal, wie gesagt, machte sie gute Geschäfte, wenn sie es auch nicht liebte, von Räubern Geld zu nehmen.

Herr Schmidt hätte Michel gern weiter unterrichtet, zum Lernen hatte der Junge aber keine Zeit mehr. Er mußte im Geschäft helfen und freute sich wenigstens, so viel rechnen gelernt zu haben, daß er keine Fehler beim Zusammenzählen machte. Im Schreiben und Lesen übte er sich auch, und mehr wollte er nicht vom Lernen wissen. Tante Male war es zufrieden, daß er so eifrig bei ihrem Geschäft wurde und nach allem sah. Ihre Gesundheit wurde schlecht und sie hatte niemand, auf den sie sich so fest verlassen konnte, wie auf ihren Neffen. Sie lief nicht mehr so viel in Küche und Keller herum, sondern überließ diese Arbeit Michel, während sie bei den Gästen saß und ihnen etwas erzählte oder sich von ihnen berichten ließ, wie es in der Welt aussah. Auf diese Weise erfuhr sie, wie es weiter in Paris herging, während Michel sich nicht mehr darum bekümmerte. Er hatte gefunden, daß nicht viel dabei herauskam, wenn man die Bastille stürmte oder nach Versailles lief; seitdem er in den Tuilerien gewesen war, hatte er aber einen wirklichen Haß auf alle Aristokraten geworfen, und er wünschte ihnen nur Schlechtes. Nur den kleinen Kronprinzen nahm er aus. Der Zinnsoldat, das Geschenk von ihm, lag noch in seiner Kommode, und wenn er an den niedlichen kleinen Jungen dachte, dann hätte er ihn gern einmal wieder gesehen. Doch die andere Gesellschaft gefiel ihm nicht, und wenn er in der Wirtsstube erzählen hörte, wie stolz die Königin wäre und wie dumm der König, dann nickte er dazu, als wüßte er alles noch viel besser. Und als er eines Tages eine goldene Kutsche fahren sah, in der ein junges Mädchen saß, die ein Gesicht hatte wie Clarissa, da nahm er einen Stein und warf ihn hinter dem Wagen her.

Der Stein flog vorüber, ohne Schaden zu tun; aber einige Müßiggänger, die auf der Straße herumlungerten, brachen in ein zufriedenes Gelächter aus und erklärten Michel für einen vorzüglichen Menschen. Er wollte allen Aristokraten an den Kragen, und das war so verdienstvoll, daß sie Michel am liebsten umarmt hätten. Da aber schämte er sich vor sich selbst und lief eilig davon.


 << zurück weiter >>