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Das vierte Kapitel

.Dies war nun alles im Herbst des Jahres 1788 geschehen, und nun stand im Kalender schon lange die Zahl 89 hinter der Siebzehn. Michel wohnte im »Gebratnen Kaninchen« und hatte Hamburg bereits recht vergessen.

Er hatte auch so viel zu tun, daß man ihm seine Vergeßlichkeit nicht so sehr übel nehmen konnte. Tante Male schien nur auf seine Ankunft gewartet zu haben, um recht krank zu werden, und da sie nur eine Magd hatte, so gab es so viel zu arbeiten, daß Michel kaum zur Besinnung kam.

Tante Male hatte nicht allein eine Wirtschaft, in der Wein geschenkt und Speisen verabreicht wurden: sie hatte auch einen kleinen Laden, in dem allerhand Krämerwaren feilgeboten wurden. Als sie wieder bester wurde, saß sie meistens hinter dem Ladentisch und besorgte die Kunden, während Michel in der Weinstube die Gläser füllen und die Speisen bringen mußte. Wie es zuging, konnte er selbst nicht sagen, aber er konnte bald ebenso schnell französisch plappern wie seine Tante, und obgleich er's ehedem niemals versucht hatte, so konnte er jetzt vier gefüllte Weingläser auf der flachen Hand und in der andern eine Schüssel mit gebratnen Froschschenkeln tragen, und was noch mehr war: er konnte besagte Froschschenkel auch mit dem größten Appetit verspeisen, vorausgesetzt, daß für ihn einige übrig blieben.

Abends ganz spät und morgens ganz früh dachte er noch an seine Mutter und die kleinen dummen Schwestern, am Tage kamen sie ihm aber ganz aus dem Sinn, und manchmal vergaß er auch, morgens an Martha und Anne zu denken.

Tante Male paßte gut auf, daß er immer fleißig wäre. Sie war eine große Frau mit einem scharfgeschnittnen Gesicht. Ihre Dienstleute hatten Furcht vor ihr, weil sie einen kleinen Stock in der Hand trug, mit dem sie gern einmal schlug. Eigentlich sollten nur ihre Katze Mimi und ihr Pudel Nello mit dem Stock Bekanntschaft machen; aber Tante Male nahm das nicht so genau, auch auf Michels Rücken tanzte der Stock gelegentlich, wenn sie fand, daß er nicht fleißig genug war.

»Darum habe ich dich nicht herkommen lassen, daß du Maulaffen feil hältst,« pflegte sie dann wohl zu sagen. »Und darum schicke ich deinen Eltern nicht Geld, damit ihr Junge das Faulenzen erlerne. Allons frisch, immer fleißig!«

Und Michel mußte vom Keller in die Küche jagen, und von dort in die Schenkstube, wo meistens einige Menschen saßen, die etwas aßen oder tranken. Tante Male kochte gut, und sie war auch bescheiden in ihren Preisen. Da erhielt sie denn viel Besuch von denen, die nicht allzuviel Geld hatten und sich doch satt essen wollten. Sie gab ihnen auch allen etwas, auch dann, wenn sie manche Schuld an die große Schiefertafel in der Wirtsstube schreiben mußte.

Sie wunderte sich sehr, daß Michel fast gar nicht schreiben und noch weniger rechnen konnte.

»Ich dachte, bei euch in Hamburg wären die Jungen klüger als die Dummköpfe hier!« sagte sie, und Michel bekam einen roten Kopf.

»Wozu soll man schreiben und lesen?« fragte er dagegen. »Ich will doch kein Federfuchser werden und den ganzen Tag im Zimmer sitzen. Wenn ich groß bin, dann will ich Soldat werden. Da braucht man nicht lesen und schreiben zu können!«

Michel wunderte sich selbst, daß seine Tante ihm auf diese Antwort nicht ihren Stock zu kosten gab: aber sie lächelte nur ein wenig und streichelte ihre Katze, die gewöhnlich auf ihrer Schulter saß.

Am andern Morgen aber mußte Michel eine Stunde früher aufstehen als sonst, und als er die ihm aufgetragene Hausarbeit besorgt, den Laden und das Gastzimmer gefegt hatte, schickte Tante Male ihn in ein altes und hohes Nachbarhaus, wo Michel drei schmale Stiegen hinaufklettern und nach Herrn Schmidt fragen mußte. Und Herr Schmidt war ein Deutscher, der eigentlich ein Instrumentenmacher war, meistens aber nichts zu tun hatte und sich etwas durch Unterrichten verdiente.

Er war ein freundlicher Mann, der Michel auseinandersetzte, daß es bester für ihn wäre, nicht allein lesen und schreiben, sondern auch etwas Geographie, Rechnen und biblische Geschichte zu lernen. Tante Male wollte es so, und es war keine Rede davon, sich ihr zu widersetzen.

So also hatte Michel jeden Tag noch mehr zu tun, so daß er gar nicht dazu kam, sich in der Stadt Paris umzusehen. Das war schade, und er klagte darüber, aber Tante Male lachte nur über sein Klagen.

»Wenn du groß bist, kannst du noch genug von Paris sehen! Erst mußt du ordentlich etwas lernen, damit du dich dann vernünftig in der Welt umsehen kannst!«

Das war alles nicht sehr angenehm, und wenn Michel am Abend auf seinem harten Bette lag, dann dachte er sich wohl aus, wie er bald heimlich davonlaufen wollte, um wieder nach Hamburg zu kommen; aber er wußte den Weg nicht und mochte auch niemanden danach fragen. Und wenn er sehr müde war, dann schlief er gleich ein und hatte am andern Tage viel zu viel zu tun, um traurigen Gedanken nachzuhängen. So war denn das Frühjahr gekommen. Michel hatte einigermaßen bei Herrn Schmidt gelernt und konnte noch bester im Schenkzimmer aufwarten und auch gelegentlich im Laden verkaufen. Er verstand jedes Wort Französisch und konnte fast ebenso schnell die fremde Sprache sprechen wie sein heimatliches Plattdeutsch. Da schien Tante Male mit ihm zufrieden zu sein, und an einem Sonntag durfte er mit ihr spazieren gehen.

Dies war eine große Ehre für ihn, und wenn er nicht den Pudel Nello an der Leine hätte führen müssen, würde ihm der Spaziergang noch viel mehr Vergnügen gemacht haben. Aber Nello sollte nun einmal mit von der Partie sein, und er konnte sich freuen, daß er Mimi nicht zu tragen brauchte. Sie lag zu Haus hinter dem Herd, und die Magd mußte nach ihr sehen.

Tante Male war sehr guter Laune. Zwar klagte sie, daß die Leute in ihrem kleinen Laden nichts kauften, aber die Wirtschaft ging um so besser.

Sie verschenkte so viel Wein, daß ein großes Faß, das sie vor kurzem erhalten hatte, schon wieder leer war.

Darum ging sie heute mit Michel zu Herrn Martin, einem Weinhändler, und bestellte neue Zufuhr.

Herr Martin wohnte ziemlich weit entfernt, und Michel ging mit seiner Tante durch Straßen, die er noch niemals gesehen hatte. Überall waren viele und gutgekleidete Leute, die sich lebhaft miteinander unterhielten, dazu lachten und schrien.

»Was wollen alle diese Menschen?« fragte Michel, und Tante Male sah ihn erstaunt an.

»Was sie wollen? Das sind die Pariser, die ihren Sonntag feiern. Kannst es ihnen gönnen, mein Junge! Im ganzen gibt es hier nicht viel zu feiern. Die Leute haben alle kein Geld und sind verdrießlich, was von der schlechten Regierung kommt. Ja, ja, in Hamburg ist's eigentlich bester als in Paris, und vielleicht ziehe ich noch nach Hamburg, nur, daß ich hier noch allerlei erleben möchte!«

»Was denn?« wollte Michel fragen, hörte dann aber im Volk großes Geschrei und Gelächter. Zwei Leute halten eine Strohpuppe auf dem Arm, die ein seidnes Kleid trug und eine goldne Krone auf dem Kopfe. Sie schwenkten diese Puppe in der Luft, und die Gassenjungen warfen nach ihr mit Steinen. Als ein Steinwurf ihr die Krone abriß, lachten alle Umstehenden, und eine Stimme rief:

»Nun kann die Östreicherin nach Hause reisen!«

»Nach Hause, nach Hause!« schrien auch die andern Stimmen, während Tante Male ihren Neffen weiterzog.

»Wir wollen nicht stehen bleiben! Sonst werden wir gefangen genommen, und das wollen wir doch nicht!«

In der Tat kamen einige Polizisten, die mit großen Stöcken auf die Menge einschlugen und einige am Kragen faßten. Die Strohpuppe aber war eilig in eine andre Straße getragen.

Bei Herrn Martin roch das ganze Haus nach Wein, und der Weinhändler führte Tante Male gleich in sein kleines Kontor, in dem auf einem Bord eine Reihe von Flaschen und auch Gläser standen. Herr Martin schenkte aus verschiedenen Flaschen ein, und Tante Male probierte vorsichtig und lange. Auch Michel mußte Wein kosten und seine Meinung sagen. Er tat es ganz keck, und Herr Martin lobte ihn, daß er klug wäre und eine Stütze für seine Tante. Er war ein großer Mann mit einer sehr roten Nase und kleinen, lustigen Augen.

»Es ist gut, Madame, daß man noch den Wein hat!« sagte er seufzend. »Verschenken Sie ihn nur fleißig; dann geht's hier vielleicht einmal nicht so schlimm her, wie ich es fürchte.«

»Sie müssen nicht so schwarz sehen!« entgegnete Tante Male, worauf der Weinhändler ihr mehrere Geschichten erzählte, die auch die Tante ernsthaft stimmten. Sie handelten alle von der schlechten Regierung.

Michel verstand nicht viel von den Berichten. Er blickte aus dem Fenster der kleinen Stube und in einen Garten hinein, der voll von grünenden Bäumen stand.

Hier sangen einige Vögel, und ein Hahn stolzierte zwischen seinen Hennen umher. Michel fragte, ob er in den Garten gehen könne, und erhielt gern die Erlaubnis. Eigentlich sollte er den Pudel mitnehmen, der aber hatte sich lang ausgestreckt und keine Lust zu weiterer Bewegung, und Michel ging auch lieber allein.

Im Garten roch's gleichfalls nach Wein. Das kam von den Kellerfenstern, die weit geöffnet standen und die nach dem Garten gingen. Michel sah hinein. Da lag Faß an Faß; Tante Male brauchte nicht bange zu sein, wenn ihr Faß leer wurde, hier konnte sie immer mehr Wein kriegen.

Aufmerksam betrachtete Michel die großen Fässer. Er war noch niemals in einem Weinkeller gewesen, und der Garten mit den Hühnern war eigentlich langweilig. Vorsichtig stieg er durch eins der offenstehenden Fenster und betrachtete ein Faß nach dem andern. Alle Fässer hatten ein dunkles, feuchtes Ansehen, und sie strömten einen so starken Geruch aus, daß er fast ein wenig schwindlig davon wurde. Aber er ging die ganze Reihe entlang und kehrte dann um, um wieder zum Fenster zu gelangen. Da lief ihm etwas über die Füße: er erschrak, wollte nach dem Tier schlagen und fiel dabei in ein tiefes Loch. Einen Augenblick lag er wie betäubt, dann stand er langsam auf, obgleich ihm die Glieder weh taten. Es war ein kleiner stockdunkler Raum, in den er gefallen war, und die Ratten liefen bei ihm herum. Er konnte sie quieken hören, und als er die Hand nach ihnen ausstreckte, bissen ihn ein paar scharfe Zähne.

Zornig schrie er auf, zog seinen Stiefel aus und schlug wild um sich. Da wurden sie still oder verliefen sich; jedenfalls waren sie verschwunden, und das war angenehm, denn Michel konnte sich jetzt besinnen, was er beginnen sollte, wieder aus dem Loch zu kommen.

Über sich sah er einen schwachen Schein; und wie er nun langsam die Augen an die Finsternis gewöhnte, sah er auch, daß eine steile Treppe in das Loch führte. Sie war moderig und zerbrochen, aber er konnte doch an ihr in die Höhe steigen. Wie er nun wieder im Weinkeller stand, merkte er, daß er über und über mit Schmutz und Schlamm bedeckt war. Mühsam suchte er sich zu reinigen, doch als er durchs Fenster den Weg nach dem Garten zurück gemacht hatte, sah er, daß er nicht mit seiner Tante durch die belebten Straßen nach Haus gehen konnte.

Das war schrecklich, und der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Tante Male hatte ihm gerade einen neuen Anzug machen lassen, und nun war er ziemlich verdorben. Warum wollte er auch in den Keller steigen!

Wie er noch darüber grübelte und am liebsten geweint hätte, hörte er an der Gartenmauer ein Geräusch, und ein junger Mensch sprang herüber.

Er trug einen Rock von blauer Seide, Spitzen an den Ärmeln und eine gelbseidene Weste. Wie er Michel sah, faßte er ihn am Arm.

»Gib mir deinen Rock!« schrie er. »Um Gottes willen, gib mir deinen ganzen Anzug!«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, da riß er schon Michel die Kleider vom Leibe, schlüpfte hinein und war ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war. Es blieb Michel nichts übrig, als sich in die Kleider zu stecken, die in einem unordentlichen Haufen vor ihm lagen. Da trug er mit einem Male schwarzseidene, kurze Hosen, den blauseidenen Rock und die gelbe Weste. Alles paßte ihm: er war sehr gewachsen und stämmig geworden, und die Verkleidung machte ihm Vergnügen. Gerade war er fertig, da kamen Herr Martin und seine Tante in den Garten, um nach ihm zu sehen, und beide erkannten ihn natürlich nicht gleich. Als er aber berichtete, was ihm geschehen war, hob Tante Male drohend die Hand.

»Lüge mir nichts vor! Meinst du, daß ich an Märchen glaube?«

Beschwichtigend legte Herr Martin die Hand auf ihren Arm.

»Madame, es passieren heutzutage in unserm Paris sehr wunderliche Dinge, und weshalb sollte Ihr Neffe lügen? Die Aristokraten tun alles, wozu sie Lust haben, und ich bin überzeugt, daß auch hier ein Aristokrat sich diesen Streich ausgedacht hat.«

Im Sprechen griff er in die Tasche des seidnen Rockes und zog einen kleinen Beutel hervor, in dem sich zwei Goldstücke befanden.

»Der junge Herr muß sehr in Eile gewesen sein, daß er auch sein Geld hiergelassen hat. Sehen Sie, Madame, Ihr Neffe macht ein gutes Geschäft: statt eines wollenen Rockes erhält er einen von Seide, und er kann sich noch ein einfaches Kostüm kaufen, wie es für ihn passend ist.«

Tante Male sagte nicht mehr viel. Sie nahm nur schweigend das Geld an sich und ging dann mit Michel nach Hause. Es war dämmrig geworden, und Herr Martin lieh dem Jungen einen Mantel, daß sein bunter Anzug nicht zu sehen war. Denn nur die Aristokraten durften so fein auf der Straße gekleidet gehen, und wenn die Polizei Michel sah, dann kam er vielleicht ins Gefängnis.

So redete Tante Male auf ihren Neffen ein, während sie die dunkelste Seite der Straße mit ihm aufsuchte, und er selbst war so erstaunt über sein Abenteuer, daß er ihr halb gedankenlos zuhörte. Aber er freute sich nicht wenig, daß sein schmutziger Anzug mit einem andern Menschen davonlief und er nicht gefragt wurde, weshalb er ihn so schmutzig gemacht hatte.


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