Robert Müller
Tropen
Robert Müller

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Wir liefen, während wir danach ausschauten, ein Stück stromauf und hielten uns am Rande des Djungles. Unsere Sinne waren so geschärft, daß wir ungefähr die Stelle errieten, wo wir es finden könnten. Ich ging ein Stück ins Laub hinein – hier mußte eine Stelle kommen, auf die eine vage Vorstellung mich aufmerksam machte – ah, da war es ja! Und da lag nun ein toter Mann mit einem dicken schiefen Kopfe, und seine Nase war abgeschnitten und war die Herberge von einem Dutzend fragwürdiger Kriechtiere geworden. Die Leiche roch stark; an der unteren Seite war eine Legion von Insekten bemüht, den Rücken zu Mulm zu zermehlen. Sie waren zu Tausenden in das Innere eingedrungen, ihre lebhafte Minierarbeit erregte eine gespenstische Lebendigkeit in dem langhingestreckten System, der Brustkasten ging langsam wie atmend auf und nieder, der Bauch rotierte in Rucken und die Muskeln zuckten leise wie in Traumbewegungen. Ich lief, dünkt mich, rings um den Platz herum, auf dem sichtlich ein Kampf stattgefunden hatte. Es wäre interessant gewesen, zu wissen, auf welche Weise hier ein Mensch ums Leben gekommen war! Sieh da, war das nicht eine Büchse? Ei, eine Büchse! Es war Slims Büchse. Seltsam. Nun kam sie plötzlich wieder zum Vorschein. Während ich sie betrachtete, kam jemand durch das Gebüsch. Ich fällte den Lauf, ich drückte los, in meinem Leichtsinn drückte ich los – – – der krankhafte, hemmungslose Leichtsinn war ja das Charakteristische unserer damaligen Zustände. Da trat Zana hervor und hielt das Steuerruder in Händen. Und nun ging etwas in mir vor, das alle Psychologen interessieren wird. Kaum wurde ich ihrer ansichtig, als ich plötzlich meine leichtsinnige Tat motivierte: ich hatte das Bedürfnis, geschossen zu haben, um mir gleichsam eine Mitwisserin vom Leibe zu schaffen. Dieses Gefühl war natürlich unsinnig, da ich kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. Es ist ein Beweis für die Tatsache, daß wir sinnlose Handlungen nachträglich oft künstlich begründen.

Ich war aber durchaus nicht verlegen. Ich handelte ja während dieser Epochen oft grundlos und empfand nachher keine Reue. Wir brachten die drei Ruder stromaufwärts zum Wasserfall. Dort wollten wir uns einschiffen. Nun mußten wir zuerst das Boot den Katarakt hinabflößen und im Bassin flott machen.

Als wir aber nahe an die Stelle kamen, wo das neue geräumigere und stabilere Boot hatte gebaut werden sollen, hielten wir mitten im Lauf über die Klippen, die bereits den Fall ankündigten, inne. Da lag ja das Boot! Es war ziemlich unfertig und selbst nach indianischen Begriffen noch roh. Es lag hier völlig unerwartet. Nicht weit davon entfernt war eine Feuerstelle, aus der noch ein dünner brenzlicher Rauch aufstieg. Merkwürdige rotrünstige Lappen und Stücke siedelten sich hier umher. Manche hatten das Aussehen von menschlichen Füßen und Händen. Es stank nach Blut wie auf einer Schlachtbank, ein rostiger Geruch hielt sich hier zwischen den Steinen auf. Einer dieser Steine besaß eine aufsehenerregende Form. Ich stieß danach mit einem Ruder, er fiel um; da war es ein menschlicher Schädel mit geöffneten Augen und Lippen. Sah dieses Gesicht nicht Checho ähnlich? Ach, der kleine Checho war der Hungersnot zum Opfer gefallen!

Zana hatte auch nicht ein Augenzucken für alle diese Dinge. Sie stieß das Boot ins Wasser und wir fuhren hinaus. Vorne stand das Ding in die Luft, ach Zana, sei doch mal so gut und begib Dich soweit als möglich von achter weg, will ich Dir mit meinen Gesten sagen. Das Kanoe ist eben doch nicht recht stabil, wir werden es vornean belasten müssen. Ich hob einen schweren Stein herauf und legte ihn im Vorderteil des Bootes nieder. Ach so, hier ist ja ein Hindernis, auf das wir schon aufgefahren sind. Doch, das werden wir gleich haben. Ich handhabte das Ruder, die graue Masse unten schwankte, senkte sich und bekam wieder Auftrieb. Wir fuhren an ihr vorüber. Es war die gänzlich verquollene und unkenntliche Wasserleiche eines weißen Mannes in Rubberschuhen. Das Boot drehte sich ein paarmal aus dem Kurs, um ins Bassin zurückzulaufen. Dann hatten wir es über die Klippen weg, wir kamen in die seichte Strömung. A-hooi-i- nun lassen wir das Fieberlager zurück und fahren der Küste zu. Auf zum Amazonas!

Wir passierten das Lager, es war leer. Wie die Dinge da lagen, schafften wir sie ins Kanoe. Es war gut, wenn wir Tiefgang bekamen. Wir trieben weiter. Da saß mitten in der Sonne auf seiner Klippe der alte Indianer und zuckte mit keiner Wimper, als wir vorbeifuhren. Heute sang er nicht, er hatte einen vollen Bauch und sah befriedigt in die Welt, die er überlebt hatte. Er hatte die Sehnsucht zwar nicht überwunden, aber ersichtlich mit Futter geheimnisvoller Herkunft gestillt. Er saß und verdaute und Zanas hübsche Beine stimmten ihn nicht mehr lyrisch. Er hielt an sich und unterdrückte jedes sentimentale Adiö. Vielleicht schwärmte er seit neuem für Knaben in jenem Alter, das die Zartheit des Fleisches bereits mit Kraft vereint.

Von den übrigen Indianern haben wir nichts mehr gehört noch gesehen. Vielleicht waren sie tot, vielleicht hatten sie sich untereinander aufgespeist, vielleicht lauerten sie sich in diesem Augenblicke erst irgendwo auf, um nur das nackte Leben zu retten. Ich muß sagen, dieser Urbetrieb der Menschenjagd, der zuletzt unter dem Zwange des Hungers ausbrach, ist das einzige, dem ich keine gute Erinnerung bewahre. Ich bin für die raffiniertere und seelischere Art, wie man sie in dem Verkehr zwischen mir und meinen Reisekameraden hat bemerken können. Die Methoden, einander zu tranchieren, haben sich verfeinert und das ist gut so. Wir treiben in den Kaffeehäusern Analyse über den Nächsten wie über uns selbst. Es macht alle Kultur aus und unsere Werkzeuge sind in dieser Beziehung hochentwickelt. Ich hoffe es bewiesen zu haben. Der Mensch der Zukunft verfügt über eigentümliche Kräfte, um in das Leben seiner Mitmenschen einzugreifen. Es ist das eine der Lehren, die ich aus dieser Reise gezogen habe.

Über Slims Tod weiß ich nichts zu sagen. Er ertrank, das ist die ganze Geschichte seines Endes. Seltsam und tragisch genug bleibt es, denn ich weiß, daß er unter den wenigen war, die den Niagara-Fall überschwommen haben. Es ist die Tragikomödie alles Großen. Aber Slim hat dennoch nicht umsonst gelebt, denn nun habe ich alle seine Ideen geerbt, ich werde meine schwachen Kräfte verwenden, um ihnen zur Blüte zu verhelfen und ich will Sorge tragen, daß mit meinem Tode diese Richtung nicht erlischt. Darum habe ich ja dieses Buch geschrieben, nicht aus Eitelkeit, noch um mich für sie zu strafen, noch um mich im Glanz von Abenteuern zu zeigen, sondern um die Kleinheit und Kleinlichkeit des Menschen an seinen Möglichkeiten zu messen und doch dieser froh zu werden.

Auch über den Tod van den Dusens ist mir nichts Zuverlässiges bekannt. Aber hier habe ich so meine Vermutungen. Ich selbst habe während der Anfälle von Tropenkoller, die sich in der letzten Zeit meines Aufenthaltes in dem sicherlich nicht ganz gesunden Flußlager immer heftiger einstellten, ein Stadium kennen gelernt, in dem die Urtriebe des Menschen, Hunger und Liebe, bis zu einem gewissen Grade sich als identisch einstellten. Meine gesteigerte Nervosität mobilisierte alles, was an Uranlagen in mir vorhanden sein mochte. Sie warf Hemmungen um, die Jahrtausende von Kultur aufgerichtet und an der dreißiggliederigen Generationskette verankert hatten. Mein Zustand, dessen spezifische Verwischung der Grenzen zwischen traumhafter Wirklichkeit und wirklichkeitsartiger Vision meiner Vernunft wohl bewußt, meinem Willen aber unbotmäßig war, hat mich bei diesen letzten Erfahrungen über die menschliche Seele auch an einen Punkt geführt, von dem aus ich einen Rückschluß auf den Untergang des Holländers ziehen zu können glaube. Der Kontakt, der seit letzter Zeit zwischen uns bestand, hatte zur Folge, daß ich in einer symbolischen Vision seinen Todeskrampf miterlebte. Es ist ja leicht möglich, daß ich mich in bezug auf den Zusammenhang meiner Eindrücke irre und daß ich gewisse Vermutungen über den Vorgang erst gewann, als meine Phantasie Gelegenheit hatte, aus meiner persönlichen Augenzeugenschaft über vorhandene Verstümmelungen der Leiche sich ein Bild des Kampfes zu machen. Ich selbst möchte, ohne Beweise dafür anführen zu können, schwören, daß der Mann noch nicht ganz gestorben war, als man ihm die Nase abschnitt, und daß es ein Akt von grenzenloser Roheit und von Leichtsinn gewesen sein muß, mit dem man ihn seines Lebens beraubte. Er fiel auf die Seite und stöhnte noch einmal, es war ein rührender piepsender Laut, der seine Brust zum letztenmale hob. Es war ein vogelartiger Laut, es war der Liebeslaut der Organismen, jener Laut, den das Vogelweibchen im Orgiasmus ausstößt, wenn es vom Männchen belegt wird. Es war aber auch der Todeslaut. Die Beziehung auf den Liebesakt kehrt also nicht nur beim Hunger, sie kehrt auch bei anderen Erscheinungen wieder, und wer weiß, vielleicht ist dieser Liebesakt so sehr Mittelpunkt alles irdischen Geschehens, daß alle Variationen und Möglichkeiten des Lebens schließlich nur seine Symbole darstellen? Der Holländer also, nehme ich mit Bestimmtheit an, legte sich auf die Seite und starb. Wer aber ist der Mörder gewesen? so frage ich. Ich revidiere meine gesamte tropische Erfahrung und gelange auf den Hunger. Wer hat sich an dem hübschen liebenswürdigen Checho vergriffen? Wer anders als jener selbe, der vielleicht sein Glück zuerst an einem Weißen versuchte; aber dann aus irgendeiner unüberwindlichen Antipathie gegen weiße Menschen seine ursprüngliche Absicht aufgab? Ich stelle mir zum Beispiel einen alten hartgesottenen roten Sünder vor, der sich nahe vor Torschluß seinem aufdämmernden Selbsterhaltungstriebe überläßt. Ich stelle mir sein befriedigtes Lächeln vor, wie er da satt und weise mitten in der Sonne auf einem Steine sitzt. Und ich erinnere mich der Gefahr, in der ich möglicherweise selbst geschwebt habe, damals, als ich mit Zana im Busch lag und ihre runden, kleinen Brüste küßte – – – ist es denn ausgeschlossen, daß dieser Vision, wie ich sie im Gedächtnis habe, eine recht wirkliche Tatsache entspräche? Was immer man darüber für Hypothesen aufstellen mag, die Sache bleibt vage und auf Spielereien gegründet. Aber man möge sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, denn tot ist tot und in der Wildnis gibt es keine Justiz, nur eine Moral der Triebe und Kräfte, die Reise ist zu Ende und ich sitze nun in Rio de Janeiro, in Paris und in Berlin herum und habe die Tasche voll Ideen, mit denen ich zur Aufklärung der Menschen beitragen will.

Ich habe gelernt, alle Sentimentalität dranzugeben und bin im Begriffe, falsche Gemütswerte auszurotten. Die Sehnsucht sinkt zunehmend im Kurse, ich helfe ihr hierin und setze ihre Schwindsucht in Galopp. Gibt es eine Sehnsucht nach fernen Ländern, nach anderen Ländern, nach wunderbaren Dorados und Schlupfwinkeln des Abenteuers? Es gibt sie nicht! Was immer der Mensch findet, er findet es in sich, und wenn er südwärts wandert, dann merkt er mit Befremdung und Erkältung, daß er, der Nordländer, viel südlicher ist in seinen Trieben als die südlichste Rasse, und er lernt einsehen, daß der Mensch überhaupt bereits eine Vernördlichung ist und eigentlich die Tropen in sich trägt. Er ist das Vehikel der Natur, in dem sie die langsam aussterbenden Tropen konserviert. Die Tropen sind das Fundament seines Organismus und seiner Kräfte, er ist nach dem Prinzip der Tropen aufgebaut, alles wiederholt sich bei ihm im kleinen – – man könnte sagen, er selbst, der Mensch, sei im Verhältnis zu den Tropen ein Tropus. Wenn man aber nun den Menschen nach seiner Bestimmung entwickeln will, und das wollen wir ja heute schon alle, so ist es immerhin gut, einen Rückblick auf alle diese Dinge zu tun, von wannen er kommt. Aber dann, bitte, ohne alle Sentiments; denn wenn Rechenschaft gegeben wird, läse sichs vielleicht wie eine flotte Parodie auf die Sehnsucht: und dies war die Absicht nicht, also ist es falsch. Wenn es aber vielleicht doch des Reisenden Absicht war und er seine eigentliche Meinung in der Kapsel behält, dann ist es erst recht falsch geworden. Denn eine Parodie auf die Sehnsucht ist die sehnsüchtigste und sentimentalste Angelegenheit von der Welt. Nun aber, wir wollen doch Maßregeln ergreifen gegen die Sehnsucht, dieses nordische Erbübel. Der Mensch der Zukunft will etwas höchst Verfeinertes sein, alle Barbaren aber sind Sentimentaliker. Slim war nicht eigentlich sentimental, sondern dialektisch, ob er gleich anders aussah. Aber obwohl er ein Sport von einem Manne war, kann doch kein Zweifel bestehen, daß er die Form des neuen Menschen nicht rein verkörperte. Dazu war er sich seiner Entwickelung noch zu bewußt. Man muß nicht wissen, woher man kommt; man muß es gewußt haben. Slim war noch zu frisch, darum war seine Aufrichtigkeit nicht immer vollkommen; war sie doch für ihn unmöglich. Zur Aufrichtigkeit gehört ein gesundes Gedächtnis, das auch vergessen kann. Gewiß ist, der Mensch der Zukunft wird so voll Härte sein, wie es seine Ureltern in den Tropen waren. Je kälter es auf dem Erdball wird, desto hitziger wird es in ihm zugehen. Schon ist der Großstädter ein Wilder von Gemüt, wie wir das ein paar Breitegrade südlicher nennen. Ich will ein Beispiel sagen. Es wird viel Geschrei sein über die paar Toten, die in meinem Buche vorkommen, man wird hin und her raten, wer die Mörder seien, und besonders geschickte Psychologen werden zuletzt den Verdacht auf mich lenken wollen: und dies alles, obwohl meine Toten nur durch das Einschlagen bloßer Menscheninstinkte das geworden sein mögen, was alle zum Schreien veranlaßt. Wenn aber der elektrische Funke, dieser Urtrieb der Erde, einen Mann totschlägt, wird dieser in aller Seelenruhe der großen Stadt, die ihn ermordet hat, begraben, und kein Redakteur wird sein Schicksal besonders unmenschlich finden. Doch der Wilde, der seinen Nebenmenschen durchlocht, hat seine Hand durchaus nicht näher im Spiele, als der Chauffeur, der ein Kind überfährt. Wenn man daher Schienenstränge durch die Tropen legt und die großen Katzen ausrottet, so bedeutet das nicht, daß die Phantasie und die Jugend jetzt dahin sind: im Gegenteil, jetzt wird die mörderische Gefährlichkeit erst eingepflanzt. Das Faustrecht, wo jeder sich gegen jeden feind wußte, war eine gemütliche Einrichtung zu den Verfolgungen, die eine Gesellschaft heute gegen einen einzigen losläßt. Man kann sich auch nicht beklagen, daß wir in Grausamkeiten und Verstümmelungen zurück sind. Bald stehe ich wieder bei meinen Maschinen, sie sind Kannibalen, auf Ehre! Darum, weil ich jung bin und nun einmal untröstlich wäre über eine brave Welt, schwärme ich für dieses tropische Europa, in dem man sich nicht langweilt. Wenn ich unter die Räder komme, werde ich Au! schreien, ganz wie ein anderer. Immerhin... Tod und Leben sind keine Widersprüche, so wenig wie Liebe und Leben. Es ist auch möglich, daß ich wie Slim den allerlächerlichsten Tod finde. Dann springt der Dichter ein, dann ist es Zeit für den Dichter, die Tragikomödie liegt fix und fertig vor ihm da. Wenn man aber den Menschen der Zukunft fragen wird, ob er schon in den Tropen gewesen sei – ah, was Tropen, sagt er, die Tropen bin ich!


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