Robert Müller
Tropen
Robert Müller

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VII

Ein tiefer Schmerz sollte mir beschieden sein. Ich erwachte eines Morgens und befand mich unter einem schützenden Palmdache, unter dem es vorläufig noch kühl blieb, während draußen die Sonne den Erdboden zu einem knochenharten Ziegel glühte. Aus Spalten und Fugen fraß das Licht sich durch, wie ein Gift sickerte es durch dünne Stellen in der Wand. Es roch süß nach Staub und zerriebenem Palmblattmulm. In den warmen Schatten geschlossen lag ich unfroh. Ich stand nicht mehr auf der Landkarte! Zu diesem lächerlichen Gedanken konzentrierte sich meine schlechte Laune. Ich war verschollen für die Geographie. Und doch hatte ich sie ewig hochgehalten, und doch war sie auf der Schulbank meine Leidenschaft gewesen. Sie war das Symbol der Reize aufkeimender Wissenschaftlichkeit und Forschung, sie besaß das Prickelnde der großen raumbezwingenden Erfahrung. Ein kleiner runder Kreis auf der Landkarte bedeutete meine Stadt, bedeutete mich. Ich war eine kleine zackige Krone mit soundsoviel tausend Einwohnern unter einem Gewimmel von anderen charakteristischen Punkten, ich war eine Hauptstadt, eine Residenz, ich erwartete nichts weniger, als daß die Blicke Europas auf mich gerichtet seien, ohne daß ich gezwungen war, aus meiner eigenen Anonymität herauszutreten, meine Bescheidenheit aufzugeben und vorzugehen. An dieses kindliche Gefühl erinnerte ich mich jetzt, ich lernte es von der anderen Seite, in seiner Abwesenheit, kennen. Und ich brachte auch heraus, warum diese verrückte Stimmung sich mir gerade jetzt wieder nach einer so langen Pause aufdrängte. Ich fühlte mich verlassen. Zur Zeit der zackigen Krone genoß ich alle Vorteile der Majorität, der ich angehörte. Wir zwei repräsentierten einander; es war ein unglaublich seliges und kostbares Verhältnis. Wer immer die Landkarte in die Hand bekam, hatte es mit mir zu tun, ob er nun Notiz von uns nahm oder nicht. Meine Existenz war gewährleistet, sie war mit unverlöschbaren Zeichen ins Buch der Wirklichkeit eingetragen. Meine Lebenszuversicht und mein Selbstbewußtsein wuchsen, während ich mit schwimmenden Augen vor der Landkarte saß und mich stets von neuem identifizierte, eine künstliche Verwirrung und Vergeßlichkeit schaffend, um immer wieder die Entdeckung zu genießen. Und nun war ich einsam, ich stand nicht mehr auf der Landkarte und war keine Majorität mehr! Ich erschrak so grundlos aber so heftig, daß mir das Herz zu klopfen anfing. Und es war vermutlich gar nicht dieser absurde Gedankengang, über den ich erschrak, sondern ich erschrak über das verzweifelte Bewußtsein meiner Verlassenheit, in das ich traumhaft vergrößernd wie in einen unendlichen Schacht hinunterglitt.

Ich war einsam; und weil ich einsam war, begann ich zu beobachten.

Slim und der Holländer waren bereits wach; sie kochten Tee und zerknackten Zwieback hinter den mageren Gesichtern, deren Teint von einem Bartanflug bis unter die Augen schraffiert war. Die Indianer waren aus. Slim vermutete sie bei Geschäft und Tausch. Er selbst ging gleich darauf mit seinem Hieroglyphenziegel bei den Experten der Ansiedlung Aufklärungen einsammeln. Van den Dusen schlug vor, Toilette zu machen.

In einer Stunde waren wir, so gut es ging, auf den Glanz hergerichtet. Van den Dusen trug sein restauriertes Madonnengesicht mit den braunen, von Strapazen ganz milde gewordenen Augen auf die sonnverbrannte Gasse hinaus, all dies und seine neuhergestellte Bartlosigkeit, seinen pomadisierten Scheitel und einen verknitterten Leinwandanzug. Ich wählte eine Kartusche und hing sie malerisch über die Schulter. Ein Khakihelm vervollständigte die Absichten. Fertig. Marsch! Wir erobern dieses Land! Wir sind die Vertreter der allerneusten Zustände auf dem Gebiete der Kultur, wir ergreifen Besitz von der Schönheit dieses Erdstrichs und wollen nebenbei eine Landkarte verfassen. Respekt vor unserem Wissen, unserer abstrakten Tiefe, unserer Humanität, andernfalls wird geschossen! Punkt; Amen. Wir sind ein Geschlecht von Herren.

Die Lichtung, in der das Dorf lag, war durch ein Rechteck von zweihundert mal sechshundert Schritt gebildet. Ein Flüßchen mit braunem sanftem Wasser und ausgeleckten Ufern floß mitten durch. Daran stand mit dem Rücken die Siedlung. Ein Teil der Lichtung war Savanne, fünfzig Prozent davon waren mit Tapioka und Indigo bebaut. Überm Flusse lagen verstreute Granittrümmer, durch sie durchbahnte sich ein kleines rascheres Gewässer in Kaskaden einen Weg.

Hier ist gut sein, sagten wir. Van den Dusen inspizierte scharf, machte Bemerkungen über die Lage, die Agrikultur, schnupperte ein wenig gestört nach dem Fischgeruch, der von einem gräten- und schuppenbesprenkelten Platze des Ufers kam – nach fünf Minuten aber waren wir entschlossen, hier eine holländische Stadt zu bauen und dem Fortschritt einen wesentlichen Dienst zu erweisen.

Auf den Feldern trafen wir Indianer, die ihre einfachen Holzgeräte nicht stehen ließen und uns nicht nachsahen, uns aber doch ein größeres Interesse widmeten, als Erziehung und Stolz ihnen gestatten mochten. Eine feine Unbehaglichkeit, ein gestenloser Trotz drückte sich in ihrem Schweigen aus. Van den Dusen sagte: »Vorgeschmack der Eroberung! Ich erinnere mich an meine Garnisonszeit daheim und auf Java. Die ersten Tage fühlten wir Offiziere uns gleichsam als Feinde und Eroberer. Hinter der gegenseitigen Förmlichkeit steckte etwas Ungutes, wie Gegnerschaft. Später ist man dann auf du und du gestanden.« Wir lachten und sahen uns spöttisch um. Wir wären in Verlegenheit gewesen, uns unter diesen Tieren einen Dutzbruder ausfindig zu machen.

Aber die Anwesenheit von Menschen ermuntert dennoch. Dieses Nestchen war ein kleines Paradies. Es war Bewegung da, eine gewisse Betriebsamkeit hinterließ ihren Erreger, es bestand eine erfrischende Ansteckungsgefahr für Seelen. Ein Takt, dessen Maße wir noch nicht begreifen konnten, ließ sich ahnen. Wir durchschritten das Dorf mit seinen fünfzig triangulären Hütten; und siehe da, diese Gruppe blanker Kegel wies einen erhöhten Lebenstonus auf. Fünfzig kleine Rauchsäulen krochen seitlich an den Spitzen heraus und erhoben sich alle in der gleichen Richtung der Sonne zu. Der Rauch sah flügge aus, er hatte es schrecklich eilig. Die Savanne mit dem kochgeschäftigen Dörfchen bot sich als ein Präsentierbrett voll Teekannen dar. Ein Indianerdörfchen gefällig? Wenn man sich die Portion besah, erklärte sich ihr sehr rationelles Wesen. Ich fand drei Ringstraßen, die in konzentrischen Kreisen um ein mittleres Prachtgebäude, eine große bemalte Hütte, angelegt waren. Nach diesen Straßen öffneten sich die Interieurs der verschiedenen Hütten, hier lagen im scholligen Boden glattgetretene Pfade, Staub und brüchiges Gestein. Ein System von durchmesserförmig gestellten Durchsichten aber strömte im Mittelpunkt der großen Hütte zusammen. An jeder dieser Durchsichten, deren Hintergrund eine Ansicht der Hütte ergab, pflanzten sich die Kaminluken fort, allerlei Gerümpel und Überzähliges hauste zwischen den Flankenwänden der Hütten. Ein einziger Durchmesser nur führte breit und anscheinend gepflegt auf die große Hütte zu. Hier gab es also etwas wie Plan und Anlage, ho, sozusagen eine kleine herzige Technik?

Wir gingen auf die große Hütte zu. Sie war von Holzwänden bis in Mannshöhe umzimmert; phantastische Figuren mit ungeheuerlichen verrenkten Gliedmaßen waren in fleischlicher Pracht dargestellt. Entzückend festgestellte Linien der Leiber, ein anschauliches Muskelspiel und eine Malerei auf Zusammenklang ausfleckender Farben gaben ein schönes Zeugnis vom Impressionismus einer naiven Kunst. Der Maler hatte Sympathie für eine große schlanke Rasse von Menschen, deren Oberkörper, lang und walzenförmig, einer gewissen Aristokratie nicht entbehrte. Die Büsten seiner Männer waren übertrieben; sie waren mager und ihre Rippen hervorgetrieben; die Brüste lagen hoch wie muskelige Brünnen und gleich bei den Achselhöhlen. Die Frauen hatten Arme flach wie Reißschienen und schienen über das jungfräuliche Stadium noch nicht hinausgekommen. Babies mit helmhohen Stirnen und kleine koboldartige Kinder waren erkennbar. Ich gewann den Eindruck eines Krippenkults.

Die offene Seite der Hütte war durch eine Matte abgeschlossen. Diese war aus farbigen Beeren gewirkt, ein Gehenke von bunten Schnüren, fiel sie bis auf Handbreite straff zum Boden herab. In diesem Augenblicke lockerte sie sich, von einem unsichtbaren Willen bewegt. Erst entstand ein kleiner Faltenbruch, dann bekam man eine Handvoll Menschentum zu sehen. Ich streckte den Kopf vor und prallte zurück. Vor mir funkelten im Dunkel zwei Augen an einer platten Nase vorbei. Die Matte fiel, meine Unzartheit war bestraft. Als wir uns entfernten, sahen wir in dem Spalt zwischen Schwelle und Matte ein Paar zierlicher nackter Füße stehen.

Wir gingen rund um das Dorf, wir stellten uns allwirselbst dem Dorfe vor; dies war unsere Anerkennung für den vortrefflichen Anstand seiner Bewohner, den ich mit Begeisterung bemerken zu müssen glaubte. Hier wurden wir nicht moralisch in Schach gesetzt, nicht ausgebettelt und nicht unter der Form von Freundschaft gedemütigt. Die kleinen Kinder, die zwischen den Zelten gespielt hatten, verschwanden, während wir näher kamen, im Innern. Und dann waren es behutsame und zurückhaltende Blicke, die uns überall her aus den Behausungen folgten. Dies war gute Art, eine vorbildliche Erziehung für den Fremdenverkehr. Frauenstimmen riefen und die Kinder zogen sich vor uns zurück. Da kam Slim des Weges daher. Er schien nicht gerade gut aufgelegt. »Laßt doch eure verdammten Schießeisen zu Hause«, schrie er schon von weitem. »Ihr macht mir doch die Leute scheu. Die Mütter fürchten für ihre Rangen, und die Alten wollen angesichts solcher Manieren nicht mit ihrer Weisheit heraus.« Ach so! Dies bezog sich also alles auf unsere Revolver? Wir trugen nämlich jeder eines solcher langen Dinger, amerikanisches Fabrikat, nach Cowboyart an einer umfangreichen Lederkoppel, die am lockern Gurt vorm Magen baumelte. Welcher Zusammenhang besteht zwischen guten Sitten und Revolvern? ist ein Gegenstand für Seelenkundige und Politiker.

»Hallo, Slim, was ist's mit dem Schatz?« frugen wir. Er zuckte, sparsam, wie er oft mit Temperament sein konnte, mit Augen und Ohren. »Vorläufig nichts. – Aber, haben Sie schon Zana gesehen? Dieses Wunder von einem wilden Vogel muß mit, darauf gebe ich meinen Kopf!« Nein, Zana hatten wir noch nicht gesehen. Wer war Zana? Nun, Zana war – wir mußten uns gegen das große Zelt im Mittelpunkt wenden, Zana war die Priesterin und das dort, das bemalte Gezelt, war das Allerheiligste.

Wir schritten zurück zu unserer Hütte. Sie lag am zweiten Ring. Etwas ältlich schien sie, ihr Dach gab nach wie eine Hängematte, aber sie hatte Raum. Wir konnten zufrieden sein, wir bewohnten ein vornehmes Gebäude, das stand fest, wie Slim sagte; wir setzten uns gemächlich vor der Tür nieder, walzten, stopften und entzündeten uns Zigaretten und sprachen übern Rücken mit unseren Indianern, die in einer Ecke faulenzten. Dies war ein Idyll. Wo blieben die großen Abenteuer? Wir spotteten reichlich; Slim redete in derben Ausdrücken von seinen Hoffnungen. Zana, haha, wer war Zana für uns? Zana, nun bitte ich einen Menschen, Slim schien ja ganz vernarrt in dieses Gespenst von der großen Hütte. Wie konnte man einer von diesen schlecht ausdünstenden splitternackten Bestien gewogen sein? Nein! Niemals! Nimmermehr! Sah sie wohl den Bildern ihres Wigwams ähnlich, war sie eine Frau mit Reißschienen statt Armen und Beinen und mit den Eutern einer Ziege? Nein, dieser Slim, wissen Sie, van den Dusen, ich habe ihn überhaupt in dem Verdachte, daß er – – Slims Perversität lag offen am Tage. Wir kamen zu einer Entscheidung und zu einem geläuterten Gewissen. Wir lachten, wir lachten alle drei, inmitten dieser Harmlosigkeit nach all den Qualen und Anstrengungen der letzten Tage, die vergessen waren. Wir fühlten uns fürstlich, riesenstark genug inmitten des Guten, allen Erfolg nun auch noch zu verachten.


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