Robert Müller
Tropen
Robert Müller

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Van den Dusen sah sich öfter um. Gegen das Ende des Weges zu wurden seine Schritte immer langsamer. Eigentlich war es hier ein bißchen fade! Er ging nicht gern herauf seit Slim tot war! Was war das für ein merkwürdiges Gebüsch? Er blickte alles aufgeweckt an, suchte nach Einfällen zu einem Gespräch und übertrieb. Das Leiden hatte ihn übermäßig geschärft; seine Phantasie war von Gewissensbissen gedrängt und konstruierte intellektuelle Ereignisse, unechte Tatsachen, die sein Schuldgefühl weckten. War nun der Djungle wirklich so rot? Er beklagte sich, daß er unausgesetzt Prozessionen von roten Ringen und Ballen vor Augen sehe. Das käme vom Magen. »Merkwürdig ist das mit Slim doch zugegangen«, sagte er mittendrin. »Denken Sie, ich bin beinahe überzeugt, daß die Leiche trotzdem irgendwo ans Land gespült ist. Sie kann doch nicht immer im Wirbel geblieben sein, sie muß einmal einen faulen Augenblick benutzt haben, um aufzutreiben. Vermutlich ist der ganze Körper zertrümmert, der Kopf ist wahrscheinlich stark von Brüchen und Schürfungen entstellt. Ich sehe das vor mir – Sie nicht auch? Geht es Ihnen nicht auch so? Es kommt mir öfters in die Vorstellung. Wissen Sie, was ich mir in der letzten Zeit schon oft gedacht habe? Ich nehme an mir so etwas wie eine hellseherische oder telepathische Kraft wahr. Ich habe gehört, daß es das gibt. Manche Menschen sehen entfernte Personen vor sich; sie wittern sie von einer bestimmten Stelle im Raume...«

»Das ist die Wirkung der Sonne. Es dürfte nur auf die verschärfte Innerlichkeit des Erlebens zurückzuführen sein. Die Inder behaupten diese Disposition zu besitzen. Aber es konnte nirgends bewiesen werden.«

»Das habe ich früher auch gedacht. Aber es beschäftigt mich nun schon seit mehreren Malen. Ein anderer Fall ist zum Beispiel die Leiche. Sie geht mir nicht aus dem Kopfe. Glauben Sie, daß die Leiche unversehrt ist – das heißt, sie ist natürlich verquollen und aufgeschwemmt, aber ich meine, glauben Sie, daß der Körper intakt sein könnte? Das Ruder, das ich gefunden habe, sah ganz gut – – –«

»Ah, Sie haben ein Ruder gefunden?«

»Ein Ruder? – Nun ja, allerdings. Ich sah es eines Tages da vorne am Sand liegen. Es war ganz erhalten, und man hätte es vielleicht auch benützen können; aber, aufrichtig gestanden, es hat mich davor ein bißchen gefroren. Es ist vielleicht kindisch, ich kann mir aber nicht helfen, und so habe ich es denn wieder in den Flußgang geworfen. Vielleicht ist es weiter unten im Seichten wieder aufgefahren. Man könnte es also noch finden!«

Als wir ein Stück weitergegangen waren, begann van den Dusen abermals von Slim zu sprechen. »Es ist doch seltsam, wenn man sich vorstellt, daß Slim tot ist; daß es fix und fertig ist mit ihm; da er doch ein Mensch voll Lebenskraft war – man kann es kaum fassen. Ich muß sagen, ich habe ihn eigentlich sehr gerne gehabt. Er war ein sympathischer Mensch, ein guter Kamerad und ohne alle Hinterlist. Und dann hatte er auch brillante Ideen. Er war eine wirkliche Jägernatur, in jeder Beziehung. Finden Sie nicht?«

»O ja; ich denke es auch. Es hätte was aus ihm werden können. Es ist lächerlich, daß er so zugrunde ging. Er war besser als irgendein Mensch, er war stets sehr übertrieben, aber dabei besaß er doch eine eigentümliche Harmonie. Er hatte soviel überwunden. Und das Beste war, man konnte ihn hinstellen, wo man wollte, er paßte überall hinein. Ich speziell – –«

»Ja, seine Harmonie war wohl da; er sprach wenigstens immer davon. Aber er war doch auch sehr zerrissen, wie man so sagt, so kompliziert, er hatte eine Neigung zum Paradoxen. – Was ich noch sagen wollte: er hat da zum Beispiel diese eine Idee von den Tropen gehabt. Damit war er sicher im Rechte. Sie kennen sie doch, er sagte, der moderne nervöse Mensch sei eigentlich nur eine Art Wilder, ein Mensch mit geschärften Jägerinstinkten. Ich glaube, er hatte recht. Sollten Sie diese Zustände nicht kennen?«

»Nun ja. Ich weiß nicht recht. Ich kenne es möglicherweise schon, aber ich lege dem kein Gewicht bei. Sie überschätzen mich wahrscheinlich, haha, ich bin ein ganz simpler, normaler Kadaver mit Durchschnittsnerven. Ich bin Ingenieur, wie Sie wissen, also Realist, bei uns gibt es derlei Verwicklungen des praktischen Lebens nicht. In mir sehen Sie einen ehrlichen, geraden Kumpan mit menschlichen Instinkten, einen, der keinem Käfer was Böses tut, einen, der lebt und leben läßt. Das, was Slim über derlei Sachen dachte, ist gewiß sehr fesselnd und amüsant – ich für mein Teil habe aber durchaus keine Prätention zum Nervenmenschen. Sie fühlen sich also krank. Das kommt vom Magen, Charlie, wie Sie vorhin sehr richtig gesagt haben. Sie vertragen einfach diese langweilige Kost auf die Dauer nicht.«

Van den Dusen sagte: »Aber Johnny, Sie sind ein Unglücksmensch, wenn Sie so gesund sind. Übrigens ist das erst die Frage. Jetzt wollte ich Sie dekorieren, ich glaube Slim aufs Wort, daß Nervosität ein Gradmesser der natürlichen Intelligenz ist. Der moderne Mensch läuft durchs Leben wie ein Indianer. Er ist immer am Sprunge. Er ist immer in Fühlung mit den Dingen. Er ist gleichsam der Scharfschütze – er hat den entferntesten Reiz wie eine Kugel im Lauf, er hat schon getroffen, bevor es noch losgeht. Sie verstehen, was ich meine. Für einen guten Schützen ist sein Gewehr zusamt der Flugbahn des Geschosses nur gleichsam ein langer Arm, er beherrscht die ganze Distanz wie ein Organ; wenn er zielt, wippt er mit der Distanz wie mit einem Peitschenende – so geht es auch dem Nervenmenschen. Er hat alle Geschosse im Lauf – er ist ungeheuer voll mit Möglichkeiten, mit Treffern; er hat die Distanz in der Faust. Und nur ein solcher Kerl konnte das entwickeln, was wir Intelligenz nennen, nur ein solcher konnte die distanzüberwindende Maschine erfinden. Wollen Sie das nicht zugeben? Das ist doch klipp und klar?«

»Ach Gott, ja«, sagte ich, »ich bin doch selbst vom Bau, ich müßte das doch auch wissen. Ich bin in derlei Sachen ziemlich skeptisch. Woher wissen Sie denn das alles, wenn ich fragen darf? Wozu denn eine einfache Tatsache durch meilenweite Erklärungen romantisch gestalten? Ich bin prinzipiell dagegen. Woher nehmen Sie das alles?«

»Woher? Wenn Sie damit meinen, daß ich es von Slim habe – na ja, das ist wieder so ein Fall. Ist es Ihnen noch nie aufgefallen, daß man im Leben die Standpunkte innerhalb einer Situation wie Handschuhe wechselt? Es ist unerklärlich, aber es ist doch so. Ich habe da früher, als Slim noch lebte, seinen Ideen stets den Rücken gezeigt. Aber auf einmal denke ich darüber ganz anders und ich bin überrascht, daß ich bei Ihnen auf so prinzipiellen Widerstand stoße. Ich dachte nämlich bestimmt, Sie kännten das auch. Denn seit ich es kenne, und das ist nun schon ziemlich lange her, habe ich darüber nachgedacht. Die Maus zum Beispiel lebt in steter Angstneurose. Bei einem Pferde ist es ausgemacht, daß seine Scheubarkeit in geradem Verhältnis zu seiner Güte steht. Nun sehen Sie aber mal in einen Djungle hinein: wieviel krankhafte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit hier herrscht. Wie hier alles auf den Zehen und als wandelndes Arsenal von Beobachtungen geht. Ein solches Tierherz hat keinen Augenblick Ruhe, es kommt aus dem Pochen nicht heraus. Es riecht, ja riecht überall den Feind. Es hat einen ganz subtilen, nahezu schon übersinnlichen, ja telepathischen Apparat in seinen verflixten Nerven. Und genau so wie diese Bestie aus den Tropen lebt heutzutage der Mensch, ein aufreibendes, gefährdetes, wildes Leben. Es sollte mich wundern, wenn Sie das nicht verstehen!«

»Nicht verstehen, davon ist keine Rede. Ich verstehe es wohl. Ich kann es aber nicht billigen. Ich finde, das ist alles – Jägerlatein.«

»Jägerlatein, ja, das ist es wohl. Da haben Sie einen Fund gemacht. Es gibt heute mehr Jägerlatein als je. Ich werde überhaupt ein Buch schreiben, das ›Jägerlatein‹ heißt. Das fügt sich gut, Sie treten mir doch das Wort ab? Das ist es ja gerade; gerade weil heute das Jägerblut durchschlägt, gibt es auch mehr Jägerlatein, das gehört mit zur Sache. In diesem Worte haben Sie vielleicht den ganzen Slim. Seine Harmonie bestand darin, daß er alle diese negativen Dinge, dieses Krankhafte, Neurasthenische, Sinnliche und Barbarische in uns betonte. Er war einfach das gotische Prototyp.«

»Charlie, um Ihre Nerven zu beruhigen, schreiben Sie schnell ein Buch, das die ›Goten‹ heißt.«

»Die Goten sind nämlich die blonden Indianer. Ist die Ähnlichkeit dieser knochigen, langen, mit scharfen Nasen versehenen Profile denn ein Zufall? Ist die von den Römern bemerkte Schärfe der Augen denn ein Zufall? Ist es ein Zufall, daß sie beide lange federnde Knochensysteme haben? Ich wage die Behauptung, ein ähnlich sinnliches Volk, wie die Goten, hat es vorher nur als Indianer gegeben. Schauen Sie sich die alten germanischen Yankees, bevor die heutige Keltisierung noch eingesetzt hatte, an. Da ist gar kein Unterschied mehr bis auf den Teint. Und wenn Sie eine Reise mitten in die Tropen unter ein indianisches Volk hineintun, was erleben Sie da anders als eine Art Gotik? He? Ich frage einen Menschen, ob das nicht auffallende Dinge sind? Die Goten sind ein nervöses Volk von Urbeginn an. Als sie nach Europa kamen, Johnny, nehmen Sie Ihre Schulvergangenheit zusammen, was fanden sie da? Ja, da fanden sie den Bürger, den Ureuropäer, den Flachschädel, verstehen Sie? So lange sie sich rassekräftig hielten, hatten sie eine prachtvolle wilde Kultur, ein wunderschönes edles Ding von Leben. Dann aber ging die Rasse der Langschädeligen mit den monströsen Gehirnbildungen in der der Flachköpfe unter. Ihre hysterische Kultur versank in einem apathischen Mittelmaß. Aber die Zeit ist jetzt wieder vorüber. Die gotische Jägerrasse setzt sich siegreich im Mischblut der Kontinente durch. Slim, fürwahr, ist trotz seiner Unzen Afrika und Peru ein solcher Gote gewesen!«

»Zweifellos, zweifellos, das ist alles nicht unsympathisch. Ich glaube Ihnen auch gerne, daß Sie ein solcher Nervenmensch, ein solch gotischer Nervenmensch sind. Ich kann das ja nicht wissen, ob Sie an Angstzuständen leiden oder nicht. Und Slim ist zweifellos ein schwerer Hysteriker gewesen. Er hat es mir selbst einmal gesagt, er hat eine fabelhafte Berechnung für die seelischen Prozesse seiner Umgebung gehabt. Aber es ist mir unverständlich, was das mit diesen Indianern zu tun hat. Das ist alles Aas. Das faulenzt – wo bleibt die Entwickelung, die Technik, das Geistige?«

»Ich sehe wohl«, sagte van den Dusen, »hier fehlt es mir an Studium. Ich weiß das noch nicht. Aber wissen Sie etwas von dem Sittensystem dieser Leute, von ihrer Erotik, ihrer Kunst – – das alles mag sich ja nach einer anderen Richtung entwickelt haben, durch einen Zufall aber überhaupt nicht. Und dann sind Sie diesmal ein schlechter Psychologe. Der Indianer wäre zu stolz, um den Goten etwas abzunehmen, das nicht aus ihm selber kommt. Unterschätzen Sie diesen Stolz nicht. Nehmen Sie bloß den einen Fall an: zwei Menschen gehen nebeneinander und der eine hat einen Einfall, der andere hat ihn nicht und erkennt ihn deswegen als für sich ungültig an. – – Oder der andere hat ihn auch, jetzt geschieht aber das Unglück, daß der andere ihn früher äußert – –«

»Sie sind ein Schüler Slims!«

»Mhm! das mag sein. Ich habe Slim vielleicht beerbt. Es gibt doch ganz merkwürdige Beziehungen. Adieu, Johnny! Ich kehre jetzt um, ich glaube, ich bekomme wieder Fieber. Am besten ist es, Sie gehen gleich hier in den Djungle. Beim Wasserfall müßten Sie über die Felsen. – Bessern Sie sich, Johnny!«

Wir sahen uns an. Ich trat als wurmartiges tintenfarbiges Wesen mit einem kugelrunden Kopfe in seine Ovale. Sein Mund schien schmerzlich verzogen. Er ging mit eigenen Schritten den Weg zurück, mit parallel gestellten Füßen und gewölbten Schenkeln, so daß die Hosen prall anlagen. Es war etwas Neuartiges in seinem Gang, etwas Schleichendes, das an Slim erinnerte. Und nun sah ich ihm gleichsam von hinten her sein Gesicht an, es war bärtig, aber hinter dem Bart hatten sich lange strähnige Falten gebildet. Es war das Gesicht, wie es rasch lebende, gespannte, hysterische Rassen besitzen. In der Tat, er hatte jetzt einige Ähnlichkeit mit Slim.


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