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XXII.

Der politisch optimistische Schluß des Vortrags befriedigte die hochbürgerliche Versammlung, die wie in dumpfen Ketten lag, von dem starren Gestühl und der Last des Tuches und Leinens entkräftet. Sie schwitzte in dicken Wolken. Als Slim endete, rasselte Bewegung. Dann folgte ein dünnes teilnahmloses Klatschen. Man rückte zurecht. Der zweite und sensationellere Teil des Abends begann. Die Harfen wehten Stimmung. Propeller in den Winkeln der Decke schaufelten kellerige Luft, die wie ein Kissen zu Boden fiel, den menschlichen Dunstgeruch aufwühlend.

Steward saß schräg vom Podium. Wie ein Rechen lag die Lyra der Sitzreihen vor ihm. Er übersah die Versammlung. Er selbst erweckte unter diesen gutgekleideten Leuten kein Aufsehen. In der ersten Reihe fixierte ihn ein Kopf. Er hatte schiefe fremde Augen, einen aschweißen dürftigen Zipfbart, einen Striemen wie von einem schweren Hut um die Stirn. Steward kam der Gedanke, daß ein Turban darauf gehöre. Neben dem würdevollen orientalischen Gaste – ja, es war Missis Philomena Akte San Remo, die dort saß. Sie war blaß und bernsteingelb, die Haare flimmerten. Jetzt hörte Steward zum ersten Male, daß ihr Begleiter Professor Schmerz aus Wien war. Missis Philomena Akte schauerte. Ihr Rücken spielte unter der Robe und dem beflitterten Kreppschal, den sie vom Kopfe genommen und über die Schultern drapiert hatte.

Sie erschauerte, wie alle Damen im Saal, als Jack Slim den Namen »Nitra« hervorstieß, mit einem fragenden, warnenden, klagenden Unterton, so wie man ein Kind anruft, das daran ist, einen Fehler zu begehen.

Nitra war aus dem Mousselin hervorgetreten. Sie war ein kleines Fräulein in gestreiftem Waschkleid, unscheinbar, hübsch, mit öligen Zügen und exotisch nur durch ein besonders dunkles Aussehen an den Augen und Brauen. Daran war eine fremde Rasse kennbar, auch an den verwischten Stellen am Nasenknorpel und Munde. Das Gesicht war um eine Idee unfertiger als europäische Gesichter. Der vielleicht dunklere Teint kam in der rosaüberzuckernden Beleuchtung nicht zur Geltung.

Zu dem knielangen harmlosen Waschkleid von gutem europäischem Schnitt, auffallend dünne Bajaderenbeine, trug sie einen bunten Turban mit Agraffe und einem Edelstein. Sie reichte Slim bis zu den Achseln.

Die Damen im Saal flüsterten. Nitra hielt sich edel. Sie war anmutig wie eine Gazelle. Der Verzicht auf exotische Aufmachung wirkte sensationell, geradezu aufregend. Slim war ein guter Regisseur.

Er stellte ihr einen Stuhl zurecht, mit dem Rücken gegen den Vorhang, der sich um sie krümmte, sie in eine Hohlschale fassend. Slim nahm seitlich Positur. Sie saß scharf abgehoben ins Publikum hinaus, dennoch über dem atemlosen Saale. Großartig. Sie saß locker und sachlich da, wendete den Kopf, stellte die Beine gerade und so ohne europäische Frauenhaftigkeit auf, daß die Damen sie jetzt plump fanden. Einige Gesichter verzogen sich. Aber die Herren fanden diese Naivität tierisch-rührend. Der Saal war unruhig.

Da schnitt Slim, der den Eindruck abgewartet hatte, durch seinen Ruf in die Unruhe. Nitra! Der Saal fröstelte. Mit Nitra ging keine besondere Veränderung vor. Sie stellte den Kopf gerade, als ob sie eine Konversation beginnen wolle, mehr nicht, und hing sich an Slims Stirne. Slim stand nicht ganz senkrecht vor ihr, sondern daneben wie etwa ein teilnehmender Arzt; teils um sie nicht zu verdecken, teils um augenfällig zu machen, daß es sich niemals um ein Schema handle; irgendeine Zeremonie, um die Aufmerksamkeit zu begünstigen, genügt, zum Beispiel der Tonfall.

Er zeigte, daß Nitra jetzt in Trance erblühe, aber ohne Gewalt, ohne die anrüchige Effekthascherei der kataleptischen Starre. Er nahm ihre Hand, die im Schoße lag. Sie war leicht zur Faust gekrümmt. Er glättete die Finger, alles mit einer begütigenden sanften Festigkeit. Dann streckte er ihre Hand in den Saal aus, wagrecht; die Hand schwamm jetzt über den Köpfen. Es war peinigend still. Der ganze Saal war hypnotisiert. Die Hand stand gespenstisch in der Luft, forellenhaft, so ruhig, daß es um sie her zu strömen schien. Trotzdem war sie nicht tot. Fünf Minuten, während Slim erklärte, schwamm die Hand so über den Köpfen, ohne Schwanken oder Zeichen der Muskelermüdung, aber sie lebte, sie vibrierte leicht, es brauste Blut hindurch.

Slim brachte die zweite Hand in dieselbe Haltung. Unter normalen Umständen war diese Haltung für den Ungeübten oder Ungeschläferten schon schwierig und aufreibend. Nitra zeigte keine Spur von Unbehagen. Slim steigerte das Experiment. Ein Diener schleppte aus der Hotelwerkstätte für den Liftbetrieb einen Eisenbolzen herbei, eine armlange Stange, die mit Blei gefüllt war und zu irgendeinem Gleichgewichtszweck diente. Während der Handlange-Verrichtung erklärte Slim seine Praktiken. Slim zeigt keineswegs eine Variéténummer, er trifft keine Vorbereitungen, er führt einfach und natürlich Experimente durch, anschauliche Erläuterungen zu einem seriösen Vortrag.

Der Saal rauschte auf, als Slim den Eisenprügel in die Hände nahm, er mochte ungefähr sechzig Pfund wiegen. Der Diener trug ihn weit zurückgebeugt und legte ihn gerne hin, auf einen Tisch. Slim hob ihn zwar elastisch auf, mit großer Härte in den Oberarmen und Gelenken; aber jedermann sah, daß der Klotz im Verhältnis zu der zarten Gestalt des Mediums teuflisch war. Der Saal plätscherte, wie wenn Steine in stehendes Wasser fallen. Slim hob den Barren empor und legte ihn quer über die Handknöchel Nitras.

Nitra schien diese Erschwerung kaum zu merken. Ihren Kräften angemessen war die Übung athletisch. Trotzdem war sie ohne jeden Muskelaufwand geleistet. Die Hände tanzten nicht, sie schwammen mit dem Ballast weiter. Aber das Gesicht verriet eine starke geistige Anstrengung. Die Augen glänzten, der Teint bedeckte sich feucht, die Züge waren verkniffen wie von einem sehr schwierigen Gedanken: die Last wurde hier nicht durch Muskelwiderstand bewältigt, sie wurde hinweggedacht. Die Anstrengung war eine gedankliche.

Die Schwerkraft war eine Übereinkunft. Ein Aktivum, Erhabenes, Relief, das durch neuerliche aktive Schöpfung abgebaut wurde. Der Mensch radiert sich selbst als Werk aus. Es ist so einfach. Die Schwerkraft ist nicht da – man spürt sie nicht. Das Leben ist nicht da. Man denkt das Denken weg, und dieses Wegdenken, und den letzten Rest. Das Nirwana ist möglich. Das Leben ist nicht da, denn es war da.

Aber es wird Einem nicht leicht gemacht. Um das Nirwana zu finden, muß man Charakter haben und eine furchtbare innere Gewalt. Es ist einfach, die Schwierigkeit besteht jedoch darin, zwei Aktivitäten mit vollem Inhalt zugleich zu entfalten. Die sechzig Pfund des Eisenbarrens kommen zwar nicht vom Eisen und Blei, sondern aus dem Kopfe Nitras oder jenes Irgendher, das auch Nitra hinzudenkt und sie auch wegdenkt; die einmal erdachte Welt bleibt aber aufrecht. Nitra muß selbst die eigene Übereinkunft der Schwerkraft, die sie mit der Materie verbindet, löschen. Schweißperlen schmelzen aus ihrer Haut. Die gedankliche Anstrengung ist furchtbar.

Nitra denkt nicht nur die Schwerkraft weg, ohne die übrige Welt dieser Kraft zu leugnen, wie es logisch wäre; sie denkt auch sich selbst weg. So ist sie durch Willenskraft in der Hand eines fremden Willens.

Slim streicht mit beiden Händen an den Flanken einer imaginären Säule in der Luft hoch. Da bäumt sich Nitra vom Sessel auf zusamt ihrer Last. Ihr Mund zittert. Beileibe, es ist nicht fysische Gewalt. Slim streift den Ärmel ihres Waschkleides empor bis zu dem schlanken Mädchenbizeps. Man weiß jetzt, warum sie ein Waschkleid trägt. Den Turban trägt sie – Slim steckt den Finger darunter – als eine stramme Binde gegen die geistige Überanstrengung Es ist nichts Mache, alles ist Natur. Slim drückt auf den Oberarm. Er ist weich, nicht sehnig. Sie sehen, keine Muskelanwendung.

Die Schwerkraft ist ein konventioneller Gedanke. Nitra denkt alles, die ganze Welt, noch einmal komplett: bis auf die Schwerkraft.

Sie, meine Herrschaften, stehen unter der gleichen Autosuggestion; Sie sehen, gegen alle Erfahrungen, einen Eisenprügel in der Luft schwimmen. Nitra legt nur ihre Hände darunter.

Nitra steht mit gerunzelten Brauen und verkrampftem Munde. »Nitra!« lockt Slim leise, als riefe er einem Kinde: Kuckuck.

Nitra beginnt zu zittern. Jetzt schwanken die Hände. Sie ringt. Die Welt kehrt zurück. Das Eisen ist jetzt zu schwer, mit einem Schnitt in ihren Zustand schlägt es die Hände herunter und trommelt schotternd auf die Bretter des Podiums.

Die Schwerkraft ist wieder da. Alle sehen sie.

Nitra steht entzaubert. Diese Pointe also konnte sich Slim nicht versagen. Der Saal taumelte empor und fiel zurück. Nitra ging brechend zum Stuhl zurück. Slim beugte sich über sie. Er klatschte ihre Unterarme ab, gab ihr Wasser aus einem Glase. Ihr Gesicht war jetzt altklug und groß, beinahe wie das eines jungen Mannes. Sie hatte in den letzten Minuten viel durchgemacht. Slim sprach zu ihr und sie lächelte dankbar. Er hatte den Entbannungsausruf so eigentümlich gefärbt, daß seine galante Festigkeit für die anwesenden Damen einen verführerischen Glanz zurückließ.

Während Nitra wieder unscheinbar im Stuhl saß, gab Slim Auskünfte über die Mechanik dieser Art Zustände Versteht sich, es hatten die Leistungen ihre natürliche Grenze. Es wurde nicht die Schwerkraft als allgemeine Kategorie ausgeschaltet, sondern eine bestimmte individuelle Schwerkraft. Selbstverständlich konnte man dem Medium nicht ein Haus auf die Hände legen. Der Gedanke Haus, nicht das Haus war schwerer, als der Entschwerungswille es leisten konnte. »Wie Sie sich überzeugt haben, war die Aufgabe in Anbetracht des zarten Körpers des Mediums hoch genug. Es möge sich einer der Herren überzeugen, daß das Gewicht keine falsche Kleinigkeit war.«

Ein Kavalier an der Ecke kam ans Podium und hob der Freundlichkeit halber flüchtig das Gewicht, nur flüchtig, Slim genoß Kredit; er bestätigte sechzig ganze Pfund, vielleicht darüber.

»Und dennoch«, fuhr Slim fort, »ist dieses Wunder ein alltägliches. Ist es nicht schon ein Wunder, daß das Zellengewebe des Muskels überhaupt den Händen auch nur ein Buch zumutet – alles entsteht frank und frei aus der aktiven Vorstellung von sich selbst.

Unterscheiden Sie zwischen dem europäischen Training, das die Körperkraft, den Muskel, stählt, und der indischen Methode, die den Geist steigert.

Die natürlichen Grenzen auch der geistigen Kraft liegen immer noch über den körperlichen Grenzen.«

Slim machte sich daran, Nitra, die sich erholt hatte, wieder aufzurufen und zu gebrauchen. Er ließ eine Kerze bringen und zündete sie an. Nun würde er »Nitra!« rufen, mit jener hohlen fragenden Stimme. Des Parketts bemächtigte sich Aufregung.

Die Kerze flammte. Slim rief: »Nitra!«, wehevoll, aus Sphären herschallend. Eine Dame fiel mit einem Schrei in Ohnmacht. Es entstand eine Unterbrechung, ein Herr und die Saaldiener führten die Dame hinaus. Slim wartete mit dem Leuchter in der Faust. Nitra saß schläfrig. Aus ihren verwischten Zügen wurde jetzt kennbar, daß sie dazu bestimmt waren, von einer enormen geistigen Arbeit Mitteilung zu geben, das Ziffernblatt eines Voltameters – bis zu einem gewissen Teilstrich dürfte der Zeiger ohne Gefährdung springen. Darüber hinaus lauerte die Katastrophe.

Slim brachte abermals Nitras Arm in die Horizontale. Er hielt die Kerze darunter. Es prasselte erst leise, im Saal verbreitete sich ein brenzlicher Geruch von hornigem Verbranntem. Der kleine Härchenflaum am Arm Nitras war dünn rauchende Asche. Morgen wird er wieder gewachsen sein. Das ist der Wille des Organismus. Er ist ohne Verlegenheit. Amphibien ergänzen in Kürze den Verlust ganzer Gliedmaßen. Vielleicht ersetzt der Organismus, der sich, wie Sie sehen, bis auf den Haarflaum von der Flamme nicht erschüttern läßt, die verbrannten Bestandteile in einer solchen Zeit, in nahezu gar keiner, in überhaupt keiner Zeit, daß sie für uns nicht merkbar wird.

Es läßt sich natürlich nicht leugnen, daß es nicht nur nach verbranntem Haar, sondern auch nach verkohltem Fleisch im Saale riecht. Ein paar Damen verlassen schnell ihre Plätze, die Kavaliere ziehen ihnen, neugierig zurückgereckt, widerwillig nach. Es entsteht ein leises Murmeln im Saale.

Aber die Flamme brennt ruhig. Es sieht nicht danach aus, als würde sie von anderem Brennbarem als ihrem Docht und dem Wachse gespeist. Nun ja, es ist doch immerhin möglich, daß ein Verbrennungsvorgang im Bewußtsein des hypnotisierten Saales unterdrückt wird. Der Saal sieht so wenig, als das Medium brennt und fühlt; also ist nichts zu sehen und zu fühlen und es brennt auch nichts. Ohne unser Testament, daß es brenne, brennt nämlich nichts.

Ich kann Nitra freilich nicht in einen Schmelzofen werfen. Auch das hat seine Grenzen. Die individuelle Anstrengung richtet sich nach dem stofflichen Grad; nach kopernikanisch und richtiger ausgedrückt, jeder von uns feststellbare Grad richtet sich, nach seiner individuellen und fallweisen geistigen Anstrengung.

Slim weckt Nitra auf und hebt ihren Arm vorzeigend empor. Sie ist müde, ihre Augen glänzen, sind es Tränen? Die Übereinkunft des Schmerzausdruckes ist vergessen worden? Man könnte auch sie auslöschen, meint Slim, aber das ist natürlich eine neue Strapaz.

Diesmal klatscht das Publikum teilnehmenden ernsten Beifall. Einige Paare, die den Saal verlassen haben, treten an ihre Plätze zurück, die Damen das Sacktuch pressend oder die Hand an die Brust haltend. Sie lassen sich von Bekannten und Nachbarn das Ergebnis berichten. Eine kurze Pause tritt ein.

Slim fährt in seinen Ausführungen fort. »Was beweisen diese Experimente? Sie beweisen, daß der Stoff von einem Geiste abhängt; sie beweisen die Möglichkeit einer Steigerung körperlicher Eigenschaften über jedes körperliche Maß hinaus Die indischen Methoden des geistigen Trainings sind der Praxis des westländischen Sportes unbedingt vorzuziehen.

Im Falle des ersten Experimentes wurde eine strenuose eliminierende Arbeit geleistet, das Weltbild-Relief, der Alltag mit seiner Konvention der Schwerkraft wurde abgebaut.

Im zweiten Falle hat der Organismus eine rasende aufbauende und heilende Arbeit geleistet. Brandwunden heilen bekanntlich sehr langwierig. Hier wurde infolge spontanen Ersatzes für die Verheerung der Ausfall- und Heilprozeß überhaupt nicht bemerkbar.

Die Grenzen liegen in der spezifisch geistigen Schwere jeder Aufgabe, wohlgemerkt, nicht in ihrer physischen Unmöglichkeit. Das physische Halt ist immer erst die Folge eines geistigen Kurzschlusses. Slim legte Wert auf die Feststellung dieser Relation. Der Akzent der Verhältnisse liegt nach den neuesten Forschungen nicht, wie man mit Darwin dachte, im Physischen, sondern im Geistigen.

Dieses Geistige aber hat man nicht wie bisher in seinem Gegensatz zum Körper von der theologischen, poetischen, dämonischen oder magischen Seite her zu verstehen. Es ist als Vernünftig-Dynamisches, als Aktivistisches, als selbstständiges ästhetisch-ethisches Resultat genau so Objekt einer neuen, höheren Stufe der Naturwissenschaften wie ehemals der Stoff, der als sekundäre Abfolge und Erscheinung zu gelten hat.«

Der dritte Versuch zeigt die Fähigkeit des menschlichen Mediums von einer ausgesprochenen produktiven Seite. Slim versetzt Nitra in Trance. Darauf zeigt er eine Falte des Halbrunds und meldet ihr: »Nitra, dort kauert ein Kuguar.« Nitra wird wie ein Kindermädchen. Der Saal rührt sich nicht. Aus den Falten strebt langsam Zoll für Zoll, so daß allen im Saale das Grinsen auf den Lippen erstirbt, ein großer gefleckter Katzenkopf. Er schiebt sich vor bis zu der breiten kurzen Büste, auf der die Zotten in Wirbeln stehen. Nitra bewegt sich simpel vor ihm herum, sie kauert, stößt Vokale aus, schneddert mit den Zähnen, hat förmlich selbst Haare in dem verzogenen Gesichte. »Bobobo, Korrô, Rrrrr, hoho, he, Korrô he, boobobo, bo …«

Nitra benimmt sich mit höchster Wahrheit, sie besitzt die Kunst der Tänzerin ins der Pantomime. Nitra gibt das Negativ eines Kuguars, und alle sehen ihn, er taucht aus einer bestimmten Falte des Vorhangs hervor. Die Vision dauert nicht lange, bloß einige Sekunden, dann sehen alle wieder die Falte und den Vorhang – aber die Spanne Zeit hat genügt, es ist nicht zu leugnen, sie haben den Kuguar mit eigenen Augen gesehen. Alle sind verblüfft, die Skeptischsten schütteln zu sich selbst den Kopf. Unzweifelhaft, sie haben einen Augenblick lang gesehen, was Nitra von ihnen verlangt hat. Slim tritt an den Vorhang hin und hebt eigens die Falte auf – er weiß ganz genau, welche Falte es ist, die sie alle ansahen. Nein, es ist nichts daraufgezeichnet, die Falte ist harmlos. Auch dahinter ist nichts. Er rafft den Vorhang: Wand und eine Tür. Wenn es einige nicht glauben, nun, man kann ja den Versuch mit einer Variation wiederholen.

»Nitra, hole schnell den Tierwärter!« ruft Slim, und zwar so, als ob sie weit von ihm stünde, indem sie den Auftrag empfängt. Nitra hebt überrascht den Kopf, die Agraffe funkelt. Ihr Blick ist oben am Vorhang entlanggegangen. Plötzlich wendet sie sich um. Das Publikum fährt zurück. Man hört atmen. Nitras Blick senkt sich vorwärts in die erste Reihe. Da schwebt aus dem Parkett, löst sich von der ersten Reihe eine Gestalt los. Sie ist undefinierbar, mit in dieser Stadt nie gesehenen Kleidern behangen. Nitra verkreuzt die Arme, setzt sich kippend in den Stuhl. Die Gestalt hat weiße Haare, ein alter freundlicher Herr, merkwürdig mager und durchsichtig, ganz von blassen Farben. Nur ein strahlendes blaues Messer blinkt. Nitra dienert, der alte Chinese dienert. Der Alte hat ja einen Turban, wenn er sich neigt, funkelt es, es ist der Stein der Agraffe, der die Blicke anzieht und fasziniert. Eine Dame erhebt sich in der ersten Reihe, genau dort, wo die Erscheinung herstammt, sie steht starr, hebt leicht die Hand und zeigt nach vorwärts. Der Eindruck ist gewaltig. Slim tritt schnell dazwischen, um den Augenblick der Wirkung nicht zu versäumen. Die Illusion dauert bei Europäern nur kurz, es fehlt die Kraft. Das Publikum lacht und klatscht. Alle sind entzückt, dankbar für den Scherz. Der Beifall wiederholt sich, einmütig, es ist kein Zweifler darunter. Sogar Professor Schmerz klatscht. Steward versichert sich, daß er wieder dort sitzt, es ist kein Irrtum, er sitzt wieder dort, alt und weiß, durchsichtig, in fremdartigen Wasserfarben, aber er ist gut europäisch gekleidet wie vorher und klatscht teilnehmend.

Nitra erzielt diese fulminante Wirkung, indem sie das bloße Negativ spielt. Eine Sache ist auch durch ihr Negativ gegeben. Darauf beruht das Begriffliche, die Abstraktion, die Graphik. Erinnern wir uns an das Aufsparen von Flächen beim Zeichnen. Durch das Negativ der Photographie entsteht ein Bild. Die Dunkelkammer der Seele entwickelt scharfe Positiva aus Begriffen. Goethe war im Irrtum. Wo das Wort sich einstellt, fehlt der Begriff, die sinnliche Blöße nie ganz. Übrigens beruht die ganze tiefere Ethik auf dem Prinzip der sinnlichen Blöße. Die Achillesverse ist lebendiger als Achilles. Am fühlbarsten wird Siegfried, wo das Eichenblatt in seiner hürnenen Haut fehlt.

»Im dritten Versuch Nitras bewundern wir also die produktive Begabung, das Talent der Darstellung durch Gestaltung des Minus, recht eigentlich das künstlerische Problem. Es ist möglich, unsere artistischen Fähigkeiten, also die geistigen Verkehrsmittel und die Darstellungskraft auf eine nur heute abend erwähnte Höhe zu heben. Haben Sie den Augenblick, den Vorgang und die Aufgabe der Epoche verstanden? Die größten darstellenden Leistungen werden durch einen Styl des Abstrakten entstehen, durch eine Negativ-Sinnlichkeit, durch eine nicht demonstrierende, sondern anregende hervorholende Kunst. Der Romancier und der Maler etwa werden den Leser oder Beschauer aktivisieren – ein Publikum ohne jene Willenskraft des passiv angefeuerten, aber aktiv sich konzentrierenden Mediums ist künftig trivial. Der Partner des schöpferischen Autors muß die von diesem angedeuteten Kunstprozesse selbst ausführen. Wenn der Autor tüchtig ist, muß wenigstens unter Erlesenen der Genuß aller beispiellos sein. Im übrigen wird er fördernd sein.

Sie, Ladies und Gentlemen, Gebildete, wünschen Handlungen, Ereignisse, Informationen – man wird Ihnen das Negativ geben, das seelische Hohlbild. Zum Schlusse ist die Welt Gedanke. Aus Gedanken wachsen Wurzeln ins Sinnliche. Diese Erkenntnis kommt aus einem Lande und Klima, wo das Wuchern des Lebens Luftwurzeln hervorbringt, wo Spätes Anfang wird, die Entwicklung paradox scheint, wo erst die Folge das Primäre schafft. Niemals kommt ein Motiv in der Natur nur einmal vor, sieh schärfer zu, du begegnest ihm insgeheim und unerwartet. Die Welt wird Gedanke sein, der seine Wurzeln herabsenkt, die Welt wächst verkehrt.

Und Sie, Ladies und Gentlemen, Bürger, Gebildete, wünschen eine Religion, einen persönlichen Gott, weil es jetzt guter Ton ist – man gibt Ihnen einen Zustand, vertiefen Sie ihn, senken Sie Ihre Wurzeln aus, Gott wurzelt aus Ihnen.

Es gibt einen Punkt, wo Deutlichkeit irreal wird. Er ist erreicht. Merken Sie die Lehre vom Negativ.

Muß man noch den dialektischen Mißgriff fürchten und betonen, daß das Negativ nicht gleich ist dem Negativen?«

Inzwischen war die erschöpfte Nitra seitwärts zu einem gepolsterten Streckstuhl geführt worden. Sie lag blaß und verfallen, schwach wie eine Wöchnerin. Professor Schmerz in der ersten Reihe, zu dem Slim sich herunterbeugte, verließ seinen Platz und begab sich zur Patientin. Er wand ihr den Turban vom Kopfe. Er mußte fest gesessen haben, ein Damm gegen die Anstrengung; Nitras rabenschwarze Haare klebten am Schädel. Sie trug sie kurz gestutzt, wie man sehen konnte und wie es zu dieser Zeit alle Frauen mit einigermaßen geistigen Berufen zu tun pflegten. Jetzt kam auch ihre fremde Rasse zur Geltung. Die Wenigen waren etwas glatt aufgeblasen, hingen matt, eine fade Wölbung, die niemals bei West- und Nordländern auftritt. Professor Schmerz frottierte ihr die Schläfen.

»Die Versuche, die Sie mit angesehen haben,« fuhr Slim fort, »sind die Grundlagen einer neuen Welt, der Welt von morgen. Ist der Abend für Sie befriedigend? Es sind alle Möglichkeiten einer zerebralen Entwicklung – angedeutet worden …«

Es taute Friede, Liebesblicke, Blumenherzen; ein lieblicher Atem, duftige Harfenakkorde schwamm daher.


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