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VI.

Um sich nach dem unverhohleneren seiner beiden Beobachter umzusehen, benützte Slim den Bettler, den er von fern erspäht hatte. Vielleicht war es kein Bettler, denn in diesem Viertel und zu diesen Zeiten gestattete der Polizist, der sich unten am Eck durch blanke Knöpfe und breitbeiniges Dastehen und einen bösartigen Knüttel der dunklen Empfindung einprägte – er lag hier förmlich in der Luft, war riesengroß und unübersehbar drohend hinter dem ganzen Ablauf gebändigten Lebens bis in die Privatzimmer hinein – dieser allgemeine unvermeidliche Polizist gestattete Bettlern nicht, sich auf das grüne Eisenband vor dem Naturschutzpark zu setzen. Dazu waren die Bänke da. Der Mann mochte also kein Bettler sein, der hätte das gewußt. Er war schier naiv und an die Gebräuche nicht gewohnt. Slim widmete dem zusammengedrückten, ganz undefinierbaren Alten, der sich da hinsaß, ein paar freundliche Worte, sagte Väterchen! zu ihm, schielte zurück auf den Fahrdamm, über den im stechenden Lilaschein der Glühlampen der lange Passant mit großen Schritten eilte. Slim mußte seine Aufmerksamkeit, wie schon mehrmals in den letzten Minuten sehr zusammennehmen.

Irgendwoher tauchte der allgemeine Polizist in der Sphäre des Bemerkbaren auf, er kam gelassen und der Arbeit gewohnt, mit dem Knüttel schlenkernd, die Straße herauf, er verließ seinen Posten, um die Unzukömmlichkeit zu regeln. Slim sprach auf den Alten ein, zu dem er Sympathie fühlte, weil er so schlicht war, Unordnung in einer noblen Gartenhausanlage zu schaffen, und sich ans Straßengeländer lehnte. Inzwischen zeigte der lange Passant am Fahrdamm seine volle Figur. Es war ein schöner Mann, schön im englischen Stil. Sein Kopf war fest und lang, das Gesicht regelmäßig, der weiche Hut verbarg deren wohlgefällige und gesunde Bügel nicht. In der Gestalt groß, schlank und sehnig mit auffallenden Beinen, machte der fashionabel gekleidete Mann den Eindruck von Rasse. Er ging nicht ganz fehlerfrei, ein wenig schleifend, zu locker in Knien und Knöcheln; aber Jack Slim verstand das sofort, es kam davon, daß diese Beine aufs Laufen eingerichtet und beim Gehen ungeduldig waren, nervös vom kleinen Tempo; beim Rennen würden sie ihre Rolle sowohl tüchtig als schön zu spielen wissen. Einen ähnlichen schleppenden Gang trifft man bei Fußballspielern. Die Fußgelenke der reichlich langen Gestalt waren elegant und solid; die Hose schlenkerte um sie, das rührte davon her, daß an der Wade ein abnormer Wulst saß, ein Muskelknauf. Da aber dieser Muskel nicht längsseits am Schienbein verlief wie bei den schlanken Hermesbeinen der alten Statuen, sondern rückwärts an der Wade, mehr nach innen saß wie bei strapazierten Radfahrern, so erschienen die Beine vom Knie ab etwas gekrätscht. Diesen Muskel stellte Jack Slim fest, als der Passant, um sich den Schuh zu richten, auf den kleinen Wall trat, der ein Baumloch umgibt; zufälligerweise mochte er dabei Slims schöne Zeichnung zerstören. Jack Slim, der ein Sportsmann war, interessierte sich gerade für dieses charakteristische Paar Beine; alles konnte man ändern und verstellen, aber an diesen Beinen würde man diesen einen Mann immer wieder erkennen.

Inzwischen kam der Polizist von unten heran, und der Passant übersetzte den Fahrdamm. Es war wohl eine Einbildung, aber sie schienen im Einverständnis zu sein, sie näherten sich beide dem naiven Alten, der eine Garteneinfassung für eine angenehme Sitzgelegenheit hielt und auf die Bänke weiter drinnen verzichtete. Darum überließ Slim, nachdem er einige Worte gewechselt hatte, den Frevler seinem Schicksal und zog sich hinter ein Erlendach zurück. Er lächelte, nun war er selber der armselige Hirte aus der Pußta, der spioniert. Die Faxen der Zivilisation lernt man nicht ungestraft kennen; sie wirken ansteckend. Slim dachte hinüber an den graulackierten Bottich mit dem Guckschlitz.

Es war auch zu dumm. Da stürzten ein Schutzmann und ein Geheimagent, tadelloser harmloser Passant aus dem Publikum, auf einen alten Kerl los, dessen Natursitten sich an die Vorkehrungen der großen Stadt nicht halten wollten. Der Schutzmann und der Passant kamen zugleich vor dem Alten an. Gesetzt, hinter dem Alten verbarg sich tatsächlich ein Geheimnis, seine dunkle Gefahr, die böse rätselhafte Tat: was konnten die Beiden davon wissen – was konnten sie durch ihr mechanisches Verstehen beurteilen, wenn … ja, wenn sie nicht eben es auf ganz anderen Wegen als denen des Urteils zu wittern vermochten. Bilden Sie sich, meine Herren, nicht soviel auf Ihre Berechnungsgabe ein. Einer von euch zumindest ist in die Falle gegangen und folgt dem Beispiel des großen Diplomaten. Glaubt die Fäden in die Hand zu bekommen und wird das Opfer. Ha, ein Medium, das sich verrät. Nun gut. Was also kriegen Sie denn aus dem alten Lumpengehäuse heraus? Was glauben Sie damit anfangen zu können?

Ehrfürchtig erhob sieh indes der Alte vor der Uniform und dem Knüttel. Er zerfloß in zusammenhanglose Kleidungsstücke, die man in Großstädten nicht zu sehen pflegt. Der schlanke Passant schien dahinter Unrat zu wittern, er griff an eine plumpe Stelle und zog ein Ding hervor – ein Ding, mehr war darüber nicht zu sagen. Für Uneingeweihte war es gleichgültig – oder verdächtig. Slim sah nur ein Stück davon blinken, er wußte, es war ein drahtener Schlauch mit zwei – federnden Schweifen und am andern Ende eine fixe Gabel; kurz gesagt, es war eine doppelte Metallnabe. Aber damit war in Zweidrittelhöhe gegen das wippende Ende hin ein Kreiselement verbunden mit einem Zeiger und einem winzigen Transmissionsuhrwerk; das war sehr kostbar, es war mittels einiger Edelsteine geheftet, die einen großen Wert darstellten. Hm! Die beiden Helden untersuchten es flüchtig, viele Passanten kamen vorbei, und sie wollten kein Aufsehens machen. Die Ausweispapiere stimmten, der Polizist hatte nicht viel zu sagen, die Briefwage des Beanstandeten erschütterte ihn nicht, es war alles in Ordnung, nichts einzuwenden, es blieb bei einer Ermahnung gegen Verkehrsdelikte. Der lange Agent hätte sich die Briefwage gerne noch angesehen und war mit der Korrektheit des Polizisten nicht zufrieden. Aber der salutierte und stampfte schon wieder nach seinem Platze unten am Eck, wo die Tram Leute in die Nebengassen ausspie. So ließ auch der Lange es bewenden … zudem, er erinnerte sich, wo war denn der Andere hingekommen? Da machte Slim eine Bewegung in den Erlen, die scharfen Augen nicht entgehen durfte. Er nahm den Lauernden auf sich, der ließ sich verleiten.

Mittlerweile humpelte der Alte quer über den Fahrdamm. Er verweilte eine Sekunde bei dem kleinen Wasserwall, auf dem der Lange seine Fußstapfe mitten in einem Diagramm hinterlassen hatte, zufällig.

Der Agent näherte sich auf einem Graspfad dem schwingenden Erlenstrauch. Als er sich umwandte, war der Alte verschwunden. Er sah wie von ungefähr hinter den Erlenbusch; da saß ein Eichhörnchen und schaukelte sich zum Geflöte einer Amsel, die vom Ast in die blasse Wasserlache träumte. Weiter drinnen schnurrten ein paar verschlafene Stare, unbehaglich gestört, in die Wipfel. Der Agent war allein.

VII.

Nach dem bescheidenen Straßenvorgang vor dem Palais des Gesandten vergingen ein paar unauffällige Großstadttage; der Vorgang versank in die Polizeiannalen der Stadt Oaxa. Diese melden unterm Datum eines Septembertages 19.. von der sechsten Stunde: »… zehn Minuten wurde ein auffälliges Individuum auf Einschreiten des Agenten Sp. A. XXI. vom Schutzmann Nr. III/127 in der 26. Straße oberhalb Cornet Tram-Avenue gegenüber dem Palais San Remo aufgegriffen und zur Ausweisleistung verhalten. Selbiges wurde im Besitz eines formlosen Phantasieinstrumentes betroffen, vermutlich Objekt für einen Bettlertrick, das es indes nicht benützte, und wurde es deshalb lediglich beanstandet. Agent Sp. A. XXI übernahm weitere Überwachung. Straßenkontrolle klappt. In Sachen der für Distrikt K 14/26. Straße denunzierten Verwicklungen vorläufig keine Anhaltspunkte. Vom Standpunkt der städtischen Polizei aus dürften die Angaben auf einer Mystifikation beruhen.« Soweit lautete der tägliche Polizeirapport.

In den Zeitungen stand von diesem Ereignis, an das ein großer prophylaktischer, aber überflüssiger Schutz- und Kundschafterapparat angesetzt worden zu sein schien, jedenfalls nichts zu lesen. Außer von den etwas saisonflauen politischen Spektakeln waren die Blätter von gesellschaftlichen Vorkommnissen erfüllt. Ein amerikanischer Marathonläufer, eine Rothaut von Geburt, hatte einen Wettbewerb angesagt. Überhaupt war Oaxa damals von exotischen Gästen überschwemmt. Der Professor der Magie Jack Slim kündigte seine Seancen mit dem indischen Medium Nitra an. Die Geheimbau-Aktiengesellschaft »Tube« hatte ihre Leitung gewechselt; bei der Umgruppierung war exotisches Kapital eingedrungen. Der Direktor war östlicher Herkunft. An diese Änderung knüpften die Blätter Kommentare voll schwerwiegender Bedenken. Es befanden sich viele Asiaten, Japaner, Chinesen und Hindus in der Stadt, die sich für alle Kommunikationen ob und unter der Erde lebhaft interessierten. Daß es einem chinesischen Krösus möglich war, mit seiner Geldmacht bis in die privaten Neigungen der Europäer vorzudringen, war ein bedenkliches Zeichen der Zeit. Täglich wurde es klarer, Asien, das ferne Asien rückte konkurrenzfähig über die Grenzen heran.

Diese Erfahrung machte auch der Gesandte San Remo. Eines Tages, als er sein Arbeitszimmer wuchtig betrat, saß da im Krokodilleder-Fauteuil eine Puppe. San Remo war so von Grauen gepackt, daß es seinen massigen Körper wie mit einem galvanischen Schlag herumriß. Er taumelte an die Tapetentüre und drückte durch das Gewicht des von innen her hilflosen Falles die Klinke auf. Er hatte das Gefühl, als würde sein ganzes Nervensystem von einem Schirm, von einer Sammelkraft zurückgeschnalzt. Er stand jetzt zitternd im Nebenraum, schwer an die wieder geschlossene Tapetentüre gelehnt. Was war denn das? Kamen seine rezenten Malaria-Anfälle wieder? Es war doch nicht möglich … Er hatte keine Zeit gehabt, Einzelheiten festzustellen. Eine Figur, etwas Lebendes, etwas Totes, irgend etwas Menschliches war dort gesessen. Plötzlich schien es ihm, er habe dennoch mehr gesehen. Das war doch – Santa madonna, das war doch ein Chinese gewesen. Ein magerer alter grinsender Chinese saß da in seinem Stuhl, ein wackelndes seidiges Männchen, mit einem Käppi, und die zeremoniösen Hände in den Löffeln des langärmeligen Gewandes verschlüpft …

San Remo rief durch ein Sprachrohr den Diener zu Hilfe. Dann erinnerte er sich, daß dieser das Arbeitszimmer passieren müßte und, erschreckend, neue Verwirrung schaffen würde; so bestellte er ihn auf demselben Wege wieder ab. Was brauchte er zu fürchten! Er hatte doch Zauberkräfte um sich, feste und treue Behüter seines herrischen Leibes, furchtbare Genossen der Verteidigung. Ganz nahe miauzte es mit unterdrücktem Gurgeln. Korrô, Tempeste, Flora! Er riß die Eisenplatte an einem Ring aus der Wand, ein dämonischer warmer Atem drang heraus, es raschelte weich, wie gebrochene Orgeln seufzte es aus den Winkeln. Korrô herbei! Tempeste herbei! Flora herbei! Noch unausgewachsene rundlich polternde Tierleiber quollen hervor, junge große patschige Hunde – als sie ins Licht rollten, waren es mitteljunge gefleckte Kuguare. Avanti, tschusch, tschusch, fßt, hetzte sie San Remo und schleuderte mit einem Ruck die Tapetentüre zur Seite. Die Bestien tappten bleckend und heiß atmend, die Flanken peitschend, mit gerundeten Pfoten in das Arbeitszimmer. Der Erste betrat den Teppich – da saß steif und bibbernd mit dem Kopfe ein alter Chinese, in ein Schwarz mit vielen roten Tinten gekleidet. Korrô stemmte sich, den Kopf am Teppich schabend, in die Vorderpranken, ungeheure blasende Laute brodelten ihm um die krause Nase, von denen die Fühlhaare erzitterten. Bobobo, sagte der Chinese im Stuhl, ohne sich zu rühren, nur mit dem Kopfe schwankte er und grinste. Da erhob sich Korrô. Er prasselte sich den Schwanz in die Lenden, zog die Lefzen zurück, brummelte, sabberte, lief um den Chinesen im Stuhl herum, sprang auf den Schreibtisch, fegte Bücher, Papiere, Tintenfässer herab, sprang mit einem Satz durch das ganze Zimmer und klatschte an die Wand – Reißen und scharfes Jaulen durchschmerzte das Zimmer, und Korrô fiel, in die Fetzen der riesigen Landschaftsidylle mit weidenden Kühen verwickelt, im Rahmen komisch gefangen, auf den Fußboden. Als er aufraste, toll von dem scheußlichen Rahmending, in dem er wie ein Zirkuspanther in einem Reifen stak, schlug er an eine Marmorsäule und die Gipsvenus, die darauf gestanden hatte, torkelte und zerspritzte an einem Gesims. Jetzt war es genug, das Experiment war mißlungen. Rrrr, zankte San Remo, die Stachelknute knallend, die er gefaßt hatte, um die Tiere vor dem vollständigen Totschlag an der Puppe im Fauteuil zurückzuhalten Jetzt nützte er sie, um Korrô ins Verließ zurückzuprügeln. Tempeste und Flora, die sich ringend auf einem Kanapee zusammenknüllten, folgten dem rabiateren Kameraden. Rrrr, Rrrr, bobobo, Korrô, Flora, Tempeste, zurrrrück … ho, ihr Bestien, laßt mir mein Zimmer noch leben … bobobo … shut up … Und San Remo trieb das größere Übel, das er entfesselt hatte, durch das Nebenzimmer in den Korral zurück und donnerte die Eisenpforte mit dem Riegelring vor den abgekürzten Pantherausflug, sich, von der frischen Tat erholt, dem geringeren Übel im Arbeitszimmer zuzuwenden.


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